Einer fehlt – Eine Geschichte über Gentrifizierung

Foto , CC BY-NC 2.0 , by Neil Kandalgaonkar

Ich komme gerade vom Bahnhof nach Hause und genieße es, auf diesem Weg zu sein. Zu Hause, das ist gerade mehr als wertvoll. Denn auch wenn ich für mein Leben gerne reise, so war es in letzter Zeit doch ein bisschen viel. Als ob die hier geschlagenen Wurzeln irgendwie wund werden, wenn man sie zu oft hintereinander herausrupft.

Auf meinem Weg zur Haustür komme ich an mehreren Ladengeschäften vorbei und in einem von ihnen erblicke ich aus dem Augenwinkel einen Fotorahmen im Fenster. Obwohl ich gerade eigentlich nichts lieber möchte, als endlich anzukommen, gehe ich ein paar Schritte zurück, um die Schrift über dem Trauerflor lesen zu können.

„Einer fehlt.“

Ich schaue das Bild im Rahmen an und die Traurigkeit trifft mich wie ein Blitz.

Ich kenne diesen einen.

Na gut, vielleicht ist „kennen“ etwas übertrieben, ich weiß nämlich gar nicht wie er heißt, nicht mal einen Nachnamen habe ich. Aber seit ich damals in diese Straße gezogen war, hatten wir so etwas wie eine Grußfreundschaft. Ich war gerade frisch getrennt und musste erst mal wieder lernen, nur mit mir zu wohnen. Das fiel besonders am Anfang noch schwerer und deswegen war ich in dieser Zeit wahnsinnig viel unterwegs, ging aus, traf Freund_innen und tanzte über alle Flure, die es so gab. Ablenkung war mein Gemüse.

In einer dieser Nächte, die sich eigentlich schon in Richtung Morgen räkelte, lief ich also feierbetrunken nach Hause und sah, dass im Eingang des Nachbarhauses ein schmächtiges Persönchen stand und in die frische Winterluft hinaus rauchte. Beim Näherkommen erkannte ich einen älteren Herren, der die Ruhe sichtlich in sich aufsog.

Er hatte eine Schapka auf, einen dunkelgrauen, zotteligen Wollmantel an und stand da, in dieser so lautlosen, vereinsamt wirkenden Straße, als wäre er gerade König der Welt – er war in dem Moment auf jeden Fall König seiner Welt.

Uns verband in diesem Augenblick aus unterschiedlichen Gründen eine gewisse Lässigkeit und so floss der Gruß im Vorbeigehen förmlich aus mir heraus: „Hallo!“

Er wurde aus seinem meditativen Rauchrhythmus gerissen und grüßte eifrig nickend zurück. An seinem überraschten Lächeln war zu erkennen, dass ihm das nicht oft passierte. Wir hatten nun jedoch unbewusst eine Art Pakt geschlossen und sagten uns fortan Hallo, wenn wir einander begegneten. Meistens stand er dann auch wieder rauchend im Hauseingang, manchmal ging er zum Einkaufen und ich kam gerade von dort. Im Winter machte ich mir oft Sorgen, dass er sich etwas brechen könnte, wenn er sich mit Tippelschritten vorsichtig über die zugefrorenen Gehwege schob – aber Hilfe kam für ihn nicht in Frage.

Einmal kam ich nach Hause und er sprach mich ganz schüchtern an, ob ich ihm etwas Geld leihen könne, sein Pfleger mit dem Essen wäre heute nicht aufgetaucht – unsere erste und einzige größere Unterhaltung. Ich kramte das bisschen Kleingeld hervor, das ich dabei hatte und gab es ihm. Er ging freudestrahlend direkt zum Einkaufen, ich blieb ratlos und erschüttert zurück. Als wir uns das nächste Mal grüßten, winkte er ganz zaghaft.

Ich habe mich immer wieder gefragt, warum unsere kleine Grußfreundschaft eigentlich so etwas besonderes für mich war und auf gewisse Weise genauso fragil wie die Statur meines Grußfreundes. Bis es mir dämmerte: Er „passt“ eigentlich nicht hierher. Er steht für eine Demografie, die diesen Bezirk schon lange nicht mehr auszeichnet. Bis auf die ältere Frau in meinem Haus und ihn, sehe ich auf der Straße so gut wie nie Senior_innen. Hier wohnen fast ausnahmslos „junge Familien“ und ältere Menschen sind meist in ihrer Funktion als Oma und Opa nur zu Besuch.

Es ist gelinde gesagt bizarr, in einer Gegend zu wohnen, die so homogen ist. Eine Gegend, wo zum Beispiel auch People of Color nahezu ausschließlich „hinter den Kulissen“ zu finden sind. Sie arbeiten im Späti, an der Supermarktkasse oder putzen nach Ladenschluss die schicken Boutiquen. Aber hier wohnen, tun sie selten.

Als ich damals auf der Wohnungssuche war, brauchte ich sehr schnell etwas Neues und bewarb mich so ziemlich auf alles, was halbwegs bewohnbar wirkte – der Bezirk spielte dabei keine Rolle, die Bezahlbarkeit umso mehr. Dass es ausgerechnet bei der Wohnung klappte, bei der ich mir die geringste Chance ausmalte, weil sie so „schick gelegen“ war, als Neubau trotzdem günstig und ich bereits beim Besichtigungstermin gegen gut betuchte Erstsemester samt Mama-Papa-Task-Force antrat? Ich betrachte es bis heute als Äquivalent zu einem 6er im Lotto und muss Glücksspiele vermutlich für den Rest meines Lebens gar nicht erst versuchen.

Klar, es ist manchmal schon zu leicht, sich über den Prenzlauer Berg lustig zu machen (Ho-ho-holzspielzeug!). Ich denke da immer noch schmunzelnd an die Szene, als ich abends im Sommer mit einer Freundin um den Helmholtzplatz herum spazierte und die berühmte Tischtennisplatte dort von einigen, zugegebenermaßen, nicht ganz leisen Leuten belagert wurde, denen ein Mann aus dem geöffneten Fenster seiner Dachgeschosswohnung entnervt zurief: „Ruhe! Wir sind hier nicht in Kreuzberg!“

Dabei ist es natürlich überhaupt nicht zum Lachen, dass diese Stadt seit Ewigkeiten bei der gesamten Wohnraumpolitik und sozialen Stadtplanung versagt. Aber wer als Berliner_in über hohe Mieten stöhnt, bekommt daraufhin einzig und allein das Augenrollen aus den Ecken München/Hamburg/Frankfurt am Main zu spüren. Währenddessen werden Lebenshaltungskosten zu Lebenserhaltungskosten, denn es steigen zwar die Mieten, aber nicht die Durchschnittslöhne. Renovierungen sind gefürchtet – zusammen mit Bio-Supermärkten und Yoga-Läden bilden sie mittlerweile quasi die apokalyptischen Reiter der Mietpreiserhöhung – und die Erlebnisse von Wohnungssuchenden werden jetzt schon geteilt wie damals die Gruselgeschichten im Ferienlager.

Dabei geht es mir nicht um ein „Früher war alles besser“, sondern es stellt sich die Frage: „Wie soll es eigentlich morgen aussehen?“ Ich will nicht erst woanders hinziehen und selber Gruselgeschichten sammeln müssen, um in einer Gegend zu leben, die ein durchmischtes Bild an Bewohner_innen wiedergibt und ihnen allen einen echten Lebensraum schenkt. Wo das wiedergegeben wird, was diese Stadt tatsächlich ist und so liebenswert macht. Wozu sie sich entwickelt hat, seit ich damals mit einem Hammer an der Mauer klopfte und sich nicht ein einziges Krümelchen löste, weil ich selbst noch eines war.

„Einer fehlt.“

Ich kenne diesen einen. Er fehlt mir auch.

5 Antworten zu “Einer fehlt – Eine Geschichte über Gentrifizierung”

  1. Claire sagt:

    Eine berührende Geschichte. Ich stehe dem Thema Gentrifizierung zwiegespalten gegenüber. Einerseits denke ich dass es für eine Stadt wie Berlin schrecklich wäre, wenn keine Veränderungen stattfinden würden, andererseits empfinde ich die kapitalistische Brutalität, die m.E. Gentrifizierung von struktureller Veränderung unterscheidet, furchtbar und gefährlich. Ich selbst möchte jedenfalls nicht, dass Berlin irgendwann Verhältnisse wie Paris annimmt, in denen es sich nur noch die Top of the tops eine Wohnung in der Innenstadt leisten können, alle anderen aus der Stadt herausgedrängt werden und eine soziale Durchmischung nicht stattfindet. Ich selbst bin ich Kreuzberg geboren & aufgewachsen, meine Mutter lebt dort immer noch.
    Den Kiez meiner Kindheit (Wrangelkiez) erkenne ich heute nicht mehr wieder, dabei sind dort nicht alle Entwicklungen schlecht. In Kreuzberg gibt es immerhin noch ein wenig soziale Durchmischung und Anwohner-Initiativen wie Kotti & Co. (http://kottiundco.net/ ) machen mir Hoffnung, dass das Kreuzberg wie ich es kenne (bunt, laut und rumpelig) nicht vollkommen in der Party, Touri & Kapitalismusspirale versinkt.

  2. flachlandoptik sagt:

    schöner text, anne!
    (und der bonus-kind-of-wehmut der erinnerung an das aufwachsen mit dem wasserturm vorm fenster, was mit dem bild oben eben wieder ins gedächtnis kam. mit ergrauten, aber charmanten straßenzügen, mit irgendwie ecken und kanten. in etwa so vielleicht. zurückkommen in den letzten jahren hat sich immer mehr auch fremd angefühlt. und der entwicklungsprozess des bezirks spielt da auf jeden fall eine rolle.)

  3. spicollidriver sagt:

    das Problem ist doch kurz gesagt einfach nur: über „Gentrifizierung“ empören sich die meisten erst dann, wenn es sie selbst betrifft (den Wandel vom „Problembezirk“ zum „Geheimtip“ hingegen dürfte ein Großteil nur allzu gerne mitgemacht haben).

  4. Möhre sagt:

    Geht es um denselben Herren, den Mechthild Gaßner in ihrem Film „Einer fehlt“ porträtiert hat (http://www.arte.tv/guide/de/047824-000/einer-fehlt#details-description)?

    • Anne Wizorek sagt:

      Nein, bis zu deinem Link wusste ich gar nichts von dem Film. Aber ist natürlich ein witziger Zufall, dass nicht nur Titel sondern auch Thema ähnlich sind. :) (Mein Grußfreund verstarb erst vor kurzem. Ich sehe diesen Text auch als Abschied von ihm.)