Sie wissen nicht

Foto , CC BY 2.0 , by Luke Hayfield

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Der_Die Autor_in will anonym bleiben, ist der Redaktion aber persönlich bekannt.

Sie wissen nicht, wie sich diese Angst vor der kalten Jahreszeit anfühlt. Sie hätten dein einziges Paar Schuhe schon längst weggeschmissen und neue gekauft. Für dich müssen sie dagegen einfach noch länger halten.

(So groß sind die Löcher ja noch nicht und nasse Strümpfe trocknen schneller als man denkt.)

Sie kennen diesen Dauerzustand nicht, wenn der Hunger sich durch alle klaren Gedanken frisst.

Sie wissen nicht, wie es ist, den Schimmel am Brot wegzuschneiden und es trotzdem zu essen. Wegschmeißen käme einem Versagen gleich. „Das geht doch noch“ wird zum Motto für alles.

(Ansonsten: Reis und Nudeln. Reis und Nudeln. Reis und Nudeln. Die sind billig und können wenigstens nicht schimmeln. Du gierst trotzdem nach frischen Sachen, von denen du aber nie genug haben wirst.)

Sie stehen niemals vor dem Supermarktregal, holen den Taschenrechner raus und müssen sich dann eingestehen, dass es einfach doch nicht reicht.

(Du selbst weißt natürlich schon längst auswendig, wie viel alles kostet und tust es manchmal trotzdem.)

Sie kennen diese spezielle Einsamkeit nicht, wenn du daheim bleibst und irgendwelche Entschuldigungen vorschiebst, um nicht ausgehen zu müssen. Ausgehen heißt immer Geld ausgeben. Geld, das du nicht hast. Beim Ausgehen ist alles zu teuer. Immer.

(Du verdienst zwar Geld, aber in dem Moment wo es da ist, reicht es auch schon nicht mehr. Ein ewiger Kreislauf der Unzulänglichkeit.)

Sie wissen nicht, dass du auch schon mal zu den Leuten gehörtest, die Pfandflaschen sammeln. In den frühen Morgenstunden, vermummt und dennoch in Angst, jemand könnte dich dabei beobachten und erkennen.

Sie wissen nicht, was es wirklich bedeutet, wenn ein Kleidungsstück plötzlich ein Loch hat.

Sie wissen nicht, was all das mit dem Selbstwertgefühl macht.

(Vertuschen, verdecken, immer wieder. Lass dir das alles bloß nicht ansehen, denn dann schauen sie erst recht auf dich herab. Arm zu sein, hast du dir irgendwie „selbst eingebrockt“, hast „etwas falsch gemacht“, an einem Punkt einfach „nicht die richtige Wahl getroffen“, dich „nicht genug angestrengt“.)

Sie wissen nicht, wie es ist, einen riesigen Krater im Zahn zu haben, um den du dich aber nicht kümmern kannst, weil ein Zahnarztbesuch purer Luxus ist.

(Und jeden Tag dieses Beten und Bangen, dass es nicht schlimmer wird, dass du keine ständigen Schmerzen bekommst.)

Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, wenn da keine Zukunft ist, sondern nur Angst. Angst vor neuen Rechnungen, Verzweiflung wegen Dingen, die du dir eh nicht wirst leisten können. Planen kannst du nichts, sondern dich nur entlang hangeln, während dich der Inhalt ungeöffneter Briefe überallhin verfolgt.

(Schlaflosigkeit, sorgenvolle Übelkeit, niemals Ruhe. Und Zahlen. Überall Zahlen, die dein Leben bestimmen. Da ist keine Kontrolle mehr. Nur noch Anpassung und der Versuch trotz allem durchzukommen.)

20 Antworten zu “Sie wissen nicht”

  1. Krösus sagt:

    Bei Hartz IV wird soweit ich weiss auch die Krankenkasse bezahlt und damit der Zahnarztbesuch.

    • Claudius Holler sagt:

      Funfact: Es gibt Situationen (unverschuldete) in denen H4-Berechtigung entfällt (und sämtliche anderen Transferleistungen), obwohl man weit weit weit unter allen Einkommensstufen liegt. Das Raster, durch das heute Menschen fallen, wird Einzelfällen (und es sind jede Menge) nicht gerecht und ebensowenig, den stetig anwachsenden Anforderungen an einen Menschen.

      • Krösus sagt:

        Kannst Du Beispiele nennen? Woran kann sowas liegen zum Beispiel – abgesehen von den Fällen wo die Leute noch Besitz haben von dem sie sich nicht trennen wollen (z.B. ein Haus)? Ich glaube die Bürokratie ist bei H4 tatsächlich zu kompliziert und kann die Leute überfordern, aber ich glaube dafür gibt es Hilfsvereine?
        Bürokratiehürden und ähnliches dürften jedenfalls kein Dauerzustand sein. Ansonsten würde ich mir mehr Berichte über die konkreten Missstände wünschen, dann würde sich vielleicht auch was ändern.

        • Claudius Holler sagt:

          Bedarfsgemeinschaften bei denen eine Seite, den entscheidenden Tick zu viel verdient, schließen denjenigen, der ohne z.B. Heirat empfangsberechtigt wäre von H4 aus, so dass das Haushaltseinkommen niedriger als 2x H4 sein kann, obwohl und weil eine Seite (wenig) verdient.

          Selbstständigenprekariat, wie es immer öfter entsteht (durch erzwungenes Sub- und Subsubunternehmertum) kann zumindest spürbar Delay in H4 Ansprüchen haben, trotzdem derjenige hart arbeitet. Mit Pech ist dann noch ein Zahlungsausfall zu verkraften und die Person hängt zwischen allen Stühlen.

          Komplizierte Familienverhältnisse, wo die Eltern zu wohlhabend sind, als dass der volljährige Nachwuchs Anspruch auf H4 hat, den ihm zustehenden Unterhalt aber von seinen Eltern (wo das Verhältnis womöglich angespannt, aber auf dem Weg der Besserung ist) einklagen müsste und dies aber unterlässt.

          Menschen, die ausgehend von ihrer psychischen Konstitution den bürokratischen Hürden nicht gewachsen sind, sich um ihr H4 zu kümmern und lieber Maximal-Askese leben, bis alles über den Kopf wächst.

          Und klar, lässt sich sagen: Selbst schuld oder es gäbe Lösungen. Allein, die Probleme werden dort nicht weniger. Als Gesellschaft sollten wir um das Gemeinwohl aber verdammt nochmal bemüht sein.

  2. Krösus sagt:

    Ergänzung: hab jetzt mal gegoogelt, weil ich dachte vielleicht gibt es ein Prolbem daß die Krankenkasse Zahnersatz nicht zahlt. Anscheinend kann man aber wohl einen Antrag auf Härtefall stellen und alles wird bezahlt: http://www.gutefrage.net/frage/uebernahme-von-zahnersatzkosten-bei-hartz-4

    Es gibt auch Hilfestellungen beim Ausfüllen des Hartz IV Antrages soweit ich weiss.

  3. am sagt:

    ein trauriger und berührender artikel, der einem die problematik nochmal vor augen führt.

    in meiner wg haben wir auch kaum geld, wir gehen aber regelmäßig containern und müssen, neben dem guten gewissen der wegwerfgesellschaft gegenüber, auch keinen hunger haben. das essen liegt im container und kostet gar nichts. schau dich mal um, funktioniert in jeder stadt.

  4. barbara sagt:

    Danke für den Text. Möche noch einen tollen Blog zum Thema Armut empfehlen: Gespenst der Armut von Elke Brüns: http://www.gespenst-der-armut.org/

  5. flips sagt:

    Ich habe über viele Jahre weniger als Hartz 4 gehabt. Habe nicht aufgestockt, habe kein Wohngeld beantragt, einfach weil ich nicht wusste, das ich das Anrecht darauf hatte. Und? Ich war nicht arm. Ich habe mir mein Geld eingeteilt und habe gut gelebt, ohne Containern, ohne Tafeln, inklusive Zahnarzt und Zahnreinigung selbst bezahlen. Aber komplett ohne Fernsehen(damals noch kein Zwangsbeitrag, ohne Softdrinks, ohne Zigaretten, ohne anderen Luxus. Aber sogar mit Auto. Gemüse ist immer noch das preisgünstigste, das kann man in großen Mengen essen! Aber davon redet irgendwie keiner. Und mit Nadeln und Faden sollte man sich üben. Einfach Kleidung selber flicken, oder jemanden suchen, der das kann und demjenigen bei was anderem helfen.
    Schön ist das alles nicht, aber es geht. Das ist keine Entschuldigung für das schlechte System und die Ignoranz der Menschen allgemein.

    • Claudius Holler sagt:

      Das funktioniert in Hamburg nur, wenn du bereit bist, weit weg von deiner angestammten Hood zu ziehen. Es gibt genug Orte in D (manche nennen diesen kleinen Radius Heimat), der auch mit Einkommen spürbar über H4 nicht mehr leistbar ist.
      UND Teilhabe bedeutet eben auch ausgehen, Freunde treffen (und mal bekochen), Besuch von Veranstaltungen etc. Klar kann man mit Verzicht (ich meine nicht Luxusverzicht) eine Menge einsparen. Aber sobald das für Isolation, Mangel(ernährung) oder sonst etwas sorgt, ist es nicht im Ansatz die Gesellschaft, die ich mir wünsche.

      • Krösus sagt:

        H4 ist ja normalerweise auch nicht als Dauerzustand gedacht, sondern als Überbrückung in schweren Zeiten.
        Das Argument „es gibt Orte die zu teuer sind“ finde ich allerdings überzogen. Ich kann mir auch mit normalem Einkommen bestimmte Wohngegenden nicht leisten. Daran könnte vermutlich nur der totale Kommunismus etwas ändern, aber das funktioniert dann so daß einfach alle Wohngegenden gleich unattraktiv gemacht werden (z.B. mit Plattenbauten) damit ja keiner mehr haben kann als jemand anderer.

        • Claudius Holler sagt:

          Schwere Zeiten dauern solange, wie sie dauern und sind nicht selten unverschuldet (beispielsweise bei Aufstockern, Alleinerziehenden, Menschen in Ausbildung ohne Ansprüche, die sie im Elternhaus geltend machen können). Und ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft Menschen auch in schweren Zeiten ermöglichen (oder gerade dann) btw keine krasse Belastung für den Haushalt, da die Sparquote in ärmeren Haushalten denkbar niedrig ist, also steuerverwertbarer Geldfluss die Folge wäre.
          Und es ging mir nicht darum, dass jemand unbedingt in eine schicke Wohngegend hinziehen möchte, sondern dort immer wohnte, aber wie seit Jahrzehnten z.B. in HH zu sehen, die Mieten/Lebenskosten exorbitant ansteigen, dass das Zuhause dort unleistbar wurde.

        • mom sagt:

          Die Frage ist doch: funktioniert H4 als Überbrückung, oder wird es zum Dauerzustand, weil die Bezieher nicht (mehr) als Teil des Wirtschaftssystems „gebraucht“ werden. Das scheint mir immer mehr der Fall zu sein. Ich bin wahrlich nicht übertrieben links, aber in Zeiten der Globalisierung scheint mir doch, dass durch die Auslagerung der Arbeitsplätze Niedrigqualifizierter deren Lebensgrundlage unwiederbringlich verloren gegangen ist. Wenn dem so ist, dann ist es verlogen, sich auf ein Instrument zu verlassen, das nur „zur Überbrückung“ gedacht ist und auch so konzipiert ist.

  6. P4ndor4 sagt:

    Es geht nicht darum, dass es „geht“ oder das der/die Autor/in unbedingt mehr praktische Ratschläge benötigt („Lern doch nähen! Trink halt Leitungswasser! Iss billiger! Geh doch containern! Hartz 4 zahlt dir den Zahnarzt!). Bis zuletzt ist völlig unklar, ob und welche Sozialleistungen diese Person überhaupt bezieht und aus welchen Gründen sie in diese Situation geraten ist. Armut gibt es in nun mal in vielen Formen – studentische Armut ist beispielsweise völlig unterschiedlich von der Armut eines Asylanten (davon abgesehen genießt sie auch gesellschaftliche Akzeptanz). Der Artikel handelt (imho) vielmehr vom Gefühl der Armut, über die Anstrengung, über Scham und die Isolation als Folge der vielen kleinen alltäglichen Herabsetzungen. Es geht um den Graben zwischen der Mehrheitsgesellschaft („Sie“) und „Dir“.

    • Krösus sagt:

      Die herzlose Mehrheitsgesellschaft hat aber unter anderem Hartz IV geschaffen damit wenigstens niemand mit Zahnschmerzen herumlaufen muss (was übrigens nicht nur Schmerzen an den Zähnen verursacht, sondern auch die sonstige Gesundheit stark beeinträchtigen kann). Von daher leuchtet mir der Sinn der Geschichte nicht ganz ein. Die Vermutung liegt dann Nahe daß nicht der Graben das Problem ist, sondern die Psyche der betroffenen Person, die vielleicht aus irgendwelchen Gründen nicht selber Hilfe suchen kann.

    • mom sagt:

      Ich finde schon, das es einen Unterschied macht, ob der/die Autor/in sich auf Fakten stützt oder auf ihr Gefühl. Wenn es für Hartz 4-Empfänger nicht möglich ist, einen Zahnarztbesuch bezahlt zu bekommen, ist das ein massiver Mangel (und wäre doch sicherlich einklagbar?). Wenn der Zahnarztbesuch bezahlt würde und sie aus anderen Gründen nicht zum Zahnarzt gehen kann oder will, ist das eine individuelle Entscheidung und kann nicht dem System an sich angelastet werden.

  7. NaLos_MehrBlick sagt:

    Ein sehr packender Beitrag. Danke für die offenen, direkten Worte, die mir persönlich direkt ins Herz gingen. Ich hatte mich vor einiger Zeit auch einmal an einem Beitrag zu dem Thema versucht, aber bei Weitem nicht so persönlich (http://wp.me/p3usyN-6x).

  8. Annette sagt:

    Danke für dem Beitrag von P4ndor4,
    das kam mir zuvor!!! Armut ist eine sehr persönliche Angelegenheit und Erfahrung. Gibt es jetzt schon einen Wettbewerb unter uns Armen? Wer kommt am Besten mit nichts aus? Gibt es den Armuts-Snob?

  9. Aris sagt:

    Doch es geht darum, dass der/die Autor/in mehr praktische Hilfe bekommt. Denn das, was sie/er beschreibt, muss nicht sein, es gibt eine Menge soziale Unterstützungen, die ihr/ihm helfen würden.

    Nur was erwartet sie/er? FInanzielle Hilfe, die nicht danach schaut, ob sie/er bedürftig ist? Ich hab leider kein Wort darüber gelesen, wie sie/er mehr Geld verdienen will,

    Ich hab genau so gelebt, nur eben nicht mit der Angst, sondern mit dem Mut, mehr zu verdienen. Das war mühsam, das hieß Zeitarbeit, das hieß lernen. Vielleicht hatte ich nur Glück, aber heute bekomm ich ausreichend Geld zum Leben. Auch, weil ich mich für mein Leben nicht geschämt habe.

    Und den riesigen Krater hatte ich auch im Zahn. Mir wurde damals unterhalb des Existenzminimums geholfen.

    Sie wissen es nicht? VIele wissen es, viele haben es erlebt!
    Ich weiss es, ich hab es erlebt! Nur hab ich mich nicht geschämt! Und ich hab eine Lösung gesucht!

    Was willst Du eigentlich? Einen Job? Wer solche Texte hier platzieren kann, sollte vielleicht im Journalismus arbeiten, aber das tust Du eventuell schon? Geld? Wer sich schämt, Geld vom Staat zu verlangen, dass ihr/ihm zusteht, der/dem ist nicht zu helfen?

    Also noch mal die Frage? Wie könnte man Dir helfen und warum fragst Du nicht danach?

  10. Miel sagt:

    Berührender Text. Danke dafür.

    (P.S.: Es gibt seit heute Abend eine Reportage in der ZDF-Mediathek. „Ohne Geld kleine Welt“ darüber, ‚wie Kinder und Jugendliche mit dem Stigma Armut umgehen‘ (Sendungsbeschreibung). Ich habe die Reportage eben gesehen und fand schön, dass sehr behutsam an das Thema herangegangen wird, besonders an das Stigma und die Belastung, die für mich auch hier im Text durchklingt. Lange Rede, kurzer Link: http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2046690/Ohne-Geld-kleine-Welt )

  11. Anne Wizorek sagt:

    Von Einzelfällen kann allerdings kaum die Rede sein, was im übrigen auch der aktuelle Armutsbericht und dessen Tendenz deutlich zeigen: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/armutsbericht-deutschland-so-gespalten-wie-nie-1.1847237

    Ich würde es begrüßen wenn du die Problematik daher nicht auf „gescheiterte Individualschicksale“ verkürzt. Danke!

    Dass hier stattdessen Gesellschaft und Politik in die Verantwortung gebeten werden, ist zudem mehr als legitim, nicht zuletzt weil z.B. der Armuts- und Reichtumsbericht der letzten Bundesregierung die tatsächliche Sachlage bewusst verwässerte: http://www.sueddeutsche.de/politik/einkommensverteilung-in-deutschland-bundesregierung-schoent-armutsbericht-1.1535166