Ein offener Brief an Birgit Kelle

Foto , CC BY-SA 2.0 , by RaSeLaSeD - Il Pinguino

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Hannah.

Hannah ist 16 Jahre alt , wohnt in Weimar und geht derzeit noch zur Schule. Nebenbei versucht sie sich in die Politik und die Gesellschaft um sich herum einzumischen und hat einen kleinen Fotoblog.

Sehr geehrte Frau Kelle,

Sie haben kürzlich den sogenannten „Gerhard-Löwenthal-Preis“ für konservativen Journalismus der rechtskonservativen Zeitung „Junge Freiheit“ erhalten. Sie machen Frauen „Mut zu ihrer Weiblichkeit zu stehen“ heißt es in einer Pressemitteilung.

Ich bin nun zum ersten Mal auf Ihr Buch „Dann mach doch die Bluse zu“ aufmerksam geworden und habe weiter zu Ihrer Person und ihren politischen Aussagen recherchiert. Es fällt mir schwer in Worte zu fassen, was mir durch den Kopf ging, als ich die Interviews mit Ihnen gesehen und Ihre Artikel gelesen habe.

Auf der einen Seite war da Wut. Unfassbar viel Wut darüber, dass Sie die Sexualisierung von Frauen in dieser Gesellschaft dermaßen herunterspielen. Sagen Sie mir, wie viele Opfer von sexuellen Übergriffen, wie viele Mädchen und Frauen die unter schweren Essstörungen leiden, weil sie sich in krankhafte Schönheitsideale zwängen, muss es noch geben, damit Menschen wie Sie endlich verstehen dass uns Frauen eben nicht „die Welt offen steht“, wie Sie es im Amazon-Trailer zu ihrem Buch so nett formuliert haben?

Auf der anderen Seite, war ich traurig über das, was Sie schreiben. Ich bin gerade einmal sechzehn Jahre alt. Das ist ein Alter in dem viele Jugendliche oft die ersten wichtigen Schritte in Richtung „erwachsen werden“ gehen. Eine Zeit, in der junge Menschen immer und immer wieder auf einer scheinbar endlosen Suche nach ihrer Identität sind, nicht sicher ob das was sie tun, richtig oder falsch ist.

Auch ich habe oft diesen inneren Konflikt mit mir selbst, nur habe ich gelernt mich so zu akzeptieren wie ich bin. Mir bereitet es Sorgen, dass Andere das nicht können. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es oft so scheint, als ob ein Mensch etwas wäre, das man in Schubladen stecken, diese schließen kann und sich dann zufrieden mit dem selbstgefälligen Gedanken „schon alles richtig gemacht“ zu haben, zurücklehnt.

Ich habe das Gefühl, dass Sie nicht begreifen, dass Menschen von Grund auf verschieden sind. Dass diese unterschiedliche Interessen haben, die ganz unabhängig vom Geschlecht sind. Entweder verschließen Sie die Augen vor der Welt da draußen, die voller Individuen ist, die eben nicht wegen ihrer Geschlechtsmerkmale einen Schuhladen stürmen oder mit dem Dosenbier in der Hand eine Fußballmannschaft anfeuern – oder Sie sind einfach nicht in der Lage Ihren Horizont zu erweitern.

Eben weil ich glaube, dass es nicht von einem Penis oder einer Vagina abhängig ist, ob die Person gut mit Kindern umgehen kann, gerne shoppen geht, gut putzen kann oder gern kocht, würde ich es mir nie im Leben anmaßen, Ihre Vorstellungen von Ihrem eigenen Leben anzuzweifeln.

Der „Gleichheitswahn“, so wie Sie es nennen, bedeutet für mich nicht, dass man Menschen verurteilt, nur weil sie zufällig Geschlechterstereotypen entsprechen, sondern dass wir den Leuten die Freiheit geben, selbst zu entscheiden wie sie sein wollen.

Sie reden so oft davon, wie wichtig Ihnen Freiheit ist, warum ist dann wiederum diese Freiheit eine, die Sie verurteilen? Niemand möchte Ihnen das wegnehmen, was sie haben! Wann werden Sie das endlich begreifen? Was soll eine junge Frau denken, die Ihr Buch und Ihre Artikel liest und sich eben in diesem inneren Konflikt um die eigene Identität befindet? Soll sie denken, dass sie die Charakter- und Körpereigenschaften die ihr von Außen aufgezwungen werden, so annehmen muss und ihr eigentliches „Ich“ nicht entfalten kann? Denn wenn das jeder könne, ohne dass es verurteilt werden würde, wäre das nicht „Gleichheitswahn“?

Ich hoffe, Sie sind sich darüber bewusst, welche Verantwortung Sie als Journalistin den Menschen gegenüber haben.

Ich hoffe, dass Leute wie Sie merken, dass das Problem nicht die sind, die etwas verändern wollen, sondern die, die vor der Realität die Augen verschließen und sich in ihren eigenen Vorstellungen verkriechen.

Mit freundlichen Grüßen,

Hannah, Schülerin einer 10. Klasse

19 Antworten zu “Ein offener Brief an Birgit Kelle”

  1. Juni sagt:

    *Das*. Jedes Wort. Vielen Dank, Hannah.

  2. Jan sagt:

    Großartig, danke!

  3. Befürworter sagt:

    Sehr cool, alle kritischen Stimmen löschen und nur Lobpreisungen in den Kommentaren zulassen.

  4. ratlos sagt:

    Ich verstehe kein Wort, mir wird nicht klar, was der Vorwurf an Frau Kelle ist. Dass sie, begründet in ihren Lebenserfahrungen eine andere Meinung hat als die Autorin?
    Und, wird einer solchen Kritik dadurch mehr Gewicht verliehen, dass sie von einer sehr jungen Kritikerin geäußert wird? „Schon 16jährige kapieren, dass konservative Antifeministinnen wie Frau Kelle falsch liegen.“ Before you criticize someone, walk a mile in his shoes.

    • Anne Wizorek sagt:

      unserer meinung nach müssen menschen nicht erst eine bestimmte altersgrenze erreicht haben, um sich zu solchen themen äußern zu dürfen und hannahs brief unterstreicht das bestens. wenn die kritik an frau kelle nicht klar ist, empfehle ich ansonsten den brief einfach noch mal zu lesen.

      und wenn schon denn schon (da würde wohl selbst frau kelle zustimmen): walk a mile in *her* shoes, nech? ;) ist übrigens auch der name einer tollen awareness-kampagne von männern, die sich aktiv gegen vergewaltigungen, sexuelle übergriffe und gewalt gegen frauen aussprechen: http://www.walkamileinhershoes.org/ was für ein schöner zufall!

  5. cassionetta sagt:

    Warum nicht?

  6. sturmfrau sagt:

    Das Schlagwort von der „Gleichmacherei“ macht in konservativen Kreisen schon lange die Runde. So, als stünde hinter Gleichstellungsbestrebungen (die etwas vollkommen anderes sind als Gleichmacherei) eine Art Zwangsmaschinerie, die systematisch all die Frauen, die sich auf die traditionellen Rollenbilder festlegen wollen, mit der Peitsche in die Erwerbsarbeit treiben wolle. „Journalisten“ wie Frau Kelle wissen meines Erachtens ziemlich genau, dass das nicht stimmt, instrumentalisieren aber die Furcht der Menschen vor dem Verlust des Individuellen und vor staatlichem Zwang ganz bewusst. „Gleichmacherei“ ist da ein ähnlich inflationär gebrauchtes Schlagwort wie das vom „Zeitgeist“, der gern als Bedrohung des kuscheligen Wolkenkuckucksheims dargestellt wird, als das Konservative die althergebrachten Rollenverteilungen so gern propagieren. Das kommt manchen Menschen entgegen, die der gefühlten und tatsächlichen Kälte unseres Lebensumfelds nichts anderes entgegenzusetzen wissen als einen Backlash. Ach, die guten alten Zeiten, als sich Frau Mama noch am Herd verwirklichen durfte, ohne dass sie jemand nötigte, die Kinder in Verwahranstalten abzugeben… Der dumpfe Populismus von Frau Kelles Aussagen kommt offenbar an, zumindest in gewissen Kreisen.

    Ich finde es gut, dass Hannah darüber schreibt und das auch so deutlich tut – schon allein deshalb, weil sich allenthalben darüber beklagt wird, die „heutige Jugend“ hätte nichts mehr im Kopf außer Feiern, Shopping, Facebook – was sein haltloses Klischee ist. Hut ab, liebe Hannah, und mach weiter so.

    • Sugardaddy sagt:

      Mal anders gefragt anhand eines Beispiels: würde die Abschaffung des Ehegattenspittings Frauen helfen die Vollzeit-Mütter sein wollen? Die Abschaffung des Splittings wird von Feministinnen vehement gefordert.

      • sturmfrau sagt:

        Richtig, die wird vehement gefordert, weil es um die Aufhebung einseitiger Vorteile zugunsten des klassischen Rollenmodells geht. Die Abschaffung der einseitigen Bevorteilung soll es den Frauen ermöglichen, andere Wege als den klassischen zu gehen, wenn sie es wollen. Wieso soll es akzeptabel sein, dass die gesellschaftliche Gesamtheit ein Rollenmodell finanziell trägt, das sich weder für alle als praktikabel noch wünschenswert herausgestellt hat? Wenn Frauen Vollzeit-Mütter sein wollen, dann müssen sie für sich herausfinden, ob diese Idee in ihrem Lebensmodell mit dem Partner/Vater tragbar ist oder nicht. Ich sehe nicht, warum dies auch noch der zusätzlichen staatlichen Förderung bedürfte, zumal diese Frauen wirtschaftlich nicht produktiv sind und auch keine Steuern zahlen. Ich weiß, ich weiß… Jetzt kommt gleich das Argument mit den Renten und mit dem gesellschaftlichen Wert der Arbeit, die Menschen mit Kindern leisten. Aber: Dafür ist es völlig unerheblich, ob es Vater tut, ob es Mutter tut oder, wie es gemeinhin wünschenswert wäre, ob es Mutter und Vater gemeinsam tun.

        Erklären Sie mir, warum das Vollzeit-Mütter-Dasein so besonders förderungswürdig sein soll, dass wir die derzeitige Regelung beibehalten sollten.

  7. […] Auf Kleinerdrei veröffentlicht ein junges Mädchen von 16 Jahren einen offenen Brief an Birgit Kelle. Frau Kelle ist die Autorin des vielsagenden Buchs “Dann mach doch Deine Bluse zu”. Dem […]

  8. Anna Purna sagt:

    Warum nicht, schreibt cassionetta, ich sage sogar, aber selbstverständlich hat diesen Text eine 16-jährige Schülerin verfasst. Es stimmt mich nachdenklich, dass die Gesellschaft es anscheinend nicht für möglich hält, dass Jugendliche reflektiert sind und eine eigene Meinung vertreten können. Junge Menschen sind zu außergewöhnlichen Dingen fähig, wenn man ihnen nur den Mut und die Freiheit gibt, diese Ideen und Gedanken zu verwirklichen.

    Liebe Hannah, nur weiter so, ich finde, du bist auf einem tollen Weg!

  9. Chaim sagt:

    Danke Hannah für diesen Artikel. Weiter so!

  10. Andy Mair sagt:

    Ich finde es Toll das eine Junge Frau sich Gedanken macht und soziale Kopetenzen zeigt ein Hoffnungsschimmer in einer immer unkritischeren Gesellschaft. Weiter so !

  11. Anne Wizorek sagt:

    Wenn du mit „Zensur“ unsere Moderation meinst: Du musst hier nicht kommentieren. Wirklich nicht. :)

  12. sturmfrau sagt:

    Ich verstehe nicht so recht, warum Sie sich so ins Ehegattensplitting verbeißen. Gut, Sie haben es als Beispiel angeführt – als Beispiel wofür?

    Es gibt in Sachen Ehegattensplitting selbstverständlich Pro- und Contra-Argumente, und natürlich könnten Sie jetzt sämtliche Pro-Argumente anführen und die darauf folgende Sprachlosigkeit als einen Punkt für sich werten. Auch, wenn ich die Diskussion schon allein deshalb nicht vertiefen möchte, weil Sie offenbar ein Feindbild haben (das diffuse „der“ Feministinnen), noch einmal kurz zur Aufklärung des Missverständnisses: Ich habe nicht geschrieben, dass das Ehegattensplitting für Frauen Nachteile hat, sondern, dass es ein Rollenmodell einseitig bevorzugt. Angesichts der Tatsache, dass Frauen im Allgemeinen (natürlich gibt es Gegenbeispiele) schlechter verdienen als Männer und man vom Ehegattensplitting um so mehr profitiert (sprich: der Steuervorteil ist größer), je weniger der wenig verdienende Gatte verdient, befördert das Ehegattensplitting das Wenigverdienen von Frauen.

    Das Ehegattensplitting war zum Ausgleich der Steuerprogression gedacht. Das bedeutet, wer mehr verdienen musste, weil er mehr Menschen zu versorgen hat, sollte durch Steuern weniger belastet werden als der Vielverdiener, der alles für sein Vergnügen verschleudert und der in Saus und Braus lebt. Was Kinder betrifft, ist die Notwendigkeit einer Entlastung von der Steuerprogression für mich absolut nachvollziehbar. Aber eben nicht, was die Frauen betrifft. Wir sind aus den Zeiten heraus, dass eine Ehefrau ein zusätzlich vom „Ernährer“ zu versorgendes Familienmitglied sein sollte. Ich bin selbst verheiratet und profitiere ergo vom Ehegattensplitting, habe aber keine Kinder. Ich persönlich finde dieses Modell nicht solidarisch und nicht zeitgemäß, wenngleich ich monetär davon profitiere. Nur so am Rande.

    Die Förderung von Kindergartenplätzen ist keine einseitige Förderung eines bestimmten Lebensmodells. Ich weiß, dass das von Konservativen gern so gesehen wird und dass manche Menschen daher auch so argumentieren, das beispielsweise erst ein Betreuungsgeld in größerem Umfang den Frauen die wirkliche Wahlfreiheit gebe. Aber es geht um die Schaffung von Kindergartenplätzen und damit überhaupt erst um die Schaffung einer Alternative. Kindergartenbeiträge müssen die betreffenden Eltern immer noch selbst bezahlen und sie müssen diese Gebühr auch erst erwirtschaften. Wenn in einem Haushalt beide Ehepartner erwerbstätig sein müssen, um das Auskommen zu sichern, aber keine Betreuung für ihre Kinder finden können, weil diese Plätze nicht bestehen, müssten sie auf ein Einkommen verzichten. (Und, auf welches verzichten sie im Zweifel? In den meisten Fällen doch wohl auf das der Frau, oder?) Gar nicht zu sprechen von Alleinerziehenden.

  13. Janina LI sagt:

    Hannah, 16 Jahre alt?! Ich gratuliere, ich verneige mich und applaudiere dir, bis mir die Hände wund werden. Meine Augen werden feucht und mein Herz möchte dich umarmen für deinen Mut.
    Hätte ich damals mit 16 so einen guten, klaren Blick über dieses Thema gehabt, wären mir einige unwürdige Dinge nicht passiert.
    Bitte bleib dran und gemeinsam schaffen wir den Kampf gegen diese männerdominierte Welt.
    Bald gibt es einen neuen Blog, steig doch mit ein. Ich verrate dir den Namen, wenn du hier antwortest.

    Herzlich