946.433 Menschen in Kroatien sind dagegen

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Ivana.
Ivana ist Kroatin, lebt in Bonn und promoviert über Darstellungen des Balkans im amerikanischen Film. Sie ist über die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in ihrem Heimatland sehr besorgt.
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Kroatien ist ein schönes Land. Ja, sogar ein sehr schönes Land. Mit Sicherheit das schönste Land auf der Welt, sagen KroatInnen. Nein. Das wissen sie sogar, die KroatInnen. Schließlich wohnen sie ja dort. Darüber hinaus kommen aus Kroatien die schönsten Menschen der Welt. Und die besten SportlerInnen. Auf jeden Fall stammen aus Kroatien die intelligentesten Menschen der Welt. Das sagen viele in Kroatien.
Leider gehört zu diesem Selbstbild auch die mehrheitliche Ablehnung der Ehe für Alle. Am 1. Dezember 2013 haben sich in Kroatien in einem Referendum, welches durch die Bürgerinitiative „Im Namen der Familie“ ins Leben gerufen wurde, fast eine Million Kroatinnen und Kroaten für die Definition der Ehe als eine „Verbindung zwischen Mann und Frau“ entschieden. Vier von zehn Wahlberechtigen nahmen an dem Referendum teil, wovon zwei Drittel Prozent für die Definition der Ehe und ein Drittel dagegen stimmten. Ungefähr ein Jahr zuvor hatten sich die Kroaten in einem Referendum für den EU-beitritt ausgesprochen. Der kam dann zum 1. Juli 2013.
Damals hob die jetzige sozialdemokratische Regierung SDP die Mindestbeteiligungsklausel auf, da für sie die Gefahr bestand, dass durch eine geringe Wahlbeteiligung der EU-Beitritt scheitern würde. Ihre Strategie war erfolgreich: Zwar nahmen nur wenige an dem Referendum teil, doch die Mehrheit dieser wenigen stimmte für einen EU-Beitritt (damals stimmten von 43,5 % WählerInnen zwei Drittel für den Beitritt und ein Drittel dagegen). Vielleicht waren sich einige zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sie damit auch für ein westliches Wertesystem und gegen Diskriminierung von Minderheiten stimmten. Die etwas undemokratische Aufhebung der Mindestbeiteiligungsklausel hat sich für die sozialdemokratische Regierung und alle Gegner des Referendums am 1. Dezember nun gerächt.
„Traurig und sinnlos“!
Wie konnte es zur Zementierung der Ehe zwischen Mann und Frau kommen? Die Initiatorin der Bürgerinitiative „Im Namen der Familie“ (U ime obitelji) Željka Markić warb mit Unterstützung der katholischen Kirche für eine klare Definition der Ehe, welche in der Verfassung festgeschrieben werden sollte, wobei die Frage auf dem Wahlzettel meiner Meinung nach irreführend formuliert war: „Sind sie dafür, dass in die Verfassung der Republik Kroatien die Definition eingetragen wird, nach welcher die Ehe eine lebenslange Vereinigung zwischen Mann und Frau ist?“ DAFÜR oder DAGEGEN? „Dagegen“ sein, hieß also für die Rechte von Homosexuellen einzutreten. Diese Option kreuzten eine Minderheit der Abstimmenden an.
Die Mehrheit folgte den Argumenten der BefürworterInnen der Kampagne, die es als Gefahr sehen, dass die Regierung Homosexuellen in der Zukunft die Ehe und damit die Adoption von Kindern legal ermöglichen könnte. Hintergrund ist die im Wahlkampf des heutigen Regierungschefs Zoran Milanovićs 2011 verkündete Absicht, eingetragene Lebenspartnerschaften durchzusetzen. Den aktiven politischen Willen, dieses Ziel durchzusetzen, hat er seitdem allerdings zwar nicht deutlich gemacht. Nichtsdestotrotz bezeichnet Zoran Milanović das Referendum gegen die Ehe für Alle als „traurig und sinnlos“ und zieht Konsequenzen.
Um weitere Referenden, die nicht im Sinne der Regierungsziele entschieden werden, zu vermeiden, kündigt er an, die Mindestbeteiligungklausel wieder einzuführen. Ziel sei es, zu vermeiden, dass eine Minderheit das Leben von 4,5 Millionen bestimmt. Damit will sich die Bürgerinitiative „Im Namen der Familie“ nicht zufrieden geben. Erfreut über den positiven Ausgang des Referendums kündigt sie bereits neue Unterschriftenaktionen: So will sie beispielsweise das Verbot der kyrillischen Schrift in Kroatien durchsetzten, schließlich werde das kyrillische Alphabet nur von Serben gebraucht. Ein Glück, dass sich Gesetze kurz und schmerzlos wieder verändern lassen.
Die Frage bleibt bestehen, wie es zu einem Referendum und den geschätzten Ausgaben von 47 Millionen kroatischen Kuna (6,2 Millionen Euro), kommt in einem Land, welches wirtschaftliche Stagnation, Korruption und einer der höchsten Jugendarbeitsloskeiten (52%) in Europa zu beklagen hat? Kroatien hat viele Probleme, die es Wert wären, diskutiert und aufgearbeitet zu werden: Die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, das Erbe des Sozialismus, die Kriege Anfang der 1990er, die Privatisierung und Korruption. Leider entfacht sich die gesellschaftliche Debatte dieses Mal an jemand anderem: den Homosexuellen. Der Streit über die Rechte von sexuellen Minderheiten und die ablehnende Haltung im konservativen Kroatien führt in einer wochenlangen Debatte weder zur Aufarbeitung noch zu ein mehr Toleranz und Akzeptanz. Und das nächste Mal wird einfach über etwas anderes gestritten.
PROTIV – DAGEGEN!
Kroatien lässt sich gut in die zwei politischen Lager rechts und links teilen. Das Referendum und die damit einhergehende Debatte über die Öffnung der Ehe spaltet die kroatische Gesellschaft entlang zweier verschiedener Weltanschauungen: links vs. rechts, liberal vs. konservativ und laizistisch vs. klerikal. Die sogenannten „Linken“ in Kroatien zeichnen sich dadurch aus, dass sie gerne Rock oder Jazz-Musik hören, regelmäßig bei den Wahlen die sozialdemokratische SDP wählen und einige sicher auch gelegentlich in den bekannten Zustand der Jugo-Nostalgie verfallen. Sie orientieren sich am westlichen Lebensstil und leben tendenziell in Städten – so zeigen die Ergebnisse deutlich, dass in der Hauptstadt Zagreb 55,9 Prozent für die Definition Ehe als Gemeinschaft zwischen Mann und Frau und 43,5% dagegen gestimmt haben. Lediglich Istrien und die Stadt Rijeka stimmten als einzige Region in Kroatien mehrheitlich gegen diese Definition und damit für die Ehe für Alle. Sie sind Teil der 33,5 Prozent der Bevölkerung, welche sich in den letzten Wochen für die Rechte von Homosexuellen direkt oder indirekt eingesetzt haben. Sie sind auch diejenigen, die im Zuge der schleichenden Diskriminierung sexueller Minderheiten auf die Straße gegangen sind und in sozialen Netzwerken Stellung zur Debatte bezogen haben. So haben sich beispielsweise ProfessorInnen mit ihren StudentInnen der Philosophischen Fakultäten in Zagreb und Rijeka offen gegen das Referendum ausgesprochen und bezeichneten dieses als Hetzkampagne gegen Homosexuelle. Dazu gehören viele Personen des öffentlichen Lebens, wie der Frontmann Mile Kekin von der Punk-Rock-Band Hladno Pivo, die Band Dubioza Kolektiv, viele Politiker wie der kroatische Präsident Ivo Josipović und der Regierungschef Zoran Milanović.
ZA – DAFÜR!
Die UnterstützerInnen des Referendums werfen den „Linken“ gerne vor, sie seien durch ihre Stimmabgabe an die SDP ihre tolerante Haltung zur serbischen Minderheit und ihrer kritischen Haltung gegenüber der katholischen Kirche Kommunisten. Zuschreibungen gegenüber den rechten KroatInnen sind, sie seien nationalistisch bei Fußballspielen, sie hätten eine ausgeprägte Leidenschaft zu einer seltsamen Musik, die auf dem „Balkan“ als Turbo-Folk bekannt ist und sie sympathisierten mit der Tradition der katholischen Kirche. Die Verbindung von Kirche und der Ablehnung der Rechte Homosexueller zeigt in Kroatien zeigt sich daran, dass führende Kleriker wie der Zagreber Kardinal Bozanić und der Erzbischof von Split Marin Barišić in ihren Sonntagslesungen offen die Gefahr von Homosexualität propagieren – vor allem dann, wenn Homosexuelle Kinder adoptieren dürften. Die Prediger werden gerne von Gläubigen zitiert und andersherum zum Eintreten gegen die Gleichberechtigung im Rahmen des Referendums aufgefordert. Der Kardinal beispielsweise forderte seine Schäfchen dazu auf, das „Dafür“ einzukreisen. Laut Bozanić sei die Heiligkeit der Ehe und die Fortpflanzung in Gefahr. Initiatorin Željka Markić stößt ins gleiche Horn, wenn sie sich in regelmäßigen Fernsehauftritten auf eine sogenannte „wissenschaftliche Studie aus Texas, USA“, bezieht, die die Unversehrtheit der Familie durch die Ehe für Alle auch in Gefahr sieht. In der Studie namens „How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study“ belege Mark Regnerus angeblich, dass Kinder aus homosexuellen Lebensgemeinschaften sich mental schlechter als Kinder aus heterosexuellen Lebensgemeinschaften entwickeln würden. Diese Auslegung wurde zwar von der Bürgerinitiative „Wir Bürger stimmen dagegen“ und einigen WissenschaftlerInnen in Kroatien heftigst kritisiert, doch sahen sich die BefürworterInnen nicht daran gehindert, ihre Argumente auf weiteren „wissenschaftlichen Studien“ zu stützen. So seien, laut Markić, adoptierte Kinder von Homosexuellen suizidgefährdet und in der Schule öfters Mobbing ausgesetzt.
Bei allen Unterschieden zwischen rechts und links orientierten KroatInnen sind es ja häufig Stereotype, die die Sicht prägen.
Tatsache ist, dass ein Teil der Bevölkerung (ich nenne sie hier die Rechten) die EU und ihr Wertesystem als eine (post-)koloniale Großmacht wahrnehmen. Homosexuelle und ihre Forderung nach Rechten sind demnach ein Import des Westens. Viele sehen ihre Identität gefährdet: traditionelle Werte, verkörpert durch den kroatischen Nationalstaat und die katholische Kirche. Die Angst vor dem „Neuen“ vermischt sich auf mehreren Ebenen und wird in vielen Themen aufgegriffen. So wird die EU von manchen als ein weiteres „Jugoslawien“ gesehen. Der Gedankengang der EU-Gegner: Wieso solle man sich, nachdem man mühsam die Unabhängigkeit erkämpft hat, nun erneut mit anderen verbünden und sich ihre Werte aufzwingen lassen?
Was bewirkt das Referendum nun? Homosexuelle haben in Kroatien nach wie vor kaum Rechte. Die Europäische Kommission kann das nicht ändern, da sie sich nicht in die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Ehe einmischen darf. Regierungschef Milanović kündigte trotz des Referendums an, Homosexuellen mehr Rechte einzuräumen. Der Ausgang des Referendums hat in der Öffentlichkeit verschiedene Reaktionen hervorgerufen. So verkündete das RegisseurInnenpaar Bruno Gamulin und Franka Petrović Gamulin, sie würden sich aus Protest scheiden lassen. Ihre Begründung: Wozu überhaupt noch die Ehe? Wenn ihre Freunde nicht heiraten dürfen, dann wollen sie es auch nicht. Die LGBT-Community machte in einer Mitteilung mit dem Titel „Wie sind eine Familie. Das ist eine Tatsache“ ihre Enttäuschung über den Ausgang deutlich, sagte aber auch, dass sich nichts ändere, da sie die Rechte, welche sie nicht besessen haben auch nicht verlieren könne. Durch die angeheizte Stimmung zeige sich nun ein deutliches Bild, wer in Kroatien „Normal“ und „Unnormal“ sei. Zusätzlich betonte die LGBT-Community mit ihren UnterstützterInnen auf einer Pressekonferenz, dass die geringe Wahlbeteiligung Beleg dafür sei, dass die meisten KroatInnen sich in dieser Debatte nicht angesprochen gefühlt hätten. Nichtsdestotrotz haben sie sich durch ihre Wahlenthaltung für die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten entschieden. Unterm Strich hätte man die aufgewendeten finanziellen Mittel in dieser wirtschaftlichen Lage anderweitig und sinnvoller investieren können.
Was bleibt?
Die politischen und kulturellen Lager haben sich noch weiter voneinander entfernt. Das Referendum hat den Riss durch die Gesellschaft deutlicher hervorgehoben als jede Krise zuvor. Doch vielleicht ist genau diese Debatte gut für eine junge Demokratie wie Kroatien. Hoffen wir es. Man darf nicht vergessen – ovo je Balkan! Das ist der Balkan! Vielleicht sitzen sie ja doch in den nächsten Wochen wieder alle gemeinsam mit einem Schnapsglas Šljivovica in der Hand und haben auch diesen Streit wieder vergessen. Schließlich leben dort die intelligentesten Menschen der Welt.
„Vielleicht waren sich einige zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sie damit auch für ein westliches Wertesystem und gegen Diskriminierung von Minderheiten stimmten.“ Warum hier überhaupt von dieser seltsamen Idee eines „westlichen Wertesystems“ die Rede ist, erklärt sich vielleicht durch den späteren Absatz, in steht, wie die EU als koloniale Großmacht gesehen wird. Gut, dann wird das also in Kroatien so wahrgenommen und dieser ideologisch aufgeladene Begriff zumindest nicht von außen aufgedrückt. Was mich trotzdem noch stört: Am Anfang des Textes, wo dieser Satz steht, ist das alles noch nicht klar. Und von allem anderen abgesehen ist diese Abgrenzung auch faktisch nicht haltbar: Homosexualität findet auch in vielen anderen EU-Ländern keine gar so überwältigende Akzeptanz. 1/3 der Stimmen für die Ehe aller Paare? Das ist deprimierenderweise wirklich kein Ergebnis, das es nur außerhalb von West- und Mitteleuropa geben kann. Dementsprechend verstehe ich die Abgrenzung hier nicht.
Danke aber insgesamt für diesen Artikel, der, wenn auch etwas phrasendrescherisch, die Hintergründe sehr schön erklärt, auch für Menschen, die sich damit noch nicht intensiver befasst haben.
Je mehr Artikel dieser Art ich hier lese, desto mehr stellt sich mir die Frage, ob wir denn nicht vielleicht akzeptieren sollten, dass andere Menschen & Kulturen andere Wertesysteme haben.
Mir geht es nicht darum, Diskriminierung von Minderheiten schön zu reden. Aber was wäre, wenn sich unser (westeuropäisches) Wertesystem nicht mit jeder anderen Kultur in Vereinbarung bringen lässt?
Ich habe die letzten Jahre selten in Deutschland gewohnt und hatte die Möglichkeit in mehreren Ländern zu leben. Sich näher mit anderen Kulturen zu beschäftigen nimmt mitunter die „Angst“ der Andersartigkeit. Geschichte hilft zu verstehen, wie sich kulturelle Eigenarten entwickelt haben. Und letztendlich merkt man auch, dass das was man in Deutschland an Werten schätzt nicht unbedingt auf alle Kulturen der Welt übertragbar ist.
Und um zum Thema des Artikels zurückzukommen: Was wäre, wenn es völlig in Ordnung ist, dass sich eine Mehrheit zur Definition Ehe=Mann+Frau bekennt und trotzdem eine gewisse Toleranz in der Gesellschaft vorhanden ist?
PS: Ich weiß, dass dieser Kommentar etwas provokant ist. Das geht auch eher als Gedankenexperiment und weniger als Meinung durch.