Halt still!

Foto , CC BY 2.0 , by Ben Seidelman

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen.
Dieses Mal kommt er von Tobias.

Tobias lebt und studiert in Heidelberg und Gedanken. Das Internet ist sein Bällebad, in das er gerne auch selbst Kugeln hineinkippt – als Texte, Musik oder Hörbücher. Diese bemalt er dann und teilt sie auf www.herr-samsa.de

@Herr_Samsa

Nach meiner Kindheit würden sich wohl die meisten Menschen die Finger lecken: im Idyll eines deutschen Mittelgebirges groß werden, wo die Sommer heiß und die Winter schweinekalt und schneereich sind, wo Kinder genug Platz zum Spielen haben, die Luft frisch und einigermaßen abgasarm ist, wo es keine Seltenheit ist, dass Kinder keine Scheidung ihrer Eltern mitmachen müssen. Eine Bilderbuchlandschaft mit einer Bilderbuchbevölkerung. Ein Albtraum.

Seit ich mich erinnern kann, habe ich mich immer bemüht, im Sozialgeflecht eines deutschen Provinzdorfes zu überleben. Es war für mich tatsächlich eine Frage des Überlebens. Denn was diese Gesellschaft ausgemacht hat, war ein von Kindesbeinen an trainierter und praktizierter Gehorsam der Homogenität. So lange du bist wie alle anderen auch, hast du keine Probleme. Im Gegenteil: du hast sogar recht gute Chancen auf Anerkennung und sozialen Rückhalt. Wenn du es aber nicht bist, wirst du angegriffen. Um den Rückhalt der anderen zu stärken und sie in ihrer Homogenität zu versichern.

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Als einziger rothaariger Junge im Kindergarten war ich zum Beispiel ein leichtes Opfer. Vor allem, weil ich keine älteren Geschwister hatte, die mich hätten beschützen oder mit denen ich zu Hause – notgedrungen – meine Fähigkeiten, mich selbst zu verteidigen, hätte trainieren können. Es waren nicht immer Prügel. Stattdessen auch Verbalattacken, Bedrohungen, Hänseleien, Lästereien, Ausgrenzung. Das alles brennt sich sehr, sehr tief in das Empfinden eines Kindes ein. Was bei mir hängen blieb, war die Überzeugung, dass mit mir etwas nicht stimmte. Damit lebte ich in einem permanenten Bedrohungszustand. Jedes weitere Anderssein würde nur weitere Nachteile für mich nach sich ziehen. Also besser nicht auffallen. Nichts tun. Stillhalten.

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In der Schule hatte ich es dann mit denselben Menschen zu tun. Mein sozialer Status stand also schon ab dem Moment fest, als die Tür des Klassenzimmers zum ersten Mal ins Schloss fiel. Meine einzige Flucht war die Schule selbst, der Unterricht, das Lernen. Zu blöd nur, dass es innerhalb der Klassengemeinschaft nicht angesehen war, die Schule zu mögen. Zu Hause hieß es, dass die anderen Kinder nur neidisch seien, wenn sie mich „Streber“ oder „Lehrerliebling“ nannten. Bei Konfrontationen mit Lehrern riet man mir, mich zu fügen, da diese immer am längeren Hebel säßen. Das galt auch für Pfarrer, Ärzte, Behörden, die Polizei und überhaupt alle Erwachsenen. Die Botschaft: Stillhalten.

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Während meiner Pubertät hatte ich unglaublich viel zugenommen. Adipositas nannte es mein Hausarzt, Übergewicht die Gesellschaft. Angesehen waren sportliche, kräftige Jungs. Also nicht ich. Auch das gab mich zum sozialen Abschuss frei. Der Sportunterricht war jedes Mal eine Tortur. Natürlich wurde ich als Letzter mit den ganzen anderen übrig gebliebenen Außenseitern in die Mannschaft gewählt, natürlich diente ich bei meinen kläglichen Versuchen des Bodenturnens der Unterhaltung. Mit dem Fußball – „Jungs spielen Fußball“ – hatte ich auch aufgehört. Die Fleischbeschau unter den Vereinsduschen hielt ich nicht länger aus. Selbstverständlich waren mein Äußeres und mein sozialer Status nicht gerade hilfreich, um erste partnerschaftliche Erfahrungen zu sammeln. Da mich noch nie jemand mit einem Mädchen – „Jungs stehen auf Mädchen“ – gesehen hatte, dauerte es nicht lange, bis es hieß, ich sei schwul. Tatsächlich wusste ich eine Weile nicht, ob ich es nicht sogar war. Das Schlimme daran wäre auch nicht meine sexuelle Präferenz gewesen, sondern dass ich dann in dieser Gesellschaft hoffnungslos verloren gewesen wäre. Zu Hause fragte man sich auch, wie es käme, dass ich immer noch keine Freundin mit nach Hause gebracht hätte. Dass ich heterosexuell sein müsste, stand ja völlig außer Frage. Ich spürte die Verunsicherung meiner Eltern.

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Irgendwann bekam ich dann Zugang zum Internet. Und auf einmal kam ich mit Dingen in Berührung, die es hier nicht gab. Bald hörte ich Nirvana und trug Ché-Guevara-Shirts. Zu blöd nur, dass das in einem Umfeld, in dem sich die Dorfjugend zu großen Teilen in der Jugendorganisation einer christlich-konservativen Partei tummelte, und bei der es üblich war, sich mit rassistischen, höchst diskriminierenden Ausdrücken zu beschimpfen, nicht wirklich gut ankam. Als man mich im Bus, in der Schule, auf Parties und – natürlich – im Internet immer häufiger anfeindete, kam von meinen Eltern auch der Hinweis, dass ich ja ruhig eine Meinung haben dürfe, sie aber nicht immer äußern sollte. Stillhalten.

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Ein paar Jahre später war ich dann mit Freunden in einem Gothic-Laden, wo ich mir meine erste eigene Kluft zusammenstellte. Dass ich überwiegend schwarz trug, hatte mein Umfeld irgendwann geschluckt. Zwar immer noch nicht, ohne zu fragen, was ich eigentlich damit ausdrücken wolle und ob ich Satanist geworden sei, aber es schien doch einigermaßen akzeptabel zu sein. An diesem Abend kam ich mit einem Rock nach Hause. Meine Mutter war schockiert und fragte mich, was ich da an hätte. Sie schickte mich dann auch unter dem Hinweis „Schau, wie dein Sohn rumläuft!“ ins Wohnzimmer, in dem mein Vater zum Fernsehen auf der Couch saß. Er schaute mich beiläufig an und begann demonstrativ laut zu lachen. Er sagte nur „schwul“ und wandte sich wieder der Glotze zu.

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Ich wollte dort nur noch raus. Ich wollte nicht mehr in einer Gesellschaft leben, in der aufgrund meines Aussehens und meines biologischen Geschlechts von mir erwartet wurde, auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Ich wollte mich nicht länger fügen. Ich wollte nicht länger stillhalten.

Seit fünf Jahren lebe ich nicht mehr dort. Über das Studium und vor allem über das Internet habe ich viele Menschen kennengelernt, die ähnlich sind wie ich. Menschen, die anders sind und sich das Andersseindürfen erst erkämpfen mussten. Die ähnliche Geschichten zu erzählen hatten. Das hat mir gleichermaßen Kraft für die Gegenwart und Zuversicht für die Zukunft gegeben. Am Anfang steht immer die Erkenntnis, dass man nicht alleine ist. Dass man nicht stillhalten muss. Dass es auch anders geht. Und dass das auch gar nicht mal so schlecht ist. Aber auch heute noch spüre ich, wie sehr ich immer noch befürchte, etwas Falsches zu tun, wenn ich das mache, was sich für mich richtig anfühlt.

13 Antworten zu “Halt still!”

  1. Jan sagt:

    Das erinnert mich an dieses „Nein, das kannst du nicht machen. Dann bekommst du ja nie ne Freundin und brauchst dich nicht wundern.“ und die antrainierte Strategie, bevorzugte Kleidung aus Selbstschutz nicht anzuziehen. Trotz des in dieser Hinsicht privilegierten Stadtlebens.
    Danke für den Text.

  2. Sara sagt:

    Ich habe auch stillgehalten. Meine Mutter war gebürtige Portugiesin und mein Vater gehörte zur deutschen Minderheit in Rumänien, woe mein Eltern sich während des Studiums kennenlernten und auch promovierten. Als Tierärzte hatten sie stets panische Angst um ihren Ruf in dem bayrischen Dörfchen. Stillhalten hieß nichts von der Praxis und den Zuständen zu Hause zu erzählen und auch sonst bloß nicht aufzufallen. Leise und wenig reden. Möglichst wenig Angriffsfäche bieten. Weil man aber weder sein Aussehen noch seine allgemeine Wahrnehmung völlig steuern kann,ließ man mich zwar spüren, dass ich nicht beliebt war aber ich bin nicht systematisch gemobbt worden. Hänseln machte bei mir einfach keinen Spaß – dann lächelte ich nur dämlich und biss abends weinend Abdrücke in meinen Holzbettrahmen. In der Pubertät habe ich dann angefangen mich im Geheimen völlig in Animes und Mangas zu flüchten. Das war mir derart peinlich, dass als eine Freundin mich abends besuchte und neben meinem Bett eine Folie mit Ausdrucken fand, ich mit einem lauten Schrei panisch das Licht löschte und ihr im Dunkeln das Blatt entriss . Da in einem Dorf jeder alles weiß und niemals etwas vergessen wird, war das wahrlich die schlechteste Reaktion. Nach der (lang ersehnten)Scheidung meiner Eltern und kurz bevor wir aus Bayern weg nach NRW gezogen sind, bin ich dann dazu übergegangen als Ventil mein Essen zu erbrechen. Ich wohnte sowieso schon lange auf dem Schulklo. Seitdem sind zehn Jahre vergangen und ich träume immer noch von meiner Klasse und den Dingen, die ich mich nie getraut habe zu tun und zu sagen. Immerhin wohne ich nun in einer Großstadt und werde um kein Geld der Welt jemals wieder in die Pampa-Hölle zurückziehen.

  3. Robin Urban sagt:

    Der Lieblingsspruch meiner Oma war immer (und ist es auch heute noch): „Du bist einfach anders als andere Leute!“
    Nur ist das bei ihr kein Kompliment, sondern so ziemlich das Schlimmste, was man einem Menschen vorwerfen kann.

    Mit meiner Biographie (ich bin ein uneheliches Kind!!!einself) und meiner Kleidung (Grunge) bin ich als Jugendliche in meinem 2000-Einwohner-Dorf aufgefallen wie ein bunter Hund. Mobbing gab es aber glücklicherweise zumindest in diesem Soziotop nie – ich habe ja nie versucht, dort Anschluss zu finden. Ich hatte meine beste Freundin, die genauso drauf war und das hat… nicht gereicht, aber so war es jedenfalls erträglich.

    Trotzdem ist das Dorfleben nicht nur schlecht. Solange man die Menschen nicht komplett verstört mit Dingen, von denen sie keine Ahnung haben, sind alle sehr nett und nachbarschaftlich. Jedes Mal, wenn ich zuhause auf Besuch war und danach wieder in meine Unistadt fahre, könnte ich heulen, weil die Leute hier einfach so unfreundlich sind. Außerdem stinkt es, es ist laut, es gibt kaum Bäume etc. pp.

    Deshalb steht für mich fest, dass ich irgendwann wieder aufs Land zurück kehre. Mit der immer besseren Vernetzung mit der großen Welt durch das Internet glaube ich nicht, dass diese kleinen Inseln der Homogenität langfristig so überleben können. Und wenn endlich ein bisschen Toleranz im Dorf angekommen ist, habe ich das Beste beider Welten :)

    • Ute sagt:

      Mensch, das hört sich so traurig an und zu großen Teilen kann ich dich sehr gut verstehen. Mir ging es in meinem Heimatdorf ziemlich ähnlich, allerdings habe ich nicht ganz so arg gelitten, weil ich irgendwann sehr gute Freundinnen hatte und mir auch Leute von weiter außerhalb gesucht habe. Was mich irgendwann allerdings sehr getroffen hat, war eine ganz andere Überlegung: Meine Mutter hatte unser Dorf und die Menschen dort immer abgelehnt: Die sind engstirnig, die sind so katholisch (wir waren protestantisch), die Frauen sind alle so doof, weil Hausfrauen, weil Dorf, weil katholisch (meine Mutter kam aus Berlin). Also sollte ich auch alles doof finden, die Leute, Schützenfest, Karneval, andere Jugendliche etc. Das habe ich als brave Tochter auch gemacht und fand nie Anschluss. Heute sehe ich das anders: Es gab und gibt dort ziemlich nette und patente – und auch offene – Leute, genauso wie hier in der Stadt und man kann ziemlich viel Spaß haben (etwas derb halt) und auch gute Sachen zusammen anstoßen. Mit etwas mehr Offenheit von meiner Mutter/Familie hätte vieles leichter sein können. (Wobei es auch krasse Ausgrenzung gab, da will ich nichts beschönigen.)

  4. Bubele sagt:

    Das Problem scheinen allerdings mehr die Eltern als das Dorf zu sein.

  5. Wachkatze sagt:

    Willkommen im Club!

    Den „Spaß“ kenn ich nur zu Gut.
    Zu Groß, zu hager, zu belesen, etc…
    Und dann auch noch mit norddeutschen Akzent in nem fränkischen Kaff…

    Und diese Ausgrenzung in der Kindheit, hängt Mensch ein Leben lang nach.

    Allerdings, lernt Mensch ein gesundes „Leckts mich doch am Ärmel! Ich brauch euch nicht!“

    Entweder Mensch lernt nen geraden Rücken, oder Mensch zerbricht.

    LG

    Wachkatze

  6. Majken sagt:

    Danke!

    Ich bin mit 7 von der Großstadt ins Dorf gezogen. Anders gesprochen, anders ausgesehen, mich anders verhalten. Es war furchtbar. Und genau das musste ich lernen: stillhalten. Nichts tun, was irgendwie auffällt.
    Das ganze ist bald zwanzig Jahre her und die Wunden sind verheilt, aber die Erinnerung bleibt.

  7. Mirabellensaft sagt:

    Danke, du hast grad meine Kindheit beschrieben. Bis 14 hab ich nie so viel drüber nachgedacht. Dann lebte ich 2 Jahre im Ausland. Wieder „zuhause“, hab ich meine Zeit nur abgesessen bis ich die Gegend verlassen konnte. Ich mag die Landschaft da. Aber ich werde nie, nie wieder dahin zurück gehn.

  8. Andreas sagt:

    Ich glaub‘, ich hab‘ den ganzen Scheiß verdrängt. Das Gefühl der bestenfalls als Mitgefühl getarnten Erniedrigung, wenn die eigene Mutter als Putzfrau in dem Gymnasium arbeitet, welches man zusammen mit lauter Arztsöhnchen in einer schwäbischen Kleinstadt besucht. Zu keinem Geburtstag eingeladen zu werden. Kein Mädchen abzubekommen, weil es die Eltern niemals zuließen.
    Alles gewesen, aber keine Traurigkeit bei dem Gedanken daran. Keine Wut.
    Retrospektiv bleibt nur das Gefühl jener seltsamen Freiheit, die ich mit meinen drei, vier Freunden dabei hatte, als wir das wurden, was wir Ende der der Neunziger bei uns auf dem Dorf für Punks hielten. Es gab keine auf’s Maul, wenn man sich von den Naziproll-Epizentren der angrenzenden Gemeinden fernhielt. Da uns ohnehin jeder Scheiße fand, konnten wir uns benehmen, wie wir wollten (meistens im Rahmen geltender Gesetze, wir waren ja immer noch Schwaben).
    Das ich die Zeit eher romantisiere als mit Schaudern zurückzublicken, liegt wohl daran, dass ich Menschen hatte, die sie mit mir verbrachten. Meine wenigen Kumpels und vor allem meine Mutter, der stets völlig egal war, wie ich rumlief oder welche Musik ich hörte, solange ich als erster der Familie mein Abi durchzog.
    Als ich das dann hatte, hab‘ ich auch schleunigst das Weite gesucht.
    Besser als in der Zeit als schwäbischer Provinz-Outlaw wurde es leider nicht mehr. Trotz Internet.

  9. S. sagt:

    Danke für den Artikel, kann mich sehr gut damit identifizieren. Der letzte Satz! <3 jetzt, in der Stadt, stellt sich mir grade intensiv die Frage, wie stark diese Angst mit der Erfahrung des Stillhalten müssens verbunden ist und wie_ob ich sie endgültig loswerden kann… Der Schreck sitzt auf jeden Fall tief.

  10. […] Um unsere Angst zu verstehen, muss man wissen, wo und wann wir aufgewachsen sind. Wir kommen vom Dorf. Aus Bayern. Als Kinder bekamen wir die AIDS-Hysterie der 80er mit, ohne sie zu verstehen. Wir […]

  11. Chris sagt:

    Hallo Kleinergast,
    vielen Dank für diesen lehrreichen Artikel.
    Ihn zu lesen hat mir besonders gut gefallen.
    In vielen Punkten finde ich mich wieder,
    weswegen ich ein wenig schmunzeln konnte.
    Es wäre so lustig, wenn man nicht darüber weinen könnte.
    Es tut mir Leid, dass man es dir in der Provinz so schwer gemacht hat.
    Auch habe ich genau das gleiche durchmachen müssen wie beschrieben.
    Jetzt erkennen wir durch dich, das wir nicht schlechter als andere sind.
    Durch euch werde ich darin bestärkt, weg von meiner Kleinstadt Aschaffenburg
    zu ziehen.
    Danke