Zwei Brüder

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Es war einmal ein Zwillingsbrüderpaar. Der eine hatte oft ein rotes T-Shirt an und kurze Haare, der andere trug immer eine schwarze Jacke mit lustigen Buttons drauf und hatte lange Haare. Als eineiige Zwillinge waren sie sich – ganz dem Klischee entsprechend – sehr ähnlich. In Verhalten, Bildung, Klugheit. Beide fühlten sich wohl mit sich selbst. Kurzhaar hatte mehr zu schnaufen, wenn er Treppen stieg, Langhaar saß nie so bequem und konnte nicht einfach auf hartem Boden schlafen. Aber sie waren zufrieden mit sich.

Trotzdem war ihr Leben sehr unterschiedlich. Kurzhaar saß zum Beispiel immer alleine in der U-Bahn, auch wenn neben ihm noch viel Platz war. Langhaar wünschte sich das auch manchmal, weil er gerne viel Platz hatte. Er war aber auch froh, sich nicht fragen zu müssen, warum Menschen ihn mieden.

Wenn Langhaar neue Menschen kennenlernte, waren die eigentlich immer freundlich zu ihm. Auch ganz Fremde. Sie hielten ihn oft für intelligent und vielleicht sogar tiefgründig, weil er sich oft viel Zeit nahm bevor er etwas sagte.

Für Kurzhaar war das anders. Manche Fremde waren betont unfreundlich zu ihm, ganz ohne Grund. Als wäre er ein schlechterer Mensch. Manche neuen Bekannten hielten ihn erst mal für komisch oder wenig intelligent, weil er sich oft viel Zeit nahm bevor er etwas sagte.

Kurzhaar bekam oft die gleichen Dinge erklärt, die Langhaar anderen erklären sollte. Besonders oft medizinische. Was ein bisschen lustig war, denn sie hatten ja beide Medizin im Nebenfach studiert.

Langhaar wurde hinter seinem Rücken manchmal “arrogant” oder “eingebildet” genannt. Kurzhaar statt dessen “naiv” oder “eklig”. Öfter hörte er das auch direkt. Überhaupt war es einfacher, Kurzhaar zu sagen, was an ihm störte. Langhaar bekam so etwas seltener zu hören. Was Menschen an ihm störte, würden sie ihm nicht einfach so sagen.

Manchmal, wenn Kurzhaar auf die Strasse ging, guckten Menschen komisch. Kinder zeigten auf ihn, Eltern blickten verschämt nach unten. Langhaar passierte das nicht, er wurde dafür sogar manchmal angelächelt. Auch wenn er gerade grimmig dreinschaute.

All das irritierte die beiden sehr. Wenn Langhaar in den Spiegel sah, sah er dort nur Kurzhaar, mit langen Haaren.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind beide heute noch manchmal traurig, wie unterschiedlich ihr Leben ist, und wie wenig unterschiedlich sie sich dabei fühlen.

15 Antworten zu “Zwei Brüder”

  1. Jeena sagt:

    Interessant das Bild erschien nicht in meinem feedreader und bis zu 3/4 des textes dachte ich dass der eine schwarz und der andere weiß ist, am ende wurde es aber durch das „ekelig“ deutlich dass der eine dick und der andere dünn ist.

    • Beata sagt:

      Eineiige Zwillinge, der eine schwarz, der andere weiß? Now that’s something.

      Guter
      Artikel. Problematisch finde ich nur, dass er Wasser auf die Mühlen
      derer ist, die Überdurchschnittsgewicht als Konsequenz bewussten
      Verhaltens und weniger als Resultat einer genetischen Disposition
      betrachten.

      • map sagt:

        Verstehe ich jetzt nicht. Erklärst du’s mir?

        • Beata sagt:

          Na ja. Die Zwillingsforschung dient ja oft dazu zu bestimmen, ob Krankheiten oder körperliche bzw. psychische Merkmale erblich bedingt oder ihre Ursache in Umwelteinflüssen bzw. Sozialisationsprozessen haben.

          Ich bin der Meinung, dass ich etwas molliger bin, weil meine Mutter und meine Oma das auch waren und nicht, weil ich wie ein Mähdrescher fresse. Menschen anderer Meinung könnten jetzt auf deinen Beitrag verlinken und sagen:“Schau mal, gleiche Gene. Geht, wenn man will.“

          • map sagt:

            Ah. Danke.

            Verstehe die Kritik, aber ich glaube wer diese *metaphorischen* Zwillinge für eine derartige Argumentation benutzt, hat den Text missverstanden. (Ich habe keinen Zwillingsbruder. Das oben ist eine Fotomontage.)

          • Beata sagt:

            Upps, das hab‘ ich jetzt echt nicht gerafft (Damn you, Photoshop).
            Falls du der Schlanke bist und deinen dicken Bruder dazuerfunden hast statt umgekehrt, musst dir mir aber nachsehen, dass ich den Text nicht mehr so toll finde.

            Es gibt genug Geschichten und Schicksale echter Menschen zu erzählen, und die bewegen einen in diesem Zusammenhang (wie wohl bei jeglicher Art von Diskriminierung) doch wohl mehr als ein von einem „Normalen“ erfundenes.

            Dennoch danke für jeden, der sich dem Thema überhaupt kritisch nähert.

          • Auto_focus sagt:

            Das da oben sind zwei Fotos von map. Er hat alles im Text erlebt. Ein- und dieselbe Person.

          • map sagt:

            Auto_focus hat es ja bereits klargestellt, aber nur um weitere Verwirrung zu vermeiden: Beide oben abgebildete Personen bin ich. In „echt“. Die Photos sind nicht manipuliert, jenseits dessen, dass ich sie übereinander montiert habe. Nichts ist erfunden.

  2. tehmillhouse sagt:

    Es fällt mir schwer mir vorzustellen wie schwer es sein muss, die Dinge die ihr fast täglich in dieses Blog schreibt mit der Welt zu teilen. Danke für diesen Artikel.

  3. Eva sagt:

    toller text! <3

    ich finde diese märchenform total passend zum thema. (macht auch lust, mal ein paar moderne märchen zu schreiben)

    danke.

  4. ruhepuls sagt:

    <3

  5. Daniel sagt:

    Puh, krasser Text. In vielerlei Hinsicht. Vielen Dank!
    Ein Mensch mehr, der über sein Verhalten nachdenken wird, ist dir dankbar und auch beschämt.

  6. Faserpiratin sagt:

    Danke für den Text, interessante Idee für ein so ernstes Thema.

  7. SAND sagt:

    Danke für den tollen Text. Schöne Form, inspirierender Inhalt.