Wie kommen die Krümel an den Tisch?

Foto , CC BY-SA 2.0 , by http://www.flickr.com/photos/fabola/

Ein schwüler Sommerabend in der Akademie für Publizistik in Hamburg. Die Temperaturen des Abends locken eher dazu, die Füße in der nahgelegenen Alster zu kühlen, als sich nach Feierabend in einem Seminarraum zu treffen. Knapp zwanzig Frauen sitzen aber genau dort hinter ihren Rechnern, Smartphones und Tablets. Vor sich haben sie ein Glas Wein und ein geöffnetes Browserfenster, das bei allen die gleiche URL anzeigt. Wir befinden uns mitten in der ersten „Women, Wine and Wikipedia“-Editierparty-Deutschlands.

Der Ursprung des Abends liegt drei Monate zurück. Auf kleinerdrei geht mein Artikel über Sarah Stierch online, Kixka Nebraska von den Digital Media Women Hamburg liest ihn und beschließt, umzusetzen, was dort beschrieben wird. Stierch war für Wikipedia 2012 ein Jahr beschäftigt, mehr Frauen als Beitragende zu gewinnen.

Fünfmal mehr Männerbiographien

Die Online-Enzyklopädie hat nämlich ein Problem: Eine Unwucht in der Verteilung ihrer Mitglieder. Neun von zehn Wikipedianern, wie sich die Community der Wikipedia selbst nennt, sind laut einer Umfrage unter den Mitgliedern männlich. Eine Zusammenfassung von Selbstauskünften deutscher Wikipedia-Autoren sagt: Der Durchschnittsautor der Wikipedia ist weiß, männlich und unter 30. Das hat Folgen für das Wissen, das in der Online-Enzyklopädie repräsentiert wird. So stehen in der deutschsprachigen Wikipedia derzeit 416.000 Biographien von Männern 72.000 Biographien von Frauen gegenüber. Wo Frauen nicht mitschreiben, gibt es für die Themen, die ihnen wichtig sind, einen blinden Fleck. Die ehemalige Wikimedia-Präsidentin Sue Gardner benannte das Problem 2011 so: „Wikipedia besteht aus Krümeln von Wissen, die alle mit an den Tisch bringen. Wer nicht am Tisch sitzt, von dessen Krümeln profitieren wir nicht.“ Schreibt nur eine Gruppe am Weltwissen im Netz, fehlen Themen und Perspektiven anderer Gruppen.

Um das zu ändern, hat Sarah Stierch sich Editierparties nur für Frauen ausgedacht. Die Idee: Erfahrende Wikipedianerinnen, von denen es laut oben zitierter Umfrage weltweit vor zwei Jahren 444 gab, geben Anfängerinnen Anschubhilfe und erklären das Editieren in der Wikipedia. Dadurch, dass Männer außen vor sind, sinkt die Hemmung bei den Anfängerinnen, technisch nicht ganz so versiert auszusehen. Nebenbei gibt es ein gutes Glas Wein und das Ganze ist eher eine Party als einsames Starren auf den Bildschirm ohne Unterstützung bei den ersten Schritten.

Die fallen Frauen nicht nur schwer, weil die Nutzeroberfläche von Wikipedia wenig intuitiv ist (“Ich weigere mich ein System zu bedienen, das aussieht wie von 1995” O-Ton Teilnehmerin) und das Auffinden von Hilfestellungen wie ein Button, hinter dem “Erste Schritte” erklärt werden, sich irgendwann wie die Suche nach dem Bernsteinzimmer anfühlt.

Jezebel.com? Hamwanich!

Frauen tendieren auch dazu, eher an sich zu zweifeln, wenn es um ihre Fähigkeit, Artikel zu schreiben oder Themen zu finden geht, wie Elly Köpf, Mitarbeiterin von Wikimedia Deutschland und Gast des Hamburger Abends sagt. „Es ist erstaunlich. Wir geben Workshops, an deren Ende alle Teilnehmer eigentlich in der Lage sind, loszuschreiben. Es sind aber oftmals Frauen, die dann sagen: „Aber mach ich auch alles richtig? Und worüber soll ich jetzt überhaupt schreiben?“

Für den Anfang vielleicht über andere Frauen. Sie und frauenspezifische Themen sind nämlich dank der Ungleichverteilung der Geschlechter in der Autorenschaft in den Artikeln der Online-Enzyklopädie ziemlich unterrepräsentiert, wie emma7stern, Wikipedianerin seit 2006 und unsere Lotsin in die Online-Enzyklopädie an diesem Abend, darstellt. Eine Liste mit Frauen und Themen, denen Einträge fehlen, pflegt das Wikiprojekt Frauen. Ein Punkt auf der Liste: Das zum erfolgreichen Gawker-Blognetzwerk gehörende feministische US-Blog jezebel.com.

Dass Männer, wenn sie an Einträge in der Wikipedia denken, eher an andere Männer denken als an Frauen, scheint nur ein Grund für weniger Sichtbarkeit von Frauen in Wikipedia zu sein. Ein weiterer lieg in den Regeln der Enzyklopädie, die für jeden Artikel Relevanzkriterien vorsieht. Diese sind für das Community Building zwar zweifelsohne wichtig und stehen so wie jeder Eintrag der Wikipedia zur Debatte. Wenn aber die Gruppe, die debattieren soll, die gleiche Gruppe ist, welche die Regeln erst gemacht hat und bei Diskussionen immer in der Mehrheit ist, scheint es schwierig bis unmöglich, diese Regeln zu ändern. Noch dazu wenn der Umstand eintrifft, den emma7stern als „Elend“ bezeichnet: „Wer sich in der Wikipedia als Frau zu erkennen gibt oder Standpunkte verteidigt, die für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis sorgen, wird eher angegriffen als andere Nutzer.“ Und es geht noch weiter: „Die Angriffe sind auch schneller unter der Gürtellinie. Das bringt Frauen dann oft dazu, unsachlich zu werden und so werden sie häufiger geblockt als Männer und vom Weiterdiskutieren ausgeschlossen“

So bildet sich ein Teufelskreis: Frauen, die den Status Quo in Frage stellen, werden marginalisiert und im schlimmsten Fall vom Weiterschreiben abgeschreckt. Das Ergebnis: Die Frauen bleiben der Wikipedia fern, an den alten Regeln ändert sich nichts und an der Repräsentation von Frauen in der Enzyklopädie auch nicht. Wie problematisch die Relevanzregeln sind, zeigt sich beispielsweise an denen für Journalisten. Diese müssen laut Wikipedia

Chefredakteur einer relevanten Zeitung oder Zeitschrift oder der Chefredakteur eines relevanten Rundfunksenders sind oder

leitende Redakteure bzw. Ressortchefs von großen überregionalen Zeitungen oder Zeitschriften bzw. Rundfunksendern in „klassischen“ Ressorts wie Politik (ggf.: Außen- bzw. Innenpolitik), Wirtschaft, Sport, Kultur bzw. Feuilleton (falls eigenes Ressort auch: Literatur) sind

Träger eines bedeutenden Journalistenpreises sind oder

mindestens einen relevanten Skandal aufgedeckt haben (z. B. Alfred Worm).

Deutschland hat derzeit genau eine Chefredakteurin einer überregionalen Zeitung: Ines Pohl von der taz. Sie hat dann auch einen Wikipedia-Eintrag. Ihre Berufsgenossinnen haben derweil das Nachsehen, denn der deutsche Journalismus hat zwar laut einer Berufsfeldstudie der Bundeszentrale für politische Bildung von 2005 einen Frauenanteil von 37 Prozent. Dieser setzt sich aber in den Ebenen, die für die Wikipedia als relevant gelten, nicht fort: „Auf der Ebene der Chefredaktionen findet sich eine Frau neben vier Männern, 29 Prozent der Ressortleitungen und Chef vom Dienst-Positionen werden von Frauen besetzt.“

So setzt sich die Unterrepräsantion von Frauen auf Führungsebenen fort in eine Unterrepräsentation als relevante Personen in der Wikipedia.

Dem Groll trotzen

Wer den Status Quo geschlechtsspezifischer Diskriminierung angreift, setzt sich dem Groll der Meute aus. Das zeigt das Beispiel der US-Journalistin Amanda Filipacchi, die im April 2013 auf den Missstand hinwies, Mann-Sein zur Norm der Wikipedia-Darstellung zu machen und dafür mit der Verunstaltung ihrer Wikipedia-Seite bedacht wurde. Anlass der Diskussion war ein Artikel Filipacchis, in dem sie sich darüber wunderte, dass weibliche US-Schriftstellerinnen aus der gemeinsamen Liste mit ihren männlichen Kollegen entfernt und auf einer eigenen Seite aufgelistet wurden waren, auf der dann explizit ihr Geschlecht erwähnt wurde. Das tat es aber auf der Seite der Männer nicht, so dass Nutzer, die nach US-Schrifstellern („US novelists“) suchten, eine um Frauen bereinigte Liste auffanden, die sich aber geschlechtsneutral gab. Der Streit ist inzwischen beigelegt, ein schaler Beigeschmack angesichts der Rache der Wikipedianer gegenüber einer Kritikerin bleibt. Ein weiteres extremes Beispiel ist die Hass-Kampagne gegen Fiona Baine, die sich nach monatelangen Attacken auf ihre Person außerhalb der Wikipedia und in den Diskussionsseiten der von ihr angelegten Artikel sowie auf ihrer eigenen Wikipedia-Seite als Nutzerin sperren ließ.

Warum sollen sich Frauen diesem Stress aussetzen, fragen die Teilnehmerinnen der Hamburger Party irgendwann. Schließlich ist die Arbeit an der Wikipedia ehrenamtlich. Für emma7stern ist die Sache klar: „Man bekommt sofort Lob – vor allem, wenn man sich um die verwaisten Frauenthemen kümmert.“ Damit spricht sie etwas an, das in der öffentlichen Wahrnehmung der wikipedia zumindest mir bis zu dem Abend in Hamburg nicht so klar war: Wikipedia ist eine Community und eine Art soziales Netzwerk. Die Nutzerinnen und Nutzer interagieren auf den Diskussionsseiten von Artikeln miteinander und manche von ihnen organisieren Treffen. Eins davon speziell für Frauen gibt es in Berlin: Das Women Edit im FrauenComputerZentrumBerlin, das am 14. August das nächste Mal stattfindet. Darüber hinaus denken die Digital Media Women Berlin über eine Adaption des Workshops in Hamburg nach.

Was emma7stern außerdem motiviert, ist der Stolz auf das Geleistete, auf geschriebene Artikel und Mosaiksteine am Weltwissen, die sie selbst hinzugefügt hat. Elly Köpf sieht genau das auch in ihrer täglichen Arbeit: „Wenn wir Schülern Wikipedia erklären, sind am Ende auch die coolsten Teenies soweit, dass sie sich applaudieren, wenn die von ihnen neu geschriebenen Wikipedia-Artikel gezeigt werden.“ Dazu kommt, was eine der Teilnehmerinnen beim Glas Wein in der Pause sagt: „Ich nutze die Wikipedia oft, also will ich auch etwas zurückgeben.“

Wie das geht, das erkläre ich in Teil 2 dieses Artikels in der kommenden Woche.

 

 

4 Antworten zu “Wie kommen die Krümel an den Tisch?”

  1. julia sagt:

    Guter Artikel. Muss echt was passieren. Ich habe es leider auch schon lernen müssen, dass Artikel über Frauen … anders … sind als die über Männer … leider.

  2. Chris sagt:

    Sehr wahre Aussagen. Manche Probleme sind aber geschlechtsübergreifend, z.B. die Tatsache, dass ziemlich gemobbt wird, wenn jemand etwas tut, was anderen nicht passt – und so z.B. Benutzerseiten vandaliert werden. Das hat in den genannten Beispielen so stattgefunden, findet aber häufig auch bei anderen Streitthemen statt. Das hat wohl fast jeder Wikipedianer, der ein wenig aktiver ist, schon erlebt. Das ist unschön und ich finde, dass an dieser Stelle viel schneller Sanktionen verhängt werden sollten, aber es ist kein grundlegendes Frauen-Problem.

    Noch eine Anmerkung: „Neun von zehn Wikipedianern, wie sich die Community der Wikipedia selbst nennt, sind laut einer Umfrage unter den Mitgliedern 2011 weiß, männlich und zwischen 25 und 30.“ – ähm. Du hast doch selber die Studie verlinkt. Wieso dann so übertreiben? Die Gruppe 22 bis 29 umfasst grade mal 26%. Ja, „neun von zehn“ sind männlich, aber nicht notwendigerweise weiß (das wurde gar nicht erfasst) oder zwischen 25 und 30.

    Und was ich gar nicht rauslesen konnte ist eine Lösung für das starke Ungleichgewicht der Biografien. Zum einen können mehr mitwirkende Frauen sicher die Quote erhöhen, im Endeffekt ist das ja aber auch den Umständen in der Gesellschaft geschuldet (wie du am Journalisten-Beispiel zeigst). Auch bei historischen Ereignissen wird das schwierig (die Frauenquote bei vor 1800 geborenen liegt bei nur 7%). Dass eine ausgeglichene Quote bei Wikipedianerinnen und Wikipedianern erreicht werden sollte unterschreibe ich sofort, aber eine 50%-Quote bei den Biografien ist wohl – bedingt durch die Vergangenheit (und leider noch die Gegenwart) – nicht erreichbar.

    • julianeleopold sagt:

      Hallo Chris, in den Daten, auf die ich mich beziehe (und die ich jetzt noch ausführlicher verlinkt habe), wurde auch die Hautfarbe der Autoren abgefragt. Du findest nähere Informationen dazu hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Freedom_Wizard/Sozialstruktur_der_Wikipedia# Der Hinweis darauf, dass die gesamte Kommunikationskultur der Wikipedia unabhängig von der Geschlechterfrage problematisch werden kann, ist interessant. Die Begründung des Teahouse von Sarah Stierch beruft sich ja genau darauf: Neumitglieder willkommen zu heißen und einen höfliche Ton zu etablieren, unabhängig davon, wer spricht.

  3. […] Leopold hat ihre Eindrücke des Abends ebenfalls bereits bei kleinerdrei <3 verbloggt und wird dort in einem zweiten Teil noch darauf eingehen, wie genau das nun geht, bei der […]