Ganz einfach degradiert

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Hawken King

Ich habe mir letztens wieder einen Song angehört. Es ist ein Rapsong, er heißt „Nur die Starken überleben„, Nate57 & Telly Telz heißen die Rapper. Sie leben in Hamburg, Kiez ist ihr Lieblingswort, das Lied ist straight up Gangsterrap. Viel Attitüde, viel Macho und viel Gewaltandrohung. Alles in allem wohl eher ungemütlich, der Typ. Niemand, mit dem man sich auf einen Kaffee trifft. Allein die Vorstellung ist absurd, ich glaube, Nate57 gibt sein Geld nicht für Kaffee und Kuchen aus.

„Guck, Kunststudenten fragen mich immer nach Ot (Slang für Gras)
ich bin lieber misstrauisch: Vielleicht ist er ja ein Cop.
Der Stoff von deiner Jacke gefällt mir – lass mal anprobier’n!
jetzt ist es meine, hast du kapiert?
Ich bin arm wie’n Schwein, wie soll man da nicht aggressiv sein?
Versetz‘ dich doch mal in mich rein!“

Klar, kein Ding, reinversetzen ist simpel.

Hätte ich den Song vor zehn-zwölf Jahren gehört, hätte ich ihn kompromisslos gefeiert. Nicht, weil ich aus schwierigen Verhältnissen komme, aber ich hatte viel mehr Zugang zu dem, was Nate57 da rappt. Dieses Gefühl, dass so viele Migranten/Kanaken hatten in meinem Umfeld (ich weiß nicht, wie das heute ist), zum Beispiel an Weihnachten, wenn anderen Kindern der Klasse die halbe Welt unter den Baum gelegt wurde. Wie man (lies: ich, mein Umfeld) manchmal dasaß und dachte: Andere Eltern wären vielleicht doch ganz cool gewesen.

Schon klar, sie sparen das Geld, sie schicken es in die Türkei, die Verwandten brauchen es mehr, aber die Playstation 2 und Metal Gear Solid ist eigentlich das, was mich gerade beschäftigen sollte anstelle von kaltkalkulierten Abwägungen.

Bayram schön und gut, Händeküssen, Geld kriegen, 100 Euro Pi mal Daumen, aber das ist keine halbe Welt, das ist ein Kinobesuch, danach Hamburger plus 20er-ChickenMcNuggets und das Geld ist eh‘ fast schon rausgepulvert.

Also ja, reinversetzen ist simpel, ich verstehe, was er rappt. Geld macht nicht glücklich, meinetwegen, aber kein Geld macht Hass.

Das Ding ist: Ich kann mich nur noch in der Vergangenheitsform reinversetzen. All das, wovon Nate57 rappt, liegt bei mir so weit zurück, dass ich von den „guten alten Tagen“ reden könnte. Genau genommen mache ich das schon, aber dazu gleich mehr.

Nate57 hat einen anderen Song, den ich sehr oft höre: Er heißt „Immigranten„.

„Egal in welches Restaurant man geht, sie rücken weg
der Kioskbesitzer denkt, dass ein Messer im Gürtel steckt
[…]
guck, zu viele koksen, viele kiffen,
manche versuchen den graden Weg, aber werden in einen Topf geschmissen
Verschissen! der Ausbildungsplatz wurd‘ geschnappt
von einem Typen mit einem besseren Namen auf dem Pass“

Ich weiß nicht, wieso, aber ich hab irgendwas in der Richtung „Mei, selbst schuld!“ gedacht. Nicht so offensiv, ich übertreibe hier, damit meine Position und mein Problem deutlich wird, aber grundsätzlich habe ich die Art, wie er lebt, samt all seiner Probleme degradiert.

Dabei weiß ich es besser. Ich kann aus dem Stand, wenn ich in mein Umfeld schaue, zwanzig Fälle nennen, wo ich ganz offen gelebten Rassismus als Grund angeben würde dafür, dass die Person in ihrer Weiterbildung gestoppt wurde. So vielen türkischen Frauen in meinem Umfeld wurde geraten, doch Arzthelferin zu werden. Fast allen (wie gesagt, zehn-zwölf Jahre). Bevor es heißt, das sei ja nicht schlimm und Arzthelferin sei ein guter Job: Ach was.

Wenn aber allen anderen kommuniziert wird, unbedingt den Ausbildungsweg weiterzugehen, sonst würde es schwer mit Jobs, auch Arzthelferin, wenn dann keine Eltern hinter einem stehen und dem Lehrer mit einem „Fick dich“ klar zu verstehen geben, was los ist, knickst du ein, dann übernimmst du die Sicht deines Lehrers und traust dir selbst auch nicht mehr zu.

Oder Freunde, die aktiv mit einer besseren Abschlussnote in Deutsch geködert wurden, wenn sie im Gegenzug keinen Quali (Qualifizierender Hauptschulabschluss) machen. Weil das „wichtiger“ sei, lieber gute Abschlussnote in Deutsch. Die Freunde, die dann ein Ego haben wie ein Streichholz, obwohl sie de facto krass intelligent sind und zehn-zwölf Jahre brauchen, um sich einzugestehen, dass sie mehr wollen vom Leben und was es so zu bieten hat und aus Jux (!) anfangen, Drehbücher zu schreiben.

Also ja, ich weiß es besser. Ich weiß, dass ein Großteil von dem, was Nate57 rappt, so banal es klingt, weil es zu einem Klischee gemacht wurde, einfach stimmt. Dass es eben keine Opferrolle ist, in die er sich einfügt („ich darf an der Gesellschaft nicht partizipieren“), sondern eine aktive Rolle, weil er das anprangert. Weil diese „Mai, selbst schuld“-Haltung von mir ein aktiver Kampf dagegen ist, sich damit auseinanderzusetzen, was eigentlich los ist. Weil es sehr simpel ist, Schwachstellen zu finden (ansonsten eventuell problematischer Typ, weil Gewaltandrohungen etc.), um das Argument ausklammern zu können.

Ich will hier nicht den Typen feiern. Kann sein, dass er aggressiv ist und sich grundlos durch die Gegend boxt, zumindest rappt er ja auch recht authentisch davon. Kann sein, dass er der ungemütliche Typ ist, der keine Lust auf Kaffee und Kuchen hat.

Ich kann und muss aber auch sagen, dass es diese Tendenz gibt, unter Migranten/Kanaken, die es ‚geschafft‘ haben, sich zu distanzieren von diesen Leuten. Als ob sie, wir, ich etwas besseres wären, als ob wir diese Probleme nicht kennen würden. Vermutlich kennen das nicht alle, ja, aber wie auch weiter oben rede ich von meinem Umfeld. Das sind dann die Türken, die plötzlich pro-Türsteher argumentieren und Sachen sagen wie „Ja, aber hey, ich kann das schon verstehen, unsere“ – es sind immer „unsere“ – „Türken machen halt auch einfach viel Stress.“ Eine saudämliche Argumentation, aber man ist stolz, dass man es selbst geschafft hat. (Ich habe nie so argumentiert, aber es oft gehört und dann entnervtes Kontra gegeben.)

Und ich ganz persönlich bin in einer glücklichen Position, ich bin nicht mehr auf 100 Euro Bayramgeld angewiesen. Ich habe irgendwann angefangen, Politik zu studieren, Journalist zu werden, diesdas, schönes Leben, ich habe immer mehr den Zugang zu Religion verloren, weil ich nicht mehr darüber reden wollte, wie das Leben vor 1400 Jahren aussah (auch hier: keine Verallgemeinerung, nur mein Umfeld, gibt genügend islamische Communitys, die schauen, wie sie den Islam hier und jetzt leben können). Darüber sind die türkischen Leute aus meinem Leben gefallen, ohne, dass ich das wollte. Einfach, weil man diese Menschen in der Moschee getroffen hat, so wie auch Arbeitskollegen oft nie Freunde sind, sondern Leute, mit denen man sich zum Mittagessen verabredet. Was ich habe an türkischen Menschen um mich rum, das ist Familie. Sonst ist das so gut wie niemand, der regelmäßig da wäre. Das meine ich, wenn ich weiter oben schreibe, dass ich den Zugang verloren.

In meiner Welt ist alles möglich. „Man“ kann es schaffen. Für viele andere Welten ist es unmöglich, sich zu behaupten. Ganz einfach, weil mit komplett anderen Maßstäben gemessen wird. Ich muss nur auf meine Playlist hören, um das zu merken.

Denn direkt nach Nate57 ist „Unperfekt“ gekommen. Ebenfalls Rap, der Rapper heißt Maeckes, gehört zu den Orsons, genauer gesagt ist das sogar ein Titel vom aktuellen Album. Es geht um Liebe, darum, dass Maeckes sich fragt, warum es jemanden gibt, der dazu fähig ist, ihn zu lieben. Ihm fallen lauter gute Gründe dagegen ein.

„ich zeig‘ nicht gern Gefühle,
nicht mal, wenn ich betrunken bin, da schmeiß‘ ich gerne Stühle“

Das ist konkrete Gewalt. Ein besoffener Typ, der im Club randaliert.(Nichts für Ungut, Maeckes, bin trotzdem großer Fan, hey!). Aber ich will auch nur eine Person sehen, die diese Zeile gehört hat und jemals aktiv Angst davor hatte, Maeckes zu begegnen. Eine Angst, oder ablehnende Haltung meinetwegen, die man hat/hätte, würde diese Zeile von Nate57 kommen. Da wäre diese Zeile, das ist jetzt meine Unterstellung, ja, dann wäre der Kontext, die Art, wie du, ich, wir das wahrnehmen, viel krasser durchdrungen von dem konkreten Anteil an Gewalt, der da mitschwingt. Weil es gut passt. Ein ‚Ausländer‘ mehr, der ausflippt. Haben wir ja schon immer gewusst. Rappt Maeckes die Zeile, dann, na ja, dann ist er halt nicht fähig, seine Emotionen klar auszudrücken.

10 Antworten zu “Ganz einfach degradiert”

  1. Döner KeRap sagt:

    Der eine sagt: ich habe ein Recht aggressiv zu sein, und lebe es aus, der andere findet es selber doof aggressiv zu sein. Kleiner Unterschied? Im Betrunkenen Zustand hätte ich vor Maeckes auch Angst. Und asuch nüchtern hätte ich kerin Intetesse ihn kennenzulernen.
    1+1 = 2: die Leute in der Kneipe rücken natürlich wegen Radsismus ab, nicht etwa wegen des aggressiven Gehabes. Armes Opfer.

    Warum intelligente Leute keinen Quali schaffen wäre weiterer Ausführung wert, ist für Aussenstehende nicht offensichtlich. Welchen Vorteil haben Lehrer, Schüler um den Quasli zu bringen?

    Übrigens wirst Du selten jemanden finden der Dich ermutigt Deine Träume zu verwirklichen, egal welcher Volksgruppierung Du angehörst.

    • hakantee sagt:

      Klar. In einem Text, in dem detailliert steht, dass A gesagt wird, ne, passt schon, mach keinen Quali und B stattdessen, mach unbedingt weiter, ist der Kommentar: Das passiert ohnehin selten.

      • Döner KeRap sagt:

        Ich dachte da eher an die Arzthelferinnen (ehrlich, es gibt schlechtere Ideen). Und das mit dem Quali musst Du echt mal erklären, konnte weiter keine Info dazu finden.

        • Anna sagt:

          Kein Quali-Beispiel, aber ähnlich: Deutschrussischen Eltern in meinem Bekanntenkreis wurde gesagt, sie sollten sich über die Realschulempfehlung ihres Sohnes freuen. Entgegneten: „Aber von den Noten her könnte er doch auf’s Gymnasium….?“ Lehrer: „Jaja, aber… also…. Realschule ist doch auch gut.“ Ich wüsste nicht, welchen Vorteil diese schlechtere Empfehlung für diesen konkreten Lehrer hätte haben können. Die schlechtere Empfehlung ausgesprochen haben er und seine Kolleg/innen trotzdem.

          • hakantee sagt:

            Das ist das Quali-Beispiel.
            Mir wurde z.B. auch empfohlen, erst mal auf die Hauptschule zu gehen und dann, wenn ich gut genug bin, solle ich auf’s Gymnasium.

          • Döner KeRap sagt:

            Und wie funktioniert der Handel Deutschnote gegen Quali? Wenn so mit Noten geschachert wird (verzichte auf den Quali, dann geb ich DIr eine bessere Note in Deutsch) wäre das denke ich schon ein Skandal der einen Lehrer auch mal den Job kosten könnte.

          • hakantee sagt:

            Wie gesagt. Ich kann nur sagen, dass es in diesem Fall ganz klar so war. Und dass der Typ dann keinen Quali gemacht hat, genau aus dem Grund.

          • hakantee sagt:

            ich verstehe nicht genau, worauf du hinauswillst. ob es einen lehrer auch mal den job kosten kann, interessiert mich ja an der stelle nicht. dass es ein arschloch-move ist, das ist auch klar. ich sage nur, dass das halt so passiert ist.

          • Döner KeRap sagt:

            Das Die Schullaufbahn von der Laune irgendwelcher Lehrer abhängen könnte ist auf jeden Fall sehr fragwürdig. Es ist unklar ob die Lehrer überhaupt irgendwelche Erkenntnisse dazu haben (also Untersuchungen warum wer auf welche Schule gehen sollte), oder ob das alles reines Bauchgefühl ist – neben den groben Notenrichtlinien (siehe z.B http://www.note1plus.de/4-UeZeugnis.htm ). Da scheint es (nach meinen Google-Erkenntnissen) einige Eltern zu verwirren daß nur die Noten in Deutsch und Mathe (und evtl. Sachkunde) ausschlaggebend sind, nicht das ganze Zeugnis. Was ich mitbekomme ist daß auch einigen Eltern ziemlich egal ist wie die Schullaufbahn ihrer Kinder verläuft, diese Kinder sind dann doppelt aufgeschmissen – ansonsten könnte man ja sagen, Scheiss auf die Meinung der Lehrer (vermutlich eine ohnehin sehr verbreitete Meinung).

            Mein Kommentar bezog sich ansonsten wie gesagt eher auf das „obere Ende“, Selbstverwirklichung, Ambition, Träume, nicht auf das untere Ende (Quali oder gar nix). Ich bemängele am Schulsystem allgemein daß es meiner Meinung nach nicht zur Selbständigkeit erzieht, sondern brave Angestellte und Arbeiter hervorbringen soll – d.h. es wird sicher niemanden ermutigen Künstler oder sowas zu werden, sondern eben eher Arzthelfer oder Bankangestellter. Unabhängig von der Volksgruppe.

            Also was hätten die Arzthelferinnen sonst werden sollen: Ärztinnen? Das wäre natürlich schon krass sie so zu unterschätzen – denke Arzthelferin wäre auch eher die Wahl für Realschüler?. Aber es gibt auch Millionen von Deutschen die nicht studieren und Verkäuferinnen oder sowas werden, von daher finde ich das blosse Vorhandensein der Empfehlung „Arzthelferin“ noch nicht als diskriminierend. Ansonsten scheint mir Arzthelferin von allen Ausbildungsberufen noch auf der anspruchsvolleren Seite zu sein, also jedenfalls klingt das für mich nicht nach „ey Du bist doch doof, werd Arzthelferin“.

          • Döner KeRap sagt:

            (Noch Anmerkung: um Ärztin zu werden gibt es auch ziemlich klare Notenvorgaben, war jedenfalls früher so, 1er Notenschnitt im Abi und Medizinerprüfunge – oder man musste zum Studieren ins Ausland gehen, was aber einige Initiative erfordert).