Und G’tt sah, dass es gut war

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Stephen Coles

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen.

Als es mir bewusst wurde, bekam ich es mit der Angst zu tun. Diese Gedanken mussten fehlgeleitet und diese Gefühle falsch sein. Ich musste mich in mir selbst irren. Was in mir vorging, kam mir sinn- und ziellos vor. Homosexualität war zunächst nichts, was ich in mein eigenes Selbst zu integrieren wusste, denn es schien sich nicht mit dem zu vertragen, was mich ausmacht, jeden Teil von mir durchdringt und mich glücklich stimmt: mein Judentum. Es mag pathetisch klingen, aber wenn jeder Mensch etwas hat, das ihn antreibt, gute Arbeit zu vollbringen und ein guter Mensch zu sein, dann ist es bei mir eben das. Doch als ich heranwuchs, traten eben jene Gedanken und Gefühle auf, die mir dieses besondere Etwas wegzunehmen drohten – so dachte ich.

Warum?

Das Judentum kennt 613 Gebote und Verbote. Sie sollen das Leben eines Juden regeln, indem G’tt sozusagen Zugriff auf jeden Bereich des eigenen Seins gewährt wird: wie andere Menschen zu behandeln sind, wie die Umwelt zu achten ist, wie gegessen, wie sich gekleidet wird und so fort. Diese 613 Pflichten mitsamt ihren Auslegungen lassen keine Frage unbeantwortet, keinen Präzedenzfall unbedacht. Es gibt nicht immer genau eine Antwort auf eine Frage; genauer gesagt gibt es meistens mehrere Antworten auf ein und dieselbe Frage und allzu oft Gegen- oder weiterführende Fragen. Es gibt schwarzbehütete Herren, die ihren Lebtag in Lehrhäusern verbringen und dem Pfad aus Fragen, Antworten und Gedankenspielen folgen.

Eine klitzekleine Rückschau in die Geschichte, oder:
Es sind doch immer die Anderen!

Wenn es nun um Homosexualität geht, muss man sich ein paar Dinge bewusst machen: das Judentum ist die älteste monotheistische Religion und stammt aus der Bronzezeit, also aus einer Zeit, als von den alten Griechen, geschweige denn den Römern noch nichts zu ahnen war. Und geographisch betrachtet entstammt das Judentum der Wüste. Es hat sich in einer äußerst konfliktreichen Region entwickelt und stand unter dem wechselnden Einfluss der Kanaaniter, Ägypter, Babylonier, Perser, Hellenen und Römer, die alle ihre Spuren im Land, in der Kultur und der Religion hinterließen. Das heißt nicht, dass ständig Traditionen der anderen Zivilisationen übernommen wurden, oft oder gar meistens wurden die Praktiken der Anderen verboten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Judentum zu den Kulturen gehört, die Homosexualität als Bestandteil einer fremden Gruppe betrachten. Im christlichen Europa und später in den USA standen Juden immer wieder unter Verdacht, die Homosexualität zu befördern (so etwas geschieht, wenn Menschen wie Hirschfeld, Milk und Butler zum Club gehören), die Sowjets machten wie Islamisten heute den Westen dafür verantwortlich und in manchen Staaten Afrikas werden gern die alten Kolonialherren der Einschleppung homosexueller Anwandlungen bezichtigt.

Für die Israeliten waren es die homosexuellen Sitten der Kanaaniter und Ägypter, später dann natürlich der Hellenen (deren Blüte einer akzeptierten homophilen Kultur natürlich völlig übertrieben und missverstanden wird), die es abzulehnen galt. Die Sitten wurden bei bestimmten Kulten beobachtet, sicherlich nicht in Form zwischenmenschlicher Beziehungen. Daraus entwickelte sich womöglich die Ablehnung von Homosexualität als rituelle Praxis. Homosexuelle Handlungen werden im jüdischen Religionsgesetz noch heute im Grunde als ritueller Verstoß aufgefasst, nicht als unmoralisches Verhalten (im Gegensatz etwa zu Christentum und Islam). Es mag Rabbiner geben, die das anders sehen, und Forscher, die den Aspekt mit den fremden Kulten anders betrachten – geschenkt –, und beide Male hat es mit der Tatsache zu tun, dass nicht nur Homosexualität zu jeder Zeit und an jedem Ort auftritt, sondern auch Homophobie. Denn natürlich verschiebt Homophobie den Blick vom Ritus auf die Moral in den Augen so mancher Rabbiner und gewiss müssen nicht erst Andere Homosexualität in welcher Form auch immer vorleben, damit man selbst homophob wird.

Nun sagt die Torah, der Quell der 613 Pflichten, an gleich zwei Stellen, dass ein Mann nicht neben einem anderen Mann liegen möge, denn das sei Toevah – ein Gräuel (ein furchtbares deutsches Wort). Toevah beschreibt etwas, das der Ordnung – ich sage: rituellen Ordnung – harsch widerspricht. Und laut Torah sind das auch Verstöße gegen die Speisegesetze, unlauteres Maßmessen oder falscher Stolz.

Die unendlichen Weiten der Bibel –
absolut eindeutig, relativ vielsagend

Das zweifache Verbot von sexuellen Verbindungen zwischen zwei Männern entstammt übrigens einer Reihe von Verboten, die Ehebruch verhüten sollen. Aufgelistet wird, welche Verbindung ein (verheirateter) Mann nicht eingehen dürfe. Betrachtet man das in diesem Kontext, könnte man das Verbot also auch so verstehen, dass nur ein mit einer Frau verheirateter Mann nicht die Ehe brechen möge, indem er mit einem anderen Mann schläft. Vielleicht mag es ja gar bedeuten, dass es besser wäre, wenn ein (homosexueller) Mann erst gar nicht heiratet, damit er derlei einer Frau gar nicht antun könne; es mag also so etwas wie ein indirektes Okay für Homosexualität sein. Klingt historisch abwegig? Durchaus; aber wenn es um die Interpretation von Gesetzen geht, kommt es auf die logischen argumentativen Verknüpfungen an (es wird also nicht gänzlich beliebig), die auch gern um zwei Ecken vollführt werden dürfen und bei denen auch irgendwelche Kontexte außer Acht gelassen werden dürfen. Die absolute Wahrheit kann ich nicht daraus fassen; wer könnte mich darin auch bestätigen, dass ich wirklich richtig liege (einen Papst kennt das Judentum nicht)? Das ist die Freiheit der Exegese. Bei der Interpretation eines heiligen Textes lese ich nicht hinein, ich hole aus all dem, was G’tt darin angelegt hat, heraus.

Aber als ich heranwuchs, wusste ich das nicht. Da war in Sachen Homosexualität das in meinem Kopf, was wohl bei den meisten Heranwachsenden ist: das hat mit mir nichts zu tun und so will ich nicht sein. Und in meinem jüdischen Kopf, der sehr genau um das doppelte Verbot wusste, kam dazu: und ein Jude darf und kann das nicht sein.

Nun, an der Faktizität, dass ich schwul bin, änderte das selbstredend nichts. Und so fürchtete ich das Dilemma: entweder jüdisch oder schwul – beides geht nicht. Selbstverständlich kann man sein Jüdischsein nicht aufgeben; aber es zu praktizieren stand wirklich auf dem Spiel. Das kann auch jeder mit anderem religiösen Hintergrund nachvollziehen: die Entscheidung ist universell, denn die meisten jungen Homosexuellen sehen sich von ihrer Religion verstoßen (de facto gibt es keine etablierte Religion, die traditionell Homosexualität erlaubt; die Ausnahmen sind alle moderne, zeitgenössische Abzweigungen, Gruppierungen). Dass aus diesem Trauma der regelrechten Verstoßung durch die eigene Religion (gerade oft in Form der religiösen Eltern, sonstigen Verwandten oder der Freunde) bei vielen auch eine antireligiöse, antiklerikale Haltung erwächst, ist verständlich.

Wissen, dass andere wissen, oder:
Es gibt nichts Neues unter der Sonne

Ich brauchte Rat; vor allem aber musste ich mich mitteilen. Also sprach ich mit der Person, die mein erster Freund werden sollte, mit meinem damaligen Rabbi und mit meiner Großmutter (in der Reihenfolge).

Mein Freund in spe war nahezu seit Anbeginn seines Selbst geoutet, es war ihm – wie er nicht müde wurde zu betonen – seit er sich zurückerinnern kann, bewusst, dass er schwul ist. Seine Familie hat es ebenso immer gewusst und akzeptiert; seine Eltern lieben ihn bedingungslos (ich glaubte manches Mal sogar, seine Mutter wäre traurig, wäre ihr Sohn heterosexuell). Und seine Eltern sind auch jüdisch. Einerseits war das beruhigend für mich, andererseits hatte mein Freund in spe so eher wenig Verständnis dafür, dass ich in meiner Lage ein Dilemma sah. Er sagte immer wieder, mir könnten doch irgendwelche hartherzigen Leute egal sein, all diese Heuchler, die ein so großes Problem aus der Homosexualität machen würden, aber gleichzeitig nicht koscheres Fleisch essen oder am Schabbat mit dem Auto zur Synagoge fahren; das sei ja schließlich auch verboten.

Aber darum ging es mir gar nicht. Ich wollte mal eine eigene Familie; das wusste ich genau. Eine Frau und Kinder. Das stand nun auf dem Spiel. Und schlimmer noch: der Gedanke, dass mein bloßes Sein mich für G’tt nicht liebenswürdig erscheinen lassen könnte, brach mir das Herz. Das mag nun für jeden Atheisten idiotisch klingen, aber ich hatte nie eine intensivere, innigere Beziehung zu jemand anderem als zu G’tt. Die große Selbstverständlichkeit und Vertrautheit in meinem Leben; abstrakt und greifbar zugleich.

Vor dem Gesetz

Wenn sich jemand also am ehesten mit meinen Sorgen auskannte, dann mein Rabbi. Er ist mittlerweile leider verstorben und war ein sehr orthodoxer, überaus herausragender und weiser Mann. Ich war furchtbar aufgeregt und offenbarte mich erst nach langem Hin und Her. Ich schüttete ihm all meine Sorgen und Ängste aus. Da sagte er – in etwa – zu mir: „Levi, ich kenne dich nun schon eine ganze Weile und ich weiß, dass du ein guter Mensch und ein guter Jude bist. Um wie viel mehr also weiß das G’tt! Es gibt nichts, weshalb er dich nicht lieben sollte. Er hat dir nun eine ganz bestimmte Eigenschaft gegeben. Ich weiß nicht, warum. Manche würden von einer Qualität sprechen, Andere von einer Aufgabe und wieder Andere sogar von einem Joch. Das ist wohl eine Frage der Betrachtung und der Handhabung. Und ich bin mir sicher, dass – so wie ich dich kenne – du die passende Betrachtung finden wirst. Unter der Voraussetzung, dass du damit im Einklang mit deinen Mitmenschen, mit G’tt und mit dir selbst sein kannst. Ich vertraue dir da.“

Nach diesen Worten war ich beruhigter und fürchtete nicht mehr die Verstoßung von G’tt oder der Gemeinde. Doch irgendwie waren die Worte zu vage.

Offenbarung

Also ging ich zur weisesten und wundervollsten Person, die ich kenne: meine Großmutter. Ich offenbarte mich nun ihr, erzählte alles. Meine Oma nahm ihre Brille ab, lächelte und nahm mich in den Arm. „Glaubst du, G’tt hat ein Problem mit dir?“, fragte sie. Ich verneinte. „Und der Rabbi?“, fragte sie weiter. Ich verneinte erneut. „Nun“, sprach sie weiter, „ich auch nicht. Aber am wichtigsten ist, dass du darin kein Problem siehst. Da gibt es nämlich keins.“ Sie umarmte mich nochmals, fester und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Eine Frage der Betrachtung, hatte mein Rabbi gesagt. Die Erkenntnis: wie alles Teil dessen ist, ist auch Homosexualität ein Teil meines Judentums.

Es gab kein Problem, hatte meine Oma gesagt. Sie hatte Recht.

Als mir das bewusst wurde, bekam ich es mit der Angst zu tun. Denn nun hieß es: leben.

2 Antworten zu “Und G’tt sah, dass es gut war”

  1. Ein Freund sagt:

    „Es gab kein Problem, hatte meine Oma gesagt. Sie hatte Recht.“

    Wenn mehr Menschen wären wie deine Oma, wäre die Welt sicher verständnisvoller. Alles Gute weiterhin!

  2. Conny sagt:

    Wenn Worte meine Sprache wären… Könnte ich jetzt passende finden!
    Es ist schön, dass es Dich gibt! Genau so, wie Du bist!