Plenty that needs to be done – Alan Turing und warum wir ihn kennen sollten

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Leo Reynolds

Inhaltswarnung: Im folgenden Text geht es auch um Suizid.

Am vergangenen Wochenende saß ich in einem kleinen Theater in London und sah ein bewegendes Musical über Alan Turing. “Schuld” – im positivsten Sinne – daran war: Stephen Fry.



Ich habe das Gefühl, man ist – mittlerweile – sehr stolz auf Turing in Großbritiannien. Beim genaueren Hinsehen gibt es aber mitunter Schwierigkeiten, zu beziffern, was denn nun genau Turings Verdienste waren. Beim Versuch, dies meinen Musical-Gefährt_innen zu erklären, kam auch ich etwas ins Schwimmen. Auch wenn das Turingjahr bereits 2012 war, lohnt es sich, Turings Geschichte noch einmal zu erzählen.

1912 in London geboren, verbrachte Turing grosse Teile seiner Kindheit in Internaten, die die Eltern regelmässig über den schlampigen, nachlässigen, aber mathematisch überaus begabten Alan aufklärten. Er hatte Probleme mit dem an den Schulen beliebten Mannschaftssportarten und war eher ein Außenseiter. Seine Lehrer beschwerten sich mitunter dass er “unter Vernachlässigung seiner elementaren Aufgaben meist höhere Mathematik betrieb”. 1931 begann er in Cambridge Mathematik zu studieren.

Berechenbarkeit

An der Uni interessierte sich Turing für die Arbeiten von Kurt Gödel und David Hilbert. Gödel bewies zu dieser Zeit, dass mathematische Systeme, die Hilbert gerne makellos konstruiert hätte, immer einen “toten Winkel” haben. Eine Stelle, die in etwa das mathematische Äquivalent zu “Der nächste Satz ist falsch. Der vorhergehende Satz ist wahr.” ist.

Dass die Mathematik aber nicht nur inhärent unvollständig oder widersprüchlich, sondern mitunter noch nicht mal entscheidbar ist, ob etwas bewiesen werden kann: diesen Umstand – das Entscheidungsproblem – betrachtete Turing näher in seiner Arbeit “On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem”.

Um zu zeigen, dass nicht berechenbar ist, ob ein Problem lösbar ist, konstruierte er als Gedankenexperiment eine universelle Maschine, die alles, was berechenbar ist, auch berechnen kann – die (mittlerweile) sogenannte Turingmaschine. Ein Formalismus, der nicht nur die Unlösbarkeit des Entscheidungsproblems beweisbar machte, sondern – quasi nebenbei – auch das theoretische Fundament für moderne Computer legte.

Bletchley Park

Im zweiten Weltkrieg wurde Turing Teil eines Teams von “Station X” in Bletchley Park. Er arbeitete zusammen mit anderen daran, die Verschlüsselung der deutschen Enigma Maschinen zu brechen. Dazu wurden nach dem Vorbild polnischer Kryptographen Maschinen gebaut, die Schwächen in der Verschlüsselung ausnutzten und innerhalb von Minuten durch “ausprobieren” verschiedenster Kombinationen die Nachrichten entschlüsseln konnten. Zu den Hochzeiten entschlüsselten die “Bombe” Maschinen 4000 Militärnachrichten am Tag (der Name stammt, so ein Mythos, vom polnischen Vorläufer und bezieht sich auf die „Eisbombe“ – die zum essen!). Turings Kollege Irving Jihn Good meinte später: “I won’t say that what Turing did made us win the war, but I daresay we might have lost it without him.” Und Churchill sagte gar, die Kryptograph_innen in Bletchley Park hätten den Krieg um zwei Jahre verkürzt und unzählige Leben gerettet.

Maschinen, die denken

„No, I’m not interested in developing a powerful brain. All I’m after is just a mediocre brain, something like the President of the American Telephone and Telegraph Company.“, soll Turing mal gesagt haben. Natürlich in der Kantine des AT&T Konkurrenten Bell Labs. In der Tat war die Idee der denkenden Maschine, des Elektronengehirn, immer ein Faszinosum für ihn. Er war sich sicher, dass Maschinen eines Tages menschliches Denken so gut nachahmen können, dass sie vom Original nicht mehr unterscheidbar wären. Als Meßinstrument für diesen Zustand ersann er den sogenannten Turing Test. Ein Mensch kommunziert dabei textuell mit zwei Partnern. Einer von beiden ist ein anderer Mensch, der andere ist ein Computer, den es zu identifizieren gilt. Kann der Computer nach mehreren Tests nicht mehr statistisch vom Menschen unterschieden werden, gilt der Test als bestanden.

Und in der Tat gibt es mittlerweile beeindruckende Fortschritte bei der Simulation eines menschlichen Gegenüber. Inwieweit das allerdings als “Denken” gewertet werden kann, ist eine andere Frage.

Es gibt noch viel zu tun

Turing hielt in Akademikerkreisen seine Homosexualität nicht geheim, zumindest, soweit das in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Großbritannien möglich war. Sein Ritterorden und sein gesellschaftlicher Stand machten es zumindest möglich, seine Sexualität am Campus nicht komplett verleugnen zu müssen, wenn man Autobiographien glauben darf.

Das änderte sich allerdings, als ihm 1952 von einem Geliebten ein Hemd, einige Fischmesser, eine Hose, ein Kompaß und ein Rasierapparat gestohlen wurden. Er ging zur Polizei und berichtete dort ehrlich über die Beziehung, die er zum Verdächtigten hatte. Statt des Diebstahls verfolgte die Polizei daraufhin Turings “Gross Indecency”, seine “grobe Sittenlosigkeit”. Ein Brief, mit dem Turing eigentlich für seine Rechte streiten wollte, wurde ihm als Geständnis ausgelegt. Verurteilt für seine homosexuelle Beziehung stellte man ihn vor die Wahl zwischen zwei Jahren Gefängnis oder der “chemischen Kastration”.

Turing entschied sich für die Hormonbehandlung mit einem Östrogenpräperat. Die Folge waren Impotenz, Vergrößerung der Brustdrüsen und Depressionen. Er verlor seine “security clearence” beim Militär, und auch seine wissenschaftliche Karriere litt: Schon vor dem Prozess schrieb er einem Mathematiker-Kollegen, er mache sich Sorgen, dass in Zukunft gelte “Turing believes machines think – Turing lies with men – therefore machines do not think.” und unterzeichnete mit “Yours in distress, Alan”.

1954 starb Alan Turing an einer Cyanidvergfitung, kurz vor seinem 42. Geburtstag. Selbstmord mit einem vergifteten Apfel – Turing hatte eine Vorliebe für Disneys Schneewitchen – gilt heute als wahrscheinlichste Erklärung.

Alan Turings viel zu früher Tod und die grausamen Gesetze und gesellschaftlichen Normen, in deren Zeichen er steht, erscheinen angesichts seines Genies besonders tragisch. Seinetwegen, doch auch wegen vieler anderen Frauen und Männer, ob nun Genie oder nicht, sollten wir nicht vergessen, welchen Repressionen Menschen für ihre Liebe und Sexualität vor noch gar nicht allzu langer Zeit auch in Europa ausgesetzt waren – nicht zuletzt, weil es auch heute noch Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit, Vorurteile und Homophobie gibt. Der Visionär Turing sollte nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinne recht behalten, als er sagte:

“We can only see a short distance ahead, but we can see plenty there that needs to be done.”

Das Turing-Musical “The Universal Machine” lief leider nur für kurze Zeit und wird wohl ziemlich sicher nicht in Deutschland zu sehen sein. Aber es gibt die Hoffnung, dass Turing bald noch einem sehr viel größeren Publikum bekannt wird: offenbar ist ein großes Biopic in Planung, für das niemand geringeres als der Nerd-Brite der Stunde, Benedict Cumberbatch, im Gespräch ist.

9 Antworten zu “Plenty that needs to be done – Alan Turing und warum wir ihn kennen sollten”

  1. dentaku sagt:

    Wirklich schön geschrieben, die Kurzbiographie.

  2. daniel doublevé sagt:

    danke für diesen artikel und das aufbereiten dieser interessanten und gleichsam traurigen biographie.

  3. Marian Funk sagt:

    auch wenn es das musical vielleicht nicht nach deutschland schafft, gibt es dennoch ein sehr gut geschriebenes theaterstück zu alan turings leben: „alan turing – breaking the code“. das ist übrigens auch verfilmt worden. und den film gibts bei youtube…

  4. Thomas sagt:

    <3 dafür! Ich habe 2012 einen etwas ausführlicheren Artikel über AT geschrieben. Sein Ende ist mir schon damals sehr nahe gegangen.

  5. Joscha Bach sagt:

    Allerdings: möglicherweise stimmt das mit dem Selbstmord doch nicht: der Apfel wurde nicht auf Cyanid getestet, er war anscheinend guter Dinge, und er hinterließ auf seinem Schreibtisch keinen Abschiedsbrief, sondern eine To-Do-Liste für die nächste Woche.

    http://www.patheos.com/blogs/godandthemachine/2012/06/turings-death-not-a-suicide/

    Selbstverständlich ist es trotzdem traurig und verurteilenswert, dass Turing für seine sexuelle Orientierung massiven Repressalien ausgesetzt war.

    • map sagt:

      Richtig. Eine abschliessende Erkenntnis dazu wird es vermutlich nicht geben. Teilweise nehmen Biografen ja sogar an, Turing hätte seinen Selbstmord verschleiert um seiner Mutter die Möglichkeit zu geben an einen Unfall glauben zu können.

  6. Kurt Gödel sagt:

    Eine (nicht so) kleine Berichtigung: „Dass die Mathematik aber nicht nur inhärent unvollständig oder widersprüchlich, sondern mitunter noch nicht mal entscheidbar ist.“ Wären die Axiome

    • map sagt:

      Da hast du natürlich recht. Es ist schon eine nicht ganz triviale Sache, Turings Forschung verkürzt und nachvollziehbar, aber nicht falsch wiederzugeben. Sorry.

  7. tobybear sagt:

    Tja, so komm ich nach einiger Zeit wieder zu dem Artikel von map zurück. Ich sitze nämlich gerade im oben erwähnten Bletchley Park (ca. 80 km nördlich von London) vor der auf dem Artikelbild zu sehenden Statue (und neben Turings Teddybären) und freu mich, dass die Brüten ihn anscheinend wirklich immer mehr würdigen, nach Jahren der Ignoranz und Verachtung. Und Bletchley Park ist für jeden, der sich für die essentielle Rolle der Codebreakers im 2. Weltkrieg oder auch nur für die Geschichte von Computern (Colossus!) und Kryptografie interessiert eine echte Offenbarung, echt toll gemacht. Wobei das Hauptmuseum erst 2020 fertig wird, aber heute schon ist die Menge an Exponaten und Infos kaum an einem Tag zu schaffen! Besonders gefallen hat mir auch die Würdigung der unzähligen Frauen (über die Hälfte der fast 12.000 Menschen die gegen Kriegsende dort gearbeitet haben waren weiblich), und die mit den Maschinen und Technik oft weit besser umgehen konnten als die Männer :)