„Wenn Du es lange genug durchhältst, kannst du eines Tages dein Haupt erheben.“

Foto , by © 2013 polyband Medien GmbH

Schülerinnen, etwa zwischen neun und fünfzehn Jahre alt, sitzen auf einer Treppe und vergleichen kichernd ihre zentimeterlangen Narben an Armen, Beinen, Händen. Übertrumpfen einander mit der Anzahl an Stichen, die beim Nähen der Wunde nötig waren und dass sie dafür natürlich noch keine Betäubung bekommen hätten. Es ist nur eine von vielen Szenen, die im Dokumentarfilm “Drachenmädchen” sprachlos machen, schockieren und berühren. An der riesigen Kung-Fu-Schule “Shaolin Tagou” in der zentralchinesischen Provinz Henan – mit 26.000 Schüler_innen größte Kung-Fu-Schule Chinas – gehören sie zum Alltag. Aufstehen um 5:40 Uhr, trainieren, trainieren, trainieren – bis zum Schlafengehen oder auch mal zum Knochenbruch. Das Essen ist lausig, im Winter ist es bitterkalt, Heizungen gibt es nicht. Rund ein Drittel der Schüler_innen sind Mädchen. Auf sie konzentriert sich Regisseur Inigio Westmeier in seiner Dokumentation, genauer auf drei Protagonistinnen, die er halb zufällig bei Recherchereisen und über ein Casting an der Schule selbst gefunden hat: die neunjähirge Xin Chenxi, Teil des “Elite-Teams”, die fünfzehnjärige Boxerin Chen Xi und die siebzehnjährige Huang Luolan, die von der Schule geflohen ist.

Westmeiers Weg zu diesem ungewöhnlichen Ort, bis zum endgültigen Film, war ein langer. Neun Jahre hat er insgesamt daran gearbeitet, obwohl der Hauptteil des Drehs nur einige Wochen gedauert hat. Das ist dem Film nicht anzumerken. So nah, wie er seinen Heldinnen kommt, haben die Zuschauer_innen das Gefühl, er hätte monatelang mit ihnen gelebt. Wohl aber ist spürbar, wie wichtig ihm das Thema ist, wie sehr er sich dabei bemüht, niemanden vorzuführen, zu belehren oder eine Beurteilung abzugeben. Er lässt Menschen und Bilder für sich sprechen, die er in einer restriktiven Welt mit zurückhaltender Beharrlichkeit gewonnen hat. Wann immer es hieß, er könne diese und jene Aufnahmen nicht machen, so stellten sich diese Grenzen doch oft bei genauerem Nachfragen oder auch Übertreten als flexibel heraus, berichtet Westmeier von den Dreharbeiten. Trotz ständiger Anwesenheit von Aufsichtspersonen, die kontrollieren sollten, was die Mädchen im Interview über die Schule sagen, wirken ihre Aussagen offen und frei. Zwischen den angeeigneten Leistungs-Idealen zeigen sie einen differenzierten Blick auf ihre Situation: Sie wissen darum und leiden darunter, dass ihre Eltern von ihnen hohe Leistung erwarten und davon auch mal Zuneigung abhängig machen. Aber auch, dass diese, oft aus einfachsten Verhältnissen stammend und nur mühsam das Schulgeld aufbringend, eine bessere Zukunft für sie wollen. Die Mädchen sind einsam und verletzlich, stark und nachdenklich, albern und ehrgeizig zugleich. Trotz der fremden, abgeriegelten Welt der Kampfsportschule, sind ihre Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte uns durch Westmeiers Kamera ganz nah.

Kontrastiert werden die Interviews mit Bildern, die an Kung-Fu-Filme zumindest erinnern – von Trainingseinheiten, Wettkämpfen und dem wöchentlichen Massenapell, bei dem alle Schüler_innen auf einem riesigen Platz ihre Übungen exerzieren, von Westmeier mit aufwändigen Kran-Aufnahmen eingefangen. Hier zeigt sich das Ziel der Ausbildung, das Streben nach Leistung, Einordung in ein Kollektiv, bei gleichzeitigem individuellen Streben nach der Spitze. Artikuliert wird dies durch Aussagen des Schulleiters, der vor allem propagandistische Phrasen von sich gibt – ganz im Gegensatz zum Leiter des benachbarten Shaolin-Klosters, das wegen der Namenswahl der Schule mit dieser im Streit ist. So scheint es zumindest auf den ersten Blick: die philosophischen Sätze des Geistlichen über die “echte Kampfkunst”, rund um Meditation, Kontrolle, innere Einkehr – sie wirken kaum weniger phrasenhaft als die des Schuldirektors, der Leistung und Kollektivität beschwört. Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Institutionen. So zweifelhaft die Anforderungen der Ausbildung auch sein mögen: in der Schule dürfen Mädchen sie zumindest genauso antreten wie Jungen. Im Shaolin-Kloster sieht man keine Frauen.

Doch auch wenn Eindrücke und Wertungen nahe liegen, der Film überlässt es den Zuschauer_innen, diese zu formulieren (insofern ist dies auch weniger eine Rezension als eine Interpretation und Lobpreisung – meine). Das Leben der Mädchen (und Jungen) ist unmenschlich hart. Aber gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Chancen sie ansonsten im Leben haben. Welche Chancen in entleerten Dörfern voll alter Menschen, aus denen die Eltern fortgehen mussten, um Arbeit zu finden. In einer Gesellschaft, die Mädchen und Frauen immer noch als Menschen 2. Klasse sieht, sehen die Eltern und auch die Kinder eine Chance im Kampfsport, Respekt und Auskommen zu erlangen und eine bessere Stellung in der Gesellschaft – etwa beim Militär oder der Polizei. Wie hoch der Preis dafür ist, steht außer Frage. Dass er zu hoch ist, auch das lässt sich den Aussagen der Eltern entnehmen, die zwischen schlechtem Gewissen, die Kindheit ihrer Kinder zu verpassen, dem Wunsch nach Status und  der eigenen Überarbeitung aufgerieben werden. Trotzdem sind dies Konflikte, die kein eindeutiges Urteil erlauben. Die Mädchen seien von ihren Eltern “abgeschoben” worden, las ich in einer Rezension. In manchen Fällen ist das sicher so. Gleichzeitig darf nicht einfach in Frage gestellt werden, dass auch diese Eltern das Beste für ihre Kinder wollen. Und nicht nur sie müssen sich fragen, was das eigentlich ist.

Ein solches Thema hätte dazu verführen können, voyeuristisch, verkitschend oder westlich-überheblich zu agieren. Das ganze Gegenteil ist der Fall, denn die wichtigste Zutat von Westmeiers Dokumentarfilm ist: Respekt. Respektvoll, authentisch, differenziert. Wie ihr seht, möchte ich den Film geradezu mit einschlägigen Adjektiven überschütten. Noch lieber wäre es mir aber, ihr schaut ihn euch selbst an. Der Film kam zwar bereits am 28.02. in die Kinos, wird aber sicher noch in so manchem Programmkino oder auf Festivals zu sehen sein. Und das lohnt sich, denn “Drachenmädchen” ist ein weiterer Beweis dafür, dass Dokumentarfilme auch ins Kino gehören. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Westmeier ursprünglich Kameramann und dies seinen Bildern anzumerken ist.

Wo der Film noch zu sehen ist, könnt ihr zum Beispiel bei www.google.de/movies oder bei kino-zeit.de rausfinden (ich empfehle die Version in Mandarin mit deutschen Untertiteln, aber es gibt auch eine synchronisierte Fassung).

7 Antworten zu “„Wenn Du es lange genug durchhältst, kannst du eines Tages dein Haupt erheben.“”

  1. Arne sagt:

    Ohwei, da fange ich ja beim Trailer schon an zu heulen.

    Werde ich den Film wohl auch als Download kaufen können?

    • Auto_focus sagt:

      Gute Frage! Ich weiß bis jetzt auch nicht mehr, als was auf der Seite http://www.drachenmaedchen-derfilm.de/ steht… Bis jetzt ist es wohl noch am realistischsten, nach Kinos / Festivals in der Umgebung zu suchen, lief ja wie gesagt erst am 28.02. an. Aber ich würde davon ausgehen (ich hoffe es zumindest!), dass es den irgendwann auch auf DVD und/oder als Download gibt, da er recht viel Resonanz bekommen hat.

    • q____q sagt:

      Aber bitte Download (DRM-frei, is ja klar), ich habe nicht vor in diesem Leben nochmal DVDs zu kaufen (die Qualität ist mies und letztendlich isses nur Plastikmüll).

  2. Robin Urban sagt:

    Ich finde es gut, dass mal angesprochen wird, dass der Buddhismus, der immer so als tollste aller Religionen angepriesen wird, im Kern auch sexistisch ist. Mönche (zumindest manche, auch hier gibt es viele Strömungen) dürfen Frauen nicht mal berühren.

    Dennoch, dieser Drill… es mag gleichberechtigt sein, wenn Mädchen genauso wie Jungen gequält werden, aber das oberste Ziel sollte doch sein, die Qual ganz abzuschaffen.

    Das nur als erste Gedanken zu der Rezension, ich habe den Film noch nicht gesehen.

    • Auto_focus sagt:

      Nun, ich wollte damit sicher keine Gesamtaussage über den Buddhismus treffen (dazu kenne ich mich auch zu wenig aus). Es ist nur interessant, wie der Mönch ein wenig versucht, die „gute“, d.h. traditionelle Kampfkunst der „schlechten“, d.h. leistungsorientierten, modernen der Schule gegenüberzustellen, dabei aber solche Leerstellen wie das Thema Frauen bleiben – dass das unmenschliche Training der Schule eine quasi kapitalistische Ausbeutung ist, bleibt dabei außer Frage.

  3. jfml sagt:

    Wer Interesse dran hat: auf Arte läuft grade eine Reportage über Chinas z. Zt. einzige Kung Fu-Schule für Mädchen/Frauen:

    „360° – Geo Reportage –Kung-Fu: Chinas neue Kämpferinnen“
    (www.arte.tv/guide/de/034935-000/360-geo-reportage)