Es gibt kein virtuelles Leben im realen

Foto , CC BY 2.0 , by R_grandmorin

Schwule Jugend in einer Kleinstadt? Einzige Rettung: das Internet. Ein langer, autobiographischer Text, zu dem es kein tl;dr gibt.

Meinen ersten Kontakt zum Internet hatte ich 2001 (oder 2003? Die Jahre verschwimmen schon leicht in meiner Erinnerung). Es war jedenfalls ein so genanntes ‚Internetcafé‘ an meinem Gymnasium. Man musste sich bei der Schulsekretärin einen Schlüssel abholen, sich auf eine Liste eintragen und dann konnte man einen Raum betreten, in dem abgeranzte PCs standen und in dem man ja nicht essen und trinken durfte. Das Projekt wurde vom Informatiklehrer der Schule betreut und war gefühlt so ziemlich das einzige, was er je für die Schüler_innen tat. Jedenfalls begannen einige Klassenkamerad_innen und ich dort regelmäßig unsere Freistunden zu verbringen. Die erste eigene e-Mail-Adresse bei GMX einrichten war das Größte. Sich die neusten Knopfschnipsel von TV Total anschauen auch, genauso wie Fanseiten von Harry Potter und Fanforen unserer Lieblingsvideospiele besuchen. Wir begannen sogar irgendwann damit die Pausen, die nur eine Viertelstunde lang waren, in diesem Raum zu verbringen. Der war durch die Architektur der Schule fast komplett verglast, sodass alle anderen Schüler_innen uns sahen und sich dachten: Ach, schaut mal, die Nerds. Wir waren aber nie wirklich Nerds, wir haben nur versucht mit diesem neuen, aufregenden Internet zurecht zu kommen, denn es gab ja niemanden, der sich damit wirklich auskannte – zumindest in meiner Umgebung. Oft saßen wir aufgeregt vor der URL-Seite und wussten gar nicht, was wir eingeben sollten. E-Mails haben wir natürlich auch nie bekommen, aber das war egal.

Bald wurde dieser Computerraum geschlossen. Wegen Vandalismus und auch, weil die Schule besseres mit den Räumlichkeiten zu tun hatte. Und somit war meine Verbindung zum Internet gekappt, es blieb ein kurzes Abenteuer. Es dauerte zwei oder drei Jahre, bis wir dann zu Hause Internet hatten, auf dem PC, auf dem ich sonst immer nur Pinball gespielt habe.

Wir hatten schon relativ früh PCs zu hause, ich erinnere mich noch gut an MS DOS, an eine riesige fixe Maus mit Kugel in der Mitte, den kreischenden Nadeldrucker: eine Welt aus schmutziggrauem Plastik. Dazu meine eigene Diskette, auf der ich stolz meine Paint-Kunstwerke abspeicherte und später auch meine ersten Geschichten, die natürlich streng geheim waren. Ich hütete diese Diskette natürlich wie meinen Augapfel und habe sie auch heute noch. Ich erinnere mich noch an „Komm, lass uns Gorillabass spielen!“, weil der Dateiname des Spiels GORILLA.bas hieß – oder auch Death Tank. Ich erinnere mich, wie mein Vater mir eintrichterte, dass ich nicht auf .exe-Dateien klicken durfte – das sei zu gefährlich. Ich hatte natürlich die Tiere im Kopf und es erschien mir nur logisch, dass angeklickte Echsen gefährlich für mich und den PC sein könnten.

Später kam dann ein Familien-PC mit Windows 3.1 – mit Farbbildschirm! Und ich brachte meine Wochenenden damit zu Cid Meiers Colonization zu spielen (was an diesem Spiel problematisch sein könnte, habe ich natürlich nicht gemerkt). Meine Brüder hatten auch irgendwann eigene PCs, der eine sogar mit eigenem CD-ROM-Laufwerk, was mir damals heilig war. Wenn meine Brüder nicht da waren, schlich ich mich in ihre Zimmer und spielte Sim City 2000, Worms 2 oder seltsame Spiele wie Crime Fighter. Wenn sie da waren, schaute ich ihnen dabei zu, wie sie DOOM, Duke Nukem, aber natürlich auch Age of Empires, Warcraft und das heißgeliebte Starcraft spielten. Letztere spielte ich auch manchmal, aber nur mit Cheats, alles andere war mir zu aufregend. Dann kam ein neuer Familien-PC: Windows XP und erstmal Ton durch eigene Boxen! Es kamen Moorhuhn, Black & White und Empire Earth hinzu. Und dann kam das Internet.

Die Box mit allem drum und dran kam von der Telekom – und niemanden interessierte es. Sie lag Monate bei uns herum und der Anschluss wurde bezahlt – aber niemand wollte es installieren. Irgendwann rafften sich mein Vater und mein ältester Bruder jedoch dazu auf. Meine ersten Anlaufstellen waren die, die ich schon durch meinen ‚First Contact‘ kannte und eine neue Mailadresse bei GMX war schnell gemacht. Ich fand ein Zelda-Fanforum und war sofort fasziniert: Wenn ich etwas im Kopf hatte, dann war es enzyklopädisches Wissen über alle The-Legend-of-Zelda-Teile. Eine Freundin zeigte mir dann ICQ und die Nummern der Menschen aus dem Forum waren schnell ausgetauscht. Das Posten im Forum ergänzte sich durch das ständige und penetrante »oh-oh« von ICQ. Dazu kam irgendwann MSN. Und IRC. Und Webchats. Kommunikation auf allen Kanälen und zwar mit Menschen, mit denen ich irgendwann via Skype quatschte und sie bei MSN über die Webcam sah. Spiele waren auf einmal ziemlich uninteressant geworden.

Ich hatte nicht viele Freund_innen in der Schule und war auch schnell Opfer von Mobbing geworden – vor allem für mein Äußeres. Ich komme zudem aus einer Kleinstadt, wo es nichts gab und aus der man so leicht auch nicht raus kam. In meiner Pubertät war ich sehr unsicher und wollte nur so angepasst, cool und unauffällig wie möglich sein. Vielleicht, damit niemand merkt, dass etwas „mit mir nicht stimmt“. Und obwohl meine Familie immer für mich da war, war es keine schöne Pubertät – aber für wen ist die schon schön. Diese Menschen im Internet waren jedoch anders. Sie wussten nicht, wie ich aussehe und sie waren immer für mich da, wenn ich online ging. Was dazu führte, dass ich aus der Schule kam und sofort an den PC ging, der in unserem Esszimmer stand. Ich war dort nicht mehr wegzubekommen – egal, was meine Eltern versuchten.

Es waren Menschen, die mich damals so akzeptierten, wie ich war. Ich habe mich auch zuerst online geoutet und das positive Feedback, das ich bekam, ermutigte mich, das auch bei meiner Familie und in der Schule zu tun. Auch meine ersten Schritte in der schwulen Community tat ich nicht in einer Schwulenbar oder auf einer queeren Party – sondern online bei Gayromeo. Ich war damals ziemlich verunsichert von mir selbst und meiner Sexualität, daher fand ich das ganz wunderbar: Ich konnte Kontakt zu anderen Schwulen selbst aufnehmen, die Dosis jedoch immer selbst bestimmen. Aber es ist auch nicht so, als hätte es damals nennenswerte Alternativen für mich gegeben.

Ich veränderte mich stark. Ich wurde selbstbewusster, ließ mir nichts mehr gefallen. Färbte mir die Haare bunt und trug seltsame Klamotten, hörte Musik und las Bücher, die ich aus dem Internet und meine Klassenkamerad_innen gar nicht kannten – und das verunsicherte wiederum sie. Ich verbrachte meine Pausen damit zu in der Ecke zu sitzen, Musik zu hören oder zu lesen und einen möglichst angepissten Gesichtsausdruck zu haben, damit ich ja in Ruhe gelassen werde und nach der Schule schnell nach Hause und online gehen konnte. Zu meinen echten Freund_innen.

Auch meine Eltern waren verunsichert. Einerseits wussten sie wie unglücklich ich war und freuten sich, dass ich online Freund_innen gefunden hatte, sogar mit ihnen telefonierte und zu ihnen durch ganz Deutschland fuhr. Andererseits hatten sie aber auch Angst vor fremden Menschen, die mir böses wollten; vor dem ‚bösen Internet‘, einer Welt, die sie nicht kannten und in der sie mir weder helfen noch folgen konnten. Sie wählten den für mich einzig richtigen Weg: Sie ließen sich so weit wie möglich erklären, was ich online machte – und nahmen mich ernst. Sie hatten allerdings auch kaum Druckmittel, denn meine Schulnoten wurden besser statt schlechter, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass ich insgesamt einfach glücklicher war. Außerdem: Hätten sie mir in dieser Phase das Internet gekappt, hätte ich wahrscheinlich das Haus angezündet.

Zum 18. Geburtstag bekam ich meinen eigenen Laptop. Begründung: „Damit du nicht mehr hier unten rumhängst und wir auch mal ins Internet können.“ Als ich dann nach dem Abitur für das Studium auszog, veränderte sich sowieso alles, da ich mir dann aussuchen konnte, mit wem ich rumhing. Liebschaften und Beziehungen bekamen völlig neue Dimensionen. Deswegen kann ich die It-gets-better-Kampagne sehr gut nachvollziehen, denn: It really does! Aber davor hat mir das Internet das Leben gerettet. Ich habe in meinem Kaff Menschen aus ganz Deutschland aus ganz verschiedenen Lebenswirklichkeiten getroffen, durch einen relativ kleinen Bildschirm hindurch. Sie standen mir bei und haben meinen Horizont erweitert, sie zeigten mir: Wenn du erstmal da raus bist, wartet so viel auf dich. Wenn du erstmal da raus bist, wird vieles besser.

Online ist oft von ‚real life‘ die Rede und ‚Get a life!‘ ist wohl als ernste Beleidigung gemeint. Ich habe das nie verstanden, denn mein ‚Leben‘ fand online statt und ich wollte mir auch kein neues suchen. Dieses Leben war für mich realer als das ‚real life‘ und das ist sogar teilweise noch heute so. Im Internet fand ich Freund_innen, neue Hobbys, alle meine bisherigen Beziehungen und das Gefühl, kein Außenseiter mehr zu sein. Mein virtuelles Leben ist also mein reales Leben und umgekehrt. Es mag sein, dass andere diese Unterscheidung benötigen – vielleicht um sich über andere lustig zu machen – ich jedoch nicht. Denn für mich gibt es kein virtuelles Leben im realen. Und ich bin mir sicher, dass ich mit dieser Auffassung nicht allein bin.

12 Antworten zu “Es gibt kein virtuelles Leben im realen”

  1. Svantje sagt:

    Ein schöner Artikel…ich musste oft schmunzeln bei deinen Beschreibungen über die alten Spiele und die Ermahnungen der Eltern, über die heissgeliebten Disketten (meine besitze ich auch noch), da fühlte ich mich doch etwas nostalgisch. :D

  2. Anne Wizorek sagt:

    Du bist nicht allein. <3

  3. Cutter sagt:

    Nicht auf .exe klicke – wehe^^

  4. map sagt:

    Gorillabass! <3
    Danke für den schönen Text.

  5. Vincent sagt:

    Ein schöner Artikel. Ich glaube der Satz „Mein virtuelles Leben ist also mein reales Leben und umgekehrt.“ hat seit ein paar Jahren durch mobiles Internet und permanentes Onlinesein nochmals an Sprengkraft gewonnen. Früher war man ja immer stationär an einen Ort oder ein Gerät gebunden, um online zu sein musste man ins Kellerlein. Heute ist das aber gar nicht mehr nötig und das Internet so selbstverständlich wie die Tagesschau oder die Riesenschlange im Supermarkt kurz vor Feierabend.

  6. Miriam sagt:

    Diesen Text möchte ich ausdrucken und der Person unter die Nase reiben, die mir kürzlich eine unglaublich unverschämte Postkarte schickte, auf der stand „Gab es ein Leben vor Facebook?“. Dazu dann noch ein Text, der irgendwas von „Familie als reale wurzeln im Gegensatz zu nicht-haltgebenden virtuellen Beziehungen“ faselte. Danke!

  7. Robin Urban sagt:

    Kann ich einfach nur so dermaßen nachvollziehen. War bei mir fast genauso.

  8. Samya sagt:

    Ein wundervoller Text! Ich glaube, ganz genau so ging es vielen. Vielen Dank für’s Schreiben!

  9. Thomas sagt:

    Lieber Daniel, wie großartig! Vielen Dank. Zur Unterscheidung von „echtem“ und „virtuellem“ Leben: Aus genau diesem Grund ziehe ich diese Trennlinie nicht mehr. Das Netz gehört zu meinem Leben, wie Bücher, Waldspaziergänge, meine Arbeit und die Zeit auf’m Klo. Vielleicht erlebe ich es noch, dass das alle kapieren.

  10. Kalu sagt:

    Es ist erstaunlich wie oft ich mich in dem Text wieder finde, nahezu in jedem Abschnitt. Und es ist schön Texte zu lesen die Leuten klar machen können das man diese zwei Welten nicht mehr von einander trennen sollte.

  11. M. sagt:

    ich habe ja eh den verdacht, daß „get a life“ in diesem kontext vor allem deshalb so große popularität erlangte, weil des autors generation die erste war, der diese möglichkeiten offen standen. ich erspar uns jetzt mal das geseiere um „digital natives“. aber es ist ein anscheinend typisches schema der meisten „alten“, auf große umwälzungen erst einmal skeptisch zu reagieren. nun ist skepsis an sich nichts schlechtes. aber mensch sollte immer differenziert schauen, ob es sich um eine jugendliche mode handelt, die nur einen haarschnitt oder kleidungsstil betrifft, oder um etwas ernst zu nehmendes.

    was haben nicht alle gelacht, als die ersten großkotze ihre betonziegelhandys durch die gegend trugen. und wahrscheinlich war das gelächter genau so groß, als die ersten autos unterwegs waren oder die ersten kinos tonfilme zeigten. auch als einer der „alten“ sollte man den nachfolgenden generationen immer das recht zugestehen, etwas zu verändern. und daß diese veränderungen auch zum besseren sein können.

    wenn ich auf die entwicklung des internetzes zurückschaue, dann blicke ich ziemlich neidvoll auf die leute, die nur drei/vier jahre jünger sind als ich. ich bin selber schwul, musste diese erkenntnis in der tiefsten provinz auskämpfen und meine pubertät wäre sicher anders verlaufen, wenn ich diese virtuell-realen freund_innen von irgendwo her gehabt hätte.

    immerhin hab ich inzwischen viele gute freunde dieser art. unter anderem einen, der viiiiieeeeeeel von mir weiß, den ich aber erst zwei mal „real“ getroffen habe (seit 2007).

    abschließend: ich weiß nicht, ob ihr „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco kennt. das stück ist ganz eindeutig auf das dritte reich gemünzt. und diese intention ist auch richtig und wichtig und ich will sie in keiner weise relativieren. aber dreht spaßeshalber alles mal um und münzt es auf handys, facebook, internet.

    wollt ihr in diesen fällen nicht auch lieber nashörner sein?

  12. marathus sagt:

    In meinem Heimatdorf leben 746 Menschen. Auf der Dorfhomepage nennt man das „rund 800“, denn rund klingt gesund. Der nächste Bahnhof ist mit dem Auto eine halbe Stunde entfernt, mit dem Bus eine ganze. Try to believe it’s getting better.
    Ich war immer schon mehr eckig als rund. Ich erinnere mich, dass meine Eltern mich vor eckigen Augen warnten, sollte ich nicht bald aufhören, an der elektrisierenden Scheibe des Fernsehers zu kleben. Aus dem Fernseher wurde der Computer, eckig blieb eckig – warum auch nicht? Das Internet war für mich das, und ich muss es so pathetisch ausdrücken, Tor zur Welt. Zur literarischen, schwulen, vernetzten, musikalischen, komischen, schönen, leckeren, kritischen, queeren Welt.
    Jetzt weiß ich was es gibt, ein bisschen davon habe ich mir sogar angesehen. Gelatinefreie Panna Cotta mit Himbeersoße auf einem sonnigen Balkon in Hannover mit meinem Freund bei Musik von O Emperor. Das kam noch nie vor, ist aber möglich. Danke. Da hast Du wahre Phrasen gefaselt.