„Klein-Istanbul“ liegt außerhalb von Deutschland

Foto , CC BY 2.0 , by suargun

In München gibt es ein Stadtviertel, das sie „Klein-Istanbul“ nennen. Zehn Prozent Striplokale, sechzig Prozent türkische (während der Jahrzehnte kamen hinzu: arabische, kurdische, afghanische, bosnische) Supermärkte, dreißig Prozent egaler Mischmasch aus Hotels, Dönerläden, Reisebüros, Neun-Euro-Friseuren, türkischen Banken und, ich glaube, genau ein HipHop-Store.

Dass dieses Viertel „Klein-Istanbul“ genannt wird, hat – vermute ich – historische Gründe. Die Türken waren die ersten in diesem Viertel. Der Hauptbahnhof ist tendenziell eine abgefuckte Gegend, also sind die Mietpreise eher niedrig. Neben dem normalen Tagesgeschäft bildet sich die Community Strukturen, die sie braucht. Und darum ist es für Leute, die das Viertel nicht kennen, auf den ersten Blick überraschend, wenn am Freitagmittag plötzlich eine Hundertschaft von Menschen aus genau einer Tür strömt. Ist halt das Freitagsgebet. Wenn man das weiß, kann man das abnicken. Ansonsten ist das wohl verwirrend.

Gestern, nach einer Veranstaltung, in der es auch über dieses Viertel ging: Eine der zentralen Fragen war „Wie viel Abgrenzung verträgt die Stadt?“ In einer Diskussionsrunde meldet sich ein Mann und sagt viele, viele Sätze. Hier seine Top-2-Zitate:

„Wir reden immer über die Migranten, aber nie mit ihnen. Warum kommen die nicht her? Frage an die Runde: Sind hier Migranten im Raum?“

Er hat durch die Runde geschaut, ich kann nicht sagen, ob er mich gesehen hat. Auf jeden Fall habe ich mich gemeldet, weil ich wissen wollte, was passiert. Er hat es nicht wahrgenommen. Denn, und das zeigt seine nächster Monolog, ihm ging es absolut nicht darum, auf seine Frage eine Antwort zu erhalten. Das war nur ein Vorbau für folgendes:

„Die (die Türken, Anm. d. Türken) müssten der Stadt sagen, wir brauchen eine andere Landwehrstraße, die wird unseren Bedürfnissen nicht gerecht. Das ist ja eher ein Basar hier.“

Nehmen wir den Satz und alles, was darin enthalten ist, mal ernst.

„Die“

Hier geht es schon los. Wenn er von einem „die“ spricht, dann ist das vor allem eins: Er grenzt sich ab. Er ist nicht Teil dieses Viertels, er hat keine Ahnung von den Menschen, die dort leben, keine Beziehung. Obwohl er gefordert hat, dass man ja nicht über Migranten reden solle, sondern mit ihnen, hat er in seiner freien Zeit anscheinend keine Lust gehabt oder ist nicht auf die Idee gekommen, um zu sagen „Hey, ich bin der Hans*, wer bist Du?“. Hätte er das getan, wäre da irgendeine Interaktion gewesen. Dann wäre es auch kein „die“ mehr für ihn, sondern ein „Wir“, weil er einen Bezug zu diesen Menschen hat. Zum Supermarkt, aus dem er seine Auberginen kauft, zu was auch immer. Aber nein, es bleibt ein „die“ für ihn. Unverstanden und fern, eine andere Welt. Und da ja alle von „Klein-Istanbul“ sprechen, ist es, dank vorherrschendem Gesellschaftsgefühl, erlaubt, sich hier – ja, klar, auch schön und toll und billiges Gemüse – fremd zu fühlen. „Klein-Istanbul“ liegt nicht in Deutschland.

*Er hieß nicht Hans, keine Sorge, ich schütze meine Rassisten!

„müssten der Stadt sagen“

Hans denkt: Da stimmt was nicht. Und er, Hans, hat es bemerkt. Dass sich das Viertel in den Jahrzehnten stark verändert hat, die Migranten also sehr wohl für einen Wandel sorgen, kann er erfolgreich ignorieren. Und klar haben die Migranten Probleme mit der Stadtplanung, weil die Wohnräume weggekürzt und Hotels hingeklatscht werden. Aber das meint Hans ja gar nicht. Hans ist der festen Überzeugung, dass er wüsste, was das eigentliche Problem der Migranten ist und wie es zu lösen wäre. Er wüsste, was zu tun ist, wenn er in Position der Migranten wäre. Ob das Problem für „die“ tatsächlich existiert, das weiß er nicht, er hat ja nie mit „denen“ geredet.

„wir brauchen eine andere Landwehrstraße, die wird unseren Bedürfnissen nicht gerecht. Das ist ja eher ein Basar hier.“

Ich mache das jetzt mal wie Hans (=ich habe nicht mit ihm geredet, aber spekuliere wild). Hans hätte gerne, dass der Name „Klein-Istanbul“ auch mehr in der Optik zu sehen ist. Hässliche Bürogebäude und runtergekommene Außenfassaden signalisieren eher Armut als den mystischen Orient. Wäre doch schön, wenn es in München eine zweite Fußgängerzone gäbe. Mitten im Hauptbahnhof. Wenn alles vor seiner Tür wuselt und er auch ganz authentisch in München um den Preis eines Armbands feilschen kann, dann spart er sich 200 Euro und einen Zweistunden-Flug nach Istanbul. Ist ja auch ökologisch alles super dann; mit dem kleinen Exoten-Zoo direkt vor seiner Haustür. Das wäre doch i-de-al.

Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, dass Hans von einem Basar spricht.

Jedenfalls, ich hab gut gelacht.

7 Antworten zu “„Klein-Istanbul“ liegt außerhalb von Deutschland”

  1. Ich mag dieses Eck gerade deshalb, weil es wie so viele andere in der Stadt eben nicht so gschleckt ist. Gehe ich am Sonntag durch die Goethe- oder Landwehstraße habe ich den seltenen Eindruck, in einer Großstadt zu leben, weil dort einfach etwas los ist, während sich in der Fußgängerzone zur gleichen Zeit nur ein paar Touristen verirren.

  2. Annika sagt:

    =) Dort ist es, als ob man durch die Szene von einem Tatortdreh läuft. Ich fands authentisch und echt. Echt ist gut. Sogar sehr. Danke.

  3. kaltmamsell sagt:

    Nicht zu vergessen die Banken: Ich wohne da (na ja, um ein Eck), das Sparbuch mit meiner Wohnungskaution liegt bei einer Bank in der Landwehrstraße. Die brauchte vor kurzem etwas von mir, also ging ich erstmals persönlich hin. Und auch hier Klein-Istanbul: Im kleinen Schalterraum saßen türkisch plaudernde Menschen, zum ersten Mal im Leben begrüßte ein Bank-Schalterangestellter mich mit Handschlag, bot mir etwas zu Trinken an.
    Fremd? Aber ja! So fremd wie der Profifußballer in Bogenhausen, der Szenegastronom an der Sonnenstraße, die Obstverkäuferin am Sendlinger Tor. Und gerade deshalb spannend, gerade deshalb Wir.

  4. Klara sagt:

    eben! das macht eine Großstadt doch aus: dass es eben viele kleine Städte in einer sind. Jede ein bisschen anders, jedes Viertel ein eigener Geruch, eine eigene Atmosphäre, ein eigenes Leben. Was mich am meisten an diesem *Die* stolpern lässt, ist, wie sichtbar die Sache mit der Diskriminierung mal wieder ist. So offensichtlich, so alltäglich, dass wir sie schon fast nicht mehr wahrnehmen. Und da fragt noch jemand, warum die Sexismus Debatte, die im Kern auch eine Diskriminierungs-Debatte ist, so nötig ist. ….

  5. Samya sagt:

    Sehr schöner Artikel und sehr schön geschrieben! Bitte mehr davon :).

  6. Florian Kemmer sagt:

    Ich meide das Viertel sehr oft, das liegt aber hauptsächlich an der miserablen Parksituation, für die eigentlich ganz München bekannt ist. Wenn ich zumeinem Stammfriseur

    Friseure Sendling fahre, dann muss ich da durch. Und oft halte ich an und hole mir leckeres Obst oder gehe in den orientalischen Lebensmittelladen. Dann bin ich immer wieder beeindruckt von den Kulturen, die hier aufeinander treffen und froh, dass München „anderskulturelle“ Viertel hat. Ich genieße das. Das Münchner Motto lautet doch: Mia san Mia, ich sage Mia san mia und mia samma multikulturell!