Unerhört

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by edans

tl;dr: Dieses Journalisten-Ding führt dazu, dass ich meinen Freunden nicht einfach zuhören kann.

Ich lasse ihn reden. Er gestikuliert wild mit den Händen, wackelt von links nach rechts und grinst dabei – vermutlich verpasse ich einen verdammt gut vorgetragenen Witz von M. Aber seitdem er vom „Koks-Taxi“ gesprochen hat, höre ich nur noch sporadisch zu. Es ist Mai 2012, an der Journalistenschule arbeiten wir gerade an unserem Abschluss-Magazin. Ich hätte gerne mehr Ideen für Artikel, abseitigen Kram, absurdes Leben in 8000 Zeichen zusammengefasst. Eine Fahrt in einem Koks-Taxi, das wäre doch ganz nett, nicht? Ich überlege mir einen packenden Einstieg, wie das alles ablaufen könnte, was im Text stehen müsste. Währenddessen spricht M. weiter, irgendwas mit „Und seitdem hat er irre Angst“.

„Koks-Taxi?“, habe ich ihn gefragt.

„Ja, Koks-Taxi. Du rufst den Typen an, sagst, dass du dich treffen willst und wo du bist. Fünfzehn Minuten später fährt ein kleiner Smart vorbei, ein BMW, ein Opel Corsa, es sind immer andere Autos, du machst die Tür auf, steigst ein und fährst einmal um den Block. Du gibst ihm das Geld, er gibt dir eine zerknüllte Alufolie mit weißen Punkten drin. Du steigst aus, du hast Koks. Koks-Taxi.“

„Wieso Taxi? Haben die einen Taxameter? Haben die einen Mindestbestellwert? ‚Puh, wo bist Du? In Charlottenburg? Ne, sorry, für ein Gramm Koks fahr ich doch nicht einmal quer durch die Stadt, lohnt sich nicht’ oder wie läuft das ab?“

„Ne, die kommen immer. Nur, wenn Du zu viel bestellen willst (…) Grenzen (…) hat mal erlebt (…) und dann (…) seitdem hat er irre Angst.“

***

Ich kriege gleich ein Gramm Koks-To-Go. Der kleine Smart hält neben mir, der Fahrer beugt sich über die Kupplung und wirft die Beifahrertür in meine Richtung. Ich steige ein. Das Geld liegt mehrfach zusammen gefaltet in meiner geballten Faust. Ich mache das jetzt wie Opa, habe ich beschlossen. Wenn der nicht wollte, dass meine Eltern sehen, wie er mir Geld schenkt, hat er den Schein zusammengefaltet und ihn mir bei der Begrüßung mit dem Daumen in meinen Handteller gedrückt. Aber der Fahrer schaut mich nicht mal an, seine Hände kleben am Lenkrad. Dann halt nicht, Arschloch. Ich setze mich, knalle die Tür zu, der Fahrer setzt den Blinker links und wir fahren Richtung Kottbusser Tor. „Du bist also der Mann mit dem Koks, ja?“ sage ich und er streckt mir seine Hand entgegen.

***

„Hakan?“ – M. bemerkt meine Abwesenheit natürlich. Ich entschuldige mich, Blabla Ausbildung, ich stehe unter Kreativitätsdruck, blabla. Geht gar nicht, ich öde mich selbst an. Es gibt keinen Aus-Schalter mehr, kein „Okay, Feierabend“, kein „Vorbei“. Es gibt immer nur die Haltung, dass die guten Geschichten auf der Straße liegen, auf der Zunge von M. liegen, im Feed-Reader abonniert sind, da draußen sind und sie nur mal jemand aufschreiben müsste. Geht auch alles klar – nur das Abschweifen, abwesend sein, in einem Dialog kurz mal aus dem Gespräch aussteigen, das ist eine Frechheit gegenüber meinen Freunden.

Okay M., lass reden, denke ich mir. Einfach nur reden. Anekdoten erzählen nur für uns, nur für diesen Moment, nur du und ich, und später, wenn wir mit anderen abhängen, zerknüllt irgend jemand eine Alufolie und wir schauen uns an und lachen. „Ach, lange Geschichte“ antworten wir dann oder aber du beginnst von vorne und erzählst die Geschichte auch hier vor versammelter Mannschaft, kein Ding. Aber jetzt erst mal an diesen Punkt kommen, ohne dass ich abschweife. Wir reden über Auslandsreisen, ich sage, dass es schwierig ist für mich. Ich habe einen türkischen Pass, ich muss für viele Länder erst einmal ein Visum beantragen. Mit einem deutschen Pass würde sich das Problem nicht stellen, aber ich habe trotzdem keine Lust. Das heißt natürlich, dass ich auch ins Militär müsste.

„Und was machst du dann?“ fragt M. „Du wirst doch eingezogen“. Türkei ist Alle-Männer-müssen-dienen-Land. Man kann Geld zahlen und den Dienst auf eine symbolische Dauer von einem Monat reduzieren. Aber: Ich muss da hin.
„Naja, das entscheide ich, wenn ich 38 bin“, sage ich. Bis 38 kann man das hinauszögern, dann ist eine Entscheidung fällig.
„Du könntest natürlich auch so tun, als ob Du schwul wärst“, sagt M.
„Bitte?“ Mehr will ich dazu eigentlich nicht sagen.
„Schwul zu sein gilt in der Türkei als Krankheit. Wenn Du denen beweist, dass du schwul bist, dann wirst du freigestellt.“
„Und wie genau beweise ich das?“, frage ich.
„Naja, mit Beweismaterial. Mit Fotos oder Videos.“

Wir reden weiter, ich glaube ihm nicht, also googlen wir uns durch, finden mehrere Artikel zum Thema, darunter diesen hier im Spiegel. Dort steht: „In Ankara hätten sich mittlerweile männliche Prostituierte darauf spezialisiert, sich als Partner für die Sex-Videos von Wehrdienstverweigerern anzubieten.“ Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich male mir das einfach mal aus. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe: „Du wolltest ja sowieso immer schon nach Ankara.“ M. spricht und erzählt von türkischen Freunden und von extremen Befragungen durch Offiziere: „Die haben (…) und dann (…) zu krass.“ Währenddessen ziehe ich durch die Nacht mit einem jungen Türken und auf der Suche nach diesen Prostituierten.

***

„Hamid, mit welchem Spielzeug hast du als Kind gespielt? Hamid, magst du Fußball? Hamid, was für ein Parfüm benutzt du? Hamid, ziehst du dir Frauenkleider an? Hamid, wann hattest du das erste Mal Analverkehr? Hamid, wir glauben dir nicht, kannst du uns bitte Videos bringen, die beweisen, dass du homosexuell bist? Hamid, denk’ dran, auf den Fotos musst du passiv sein, sonst glauben wir dir nicht. In den Dörfern wird oft gefickt, Hamid, wenn die Männer und Frauen getrennt werden. Was sollen die Männer dann machen, Hamid, denk‘ doch mal nach! Passiv musst du sein. Dann hast du Spaß dran. Dann glauben wir dir.“

***

Ich bin schon in der Mitte des Textes, als M. aufsteht und sich eine Zigarette dreht. Ist nur eine „Phase“, sage ich, sorry. Jetzt ist es Februar 2013 und diese Phase will einfach nicht aufhören.

2 Antworten zu “Unerhört”

  1. Martin sagt:

    Koks-Taxi … da habe ich doch letztens was gelesen, in meinen Feed-Reeder…

    Mach kein Militärdienst.
    Auch wenn es nicht vergleichbar ist:
    Habe mich als Freak vom dt. Militär outen lassen, um nicht dienen zu müssen.