Tag X

Foto , by nordwood

[Inhaltshinweis: Krankheit, HIV/Aids]

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Die Autorin des Artikels möchte anonym bleiben.

Nach einer langen Tanznacht in einem Berliner Club gehe ich mit einem Mann nach Hause. Wir sind scharf aufeinander und wollen Sex haben. Schon auf dem Weg die Frage, ob wir es nicht ohne Kondom machen wollen. Ich habe welche dabei. Wollen wir natürlich nicht. Vielleicht hätten schon in diesem Moment meine Alarmglocken angehen sollen oder hätte ich besser auf die gute alte Freundin Intuition hören sollen. Und verschwinden, ganz schnell. Die Geilheit siegte.

Dann sind wir in der Wohnung und es geht zur Sache. Auf die zweite Nummer hätte ich verzichten können. Kondom: gerissen. Sein Sperma: in mir drin und es tropft. Panik. Aufspringen. Ins Bad. Duschen.

Schwangerschaft! HIV! Diese Worte blinken wie fette, rote Warnschilder in meinen Kopf. Dann ist da der Reflex, den Ort des Geschehens so schnell wie möglich verlassen zu wollen, um meine Gedanken ordnen zu können. Aber ich bleibe. Schlafe. Er will nach dem Aufwachen Stunden später weitermachen. Wir könnten ja das erste Kondom, was intakt geblieben ist, nochmals nehmen, sagt er. Langsam wird mir richtig schlecht. Wie viel weiß dieser Mann von Verhütung, wie hält er es sonst damit?

Ich google: Kondomunfall. Am besten sollten wir beide in die Klinik in Schöneberg fahren und einen HIV-Test machen um dann weiter zu sehen, was das für uns bedeutet. Beruhigung bringt die Möglichkeit einer Postexpositionsprophylaxe (PEP): Nach ungeschütztem Sex mit einem HIV-positiven oder möglicherweise HIV-positiven Partner nimmt die andere Person vier Wochen Medikamente, die eigentlich zur HIV-Therapie verwendet werden. So kann mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent eine Ansteckung verhindert werden. Gut. Ich atme kurz auf. Gegen eine ungewollte Schwangerschaft gibt es die Pille danach, zum Glück mittlerweile ohne Rezept.

Nachdem ich mich im Internet kurz belesen habe, rede ich mit dem Typen, berichte ihm von meinen Sorgen und dass wir zusammen ins Krankenhaus fahren sollten. Er beschwört er sei gesund, aber ich würde ihm nun Panik machen, ob ich krank sei. Immerhin scheint er nun in Spuren ein bisschen was von meiner Beunruhigung verstanden zu haben. Aber im nächsten Moment verwirft er das gleich wieder und sagt, von einmal Kondom kaputt könne ich doch so oder so nicht schwanger werden. Ich frage mich: Hat der Typ in seinem Leben irgendwann einmal irgendwas über Verhütung gelernt? Und wieder meine Panik: Was, wenn kaputte Kondome oder ungeschützter Sex zu seinem Alltag gehören?

Ich bin gesund und will es auch bleiben. Diese Aussage beruhigt ihn anscheinend in seiner Panik. Mich aber nicht. 30 Minuten versuche ich ihn davon zu überzeugen, mit mir zusammen ins Krankenhaus für einen HIV-Test zu fahren. Er will nicht. Also mache ich mich alleine auf den Weg.

Die Uhr beginnt zu ticken

Erstmal Kaffee. Dann Freundin anrufen. Das erste Mal weinen und meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Tut so gut. Dann Apotheke: Pille danach, ich nehme sie sofort. Dann nach Hause. Anruf bei der  ärztlichen Beratungshotline für Notfälle meiner Krankenkasse. Die gibt Beruhigung für die Angst vor der Schwangerschaft. Ein Blick in meinen Regelkalender sagt: ich habe zwar gerade sehr fruchtbare Tage, aber ich habe auch die stärkere Pille danach genommen und das sei gut so, sagt die Hotline. Zur PEP konnte die Ärztin am Telefon nicht viel sagen, außer, dass die Therapie eine starke Belastung für den Körper darstelle.

Neun Stunden nach dem Unfall: Krankenhaus Schöneberg, Ambulanz. „One Night Stand“ und „Kondom“ sind wohl Codewörter, ich muss mich erstmal nicht weiter erklären. Nehme Platz nehmen und warte. Warten. Das Gedankenkarussell fährt.

Warum ich, warum war ich so unvorsichtig? Trage ich die Verantwortung? Warum war der Typ so ignorant? Tränen. Wut. Angst.

Dann mein Name. Ein junger Arzt nimmt mich mit und ich schildere was mir in den frühen Morgenstunden passiert ist.

Der Arzt sagt: normalerweise würde ich keine PEP bekommen. Aber da der Typ aus einem so genannten HIV-Hochrisikogebiet kommt– einem Gebiet, in dem statistisch viele Menschen mit dem HI-Virus infiziert sind –, wird sie mir empfohlen und ich nehme dankbar an. Muss auf die Aids-Station des Krankenhauses für die erste Ration Tabletten. Mir schießt die Frage durch den Kopf: werde auch ich dort irgendwann liegen? Ich bekomme die ersten drei von täglich drei Tabletten, morgens eine und abends zwei, im Abstand von 12 Stunden muss ich sie nehmen und das einen Monat lang. Den morgigen Arbeitstag habe ich abgesagt.

Tag 1

Wartezimmer einer Praxis, die sich auf Infektionskrankheiten spezialisiert hat. Um mich herum Alte, Junge, Männer, Frauen. Haben sie HIV? Ist Ihnen auch so ein Scheiß wie mir passiert? Warum sind sie hier? Ich kämpfe mit den Tränen und frage mich, ob ich gesund bin und bleibe.

Der Arzt in der Praxis ist jung und nett. Klärt mich nochmals auf und empfiehlt mir, die PEP zu machen. Meint auch, ich habe bisher alles richtig gemacht, dass ich so schnell in die Klinik gegangen bin und nun bei ihm sitze.

Auch bezüglich der Kosten kann er mich beruhigen. Die 1.500 Euro für die PEP werden von der Kasse übernommen. Ich muss noch ins Labor zur Blutabnahme für einen HIV-Test und für sämtliche andere Geschlechtskrankheiten, die ich eventuell schon vor dem Unfall hatte. Den Vaginalabstrich mache ich auf der Toilette selber. Drei Tage später soll ich nochmals erscheinen, um die Testergebnisse zu besprechen.

Mit dem Rezept in der Hand hole ich mir Tabletten im Wert von gut 1.000 Euro aus der Apotheke. Anscheinend ist aufgrund der Medikamente klar, was mir passiert ist. Die Apothekerin ist super nett und meint auch, ich habe bisher alles richtig gemacht.

Tag 2

Ich lese die Beipackzettel von Truvada und Isentress, meinen Begleitern für die nächsten vier Wochen.

Vor allem die Nebenwirkungen interessieren mich und die haben es in sich. Übelkeit, Durchfall und Schlafstörungen sind noch die kleineren Übel. Leber- und Nierenschäden oder Autoimmunerkrankungen, die Jahre nach der Einnahme auftreten können, schockieren mich noch mehr. Mit einer Freundin mache ich einen Notfallplan: Was ist zu tun, wenn ich plötzlich starke Nebenwirkungen habe und ins Krankenhaus muss? Was mache ich mit meinen Kindern, wer kann mich unterstützen?

Tag 3

Ich habe Bammel vor den Testergebnissen. In den letzten Monaten habe ich angefangen, auf Dates zu gehen, einzig um Sex zu haben. Was, wenn ich mich während meines ziemlich promiskuitiven Lebensstils der vergangenen Monate bereits mit etwas angesteckt habe? Was ist dann zu tun? Von welchen Dates habe ich noch die Nummer? Wie kann ich die anderen erreichen und was sage ich? Äh, Sorry, ich hab HIV, Syphillis, Chlamydien, bitte lass Dich untersuchen? Meine Freundin, mit der ich auch meinen Notfallplan bezüglich der PEP gemacht habe, erklärt sich bereit, diese Anrufe für mich zu übernehmen, falls es soweit kommt.

Ich denke weiter: Wenn ich krank bin, dann hat mich eine andere Person angesteckt. Weiß dieser jemand von seiner Erkrankung? Es geht ja auch nicht nur um das Schlimmste aller Übel, es gibt ja noch so viele andere Geschlechtskrankheiten, die durch Lecken, Blasen, Fingern, Rimming oder bloßen Hautkontakt übertragen werden können.

Ich ärgere mich, ärgere mich über nicht wahrgenommene Verantwortung. Wir wollen frei sein und Sex haben mit wem und wann immer wir wollen. Aber tragen wir dabei auch die angemessene Verantwortung uns selbst gegenüber?

Am Anfang meiner Sex-Datingphase habe ich darauf geachtet: Blasen nur mir Kondom, Lecken-lassen nicht. Die Reaktionen meines jeweiligen Gegenübers waren nicht gerade positiv. Mit Kondom blasen mochte keiner, bedauert wurde ich, weil ich nicht geleckt werden wollte.

Immer wieder schwebte der Satz über den Treffen: „Der andere wird schon nicht krank sein.“ Jetzt frage ich mich: Geben wir damit die Verantwortung für die eigene Gesundheit in die Hände des anderen, meist fremden Gegenübers für eine Nacht nicht zu leichtfertig ab? Wird schon gut gehen scheint hier die Devise zu sein, der ich mich zugegebenermaßen nach den anfänglichen Schlappen, wenn ich das Thema Safer Sex ansprach, auch hingab. Safer Sex in Bezug auf HIV war allerdings immer im Spiel, ein Kondom beim Verkehr mit Penetration war Pflicht. Aber Lecktücher, Kondom beim Blasen? Die Gedanken kreisen, mit welchem der 20 Typen der letzten fünf Monate war ich möglicherweise nicht safe genug?

Tag 4

Testergebnisse: Ich bin bisher gesund. Das heißt, ich nehme als Prophylaxe die PEP, falls mein Partner beim Kondomunfall HIV-positiv war. Ob die wirkt, werde ich in 70 Tagen wissen, ab dem Tag wäre der Virus nachweisbar. Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich lasse mir die Ergebnisse ausdrucken. Der Arzt gibt mir nochmals den Hinweis mit auf den Weg, dass ich in der Zeit der Medikamenteneinnahme auf Safer Sex achten muss. Er meint damit ein Kondom bei der Penetration. Andere Geschlechtskrankheiten kommen nicht zur Sprache.

Tag 5

Safer Sex? Ich beschließe erstmal keinen Sex, keine Dates. Mich auf mich selbst zu konzentrieren. Auch mein Dating-Verhalten hinsichtlich der Sicherheit zu überdenken. Nebenwirkungen der PEP-Therapie habe ich bisher keine, glücklicherweise. Das wird auch so bleiben. Ich fange an zu joggen und zu meditieren, auch um mit dem Warum ich? Bin ich schuld? Was wäre wenn?-Kreislauf in meinem Kopf umgehen zu können.

Tag 25

Nun habe ich die Tabletteneinnahme bald geschafft. Ob sie gewirkt haben, weiß ich in 50 Tagen. Dann erst wäre eine Ansteckung nachweisbar. Ich habe Lust, ich will wieder Sex. Aber welche Verantwortung trage ich? Lieber doch noch 50 Tage warten? Bis ich weiß, ob bei dem Unfall alles gut gegangen ist?

Ich bin bestens informiert über die Ansteckungsmöglichkeiten. Soll ich meine Sexpartner darüber informieren? Will dann überhaupt noch jemand mit mir Sex haben? Gibt es während eines One Night Stands überhaupt den Raum dafür? Spätestens, wenn das Kondom wieder reißen sollte, muss ich doch was sagen. Ich telefoniere mit dem Arzt. Klar, weiter Safer Sex, aber darauf achte ich als Frau wegen einer möglichen Schwangerschaft sowieso.

Er beruhigt mich und sagt wieder: ich habe bis jetzt alles richtig gemacht. Aber bis zum endgültigen Testergebnis in 50 Tagen muss ich warten, erst dann wissen wir endgültig mehr. Vorher könne getestet werden, mit einem PCR-Test, aber auf eigene Kosten von 150 Euro. Ich entscheide mich fürs Warten und gegen den Test. Nicht aber gegen Sex. Ich habe in den kommenden zwei Wochen ein paar Dates und genieße diese auch sehr. Ach, wie gut die Verdrängungsmethode doch klappt… Klar hängt das alles wie ein Damoklesschwert über mir, aber wozu machen wir Safer Sex? Um uns nicht anzustecken. Also vertraue ich darauf, dass das Kondom diese Male nicht reißen wird.

Tag 52

Die letzten Tage haben mein Bewusstsein für meine Situation wieder verschärft. Heute bin ich ziemlich platt. Ich habe eine dicke Erkältung und das in den ersten sonnigen und warmen Tagen des Frühlings. Meine Alarmglocken gehen wieder an, bei meinen großen Recherchen zur PEP und HIV habe ich auch in Foren gelesen, dass mögliche Symptome einer Ansteckung Erkältungsanzeichen, geschwollene Lymphknoten und Nachtschweiß sein können. All das habe ich. Aber gleichzeitig gilt laut Foren auch:  allgemein gültige Symptome im herkömmlichen Sinne wie bei einem Magengeschwür gibt es nicht. Zumindest bin ich wieder gedanklich genau da, wovon ich mich schön weggedacht hatte in den letzten Wochen, nachdem ich die Tabletteneinnahme beenden konnte. Panik, Sorge, Selbstbestrafung.

Es hilft alles nichts, ich muss weiter warten. Noch 23 Tage. Da werden die Ergebnisse besprochen und mein neues Leben, mein Leben nach dem Test beginnt.

Schuldgedanken habe ich. Weinend schreibe ich das hier. Wieso musste mir das passieren, was soll das bedeuten und was macht es mit mir?

Tag 54

Das Warten zermürbt mich. Ich habe das Gefühl und die Hoffnung, wenn ich das endgültige Ergebnis habe, werde ich werde neugeboren, mit einem für mich positiven Ergebnis. Fühle mich wie gelähmt. Als ob ich nichts planen kann bis zum Testergebnis. Wie auf dem Lebensabstellgleis.

Tag 61

Ich fühle mich nicht gut. Die Erkältung will nicht weggehen und ich sehe überall vermeintliche Symptome. Wegen des emotionalen Stresses esse ich sehr wenig, habe ein paar Kilo abgenommen. Schon zwei Personen haben mich gefragt, ob ich wirklich gesund bin, ich sei so dünn. Gewichtsabnahme kann auch eine mögliche Begleiterscheinung einer HIV-Infektion sein. In der Bahn wird eine Studie mit Cannabis für HIV-positive Menschen beworben.

Tag 72

Ich lebe in einem einzigen Widerspruch. Zum einen ist da die Angst vor HIV. Gleichzeitig mache ich sorglose Pläne für die Zeit nach dem Ergebnis. Frage schon Dating-Partner an, ob sie Zeit haben. Zur Sicherheit und zur Ablenkung habe ich auch Freundinnen und Freunde angefragt, ob wir in den kommenden Tagen etwas unternehmen können. Ich habe nicht viele Freundinnen in meine Geschichte eingeweiht. Die wenigen, die es wissen, unterstützen mich natürlich, reden mir Mut zu und dass alles gut gehen wird. Meine Unsicherheit und Panik bleibt. Dabei kann mir niemand helfen.

Tag 74

Das Blut, das mein finales HIV-Testergebnis bestimmen soll, ist beim Arzt. Ich muss noch die Nacht warten und dann weiß ich Bescheid. Die Nacht vor der Blutabnahme habe ich vor Aufregung nur vier Stunden geschlafen. Der Tag der Blutabnahme ist die Hölle, beim Arzt zittere ich. Ich hoffe, diese Nacht gut überstehen zu können. Glücklicherweise begleitet mich morgen ein Freund zum Arzt.

Ich bin nun, nach so vielen Tagen und Warten, einem emotionalen Auf und Ab sondergleichen, auf einmal ganz ruhig. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?

Tag 75

Ich bin gesund. Morgens um halb zehn fällt mir ein Gebirge vom Herzen. Als der Arzt mir mein finales Testergebnis sagt, weiß ich nicht, ob ich lachen, weinen, den Arzt abknutschen soll. Ich bringe nichts raus, außer dass ich emotionalen Stress hatte.

Draußen auf der Straße muss ich erst Mal schreien vor Erleichterung, kann es kaum fassen. Neugeboren.

Jetzt, fast zwei Monate nach diesem letzten Arztbesuch habe ich keine reinen Sex-Dates mit wechselnden Partnern mehr. Ich gehe vorsichtiger an die Sache ran, spreche potentielle Partner auf Tests an. Ich habe aber eine Person, mit der ich mich regelmäßig zum Sex treffe.

Hilfreiche Links

Beratungsportal der Aids-Beratung zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen
profamilia-Informationsseite zu sexuell übertragbaren Krankheiten
profamilia-Informationsseite zu Safer Sex
FAQ zum HIV-Test von der deutschen AIDS-Hilfe
Liste von Gesundheitsämtern
kleinergast-Artikel „Reine Routine“
kleinergast-Artikel „Mein Monat mit Truvada & Kaletra“
kleinergast-Artikel „Diagnose: HIV positiv“

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