Inklusion am Gymnasium – so kann sie gelingen

Foto , by NeONBRAND

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Dominik.

Dominik ist Lehrer für Physik und Philosophie an einem Gymnasium in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Auf seinem Blog “Bildungslücken” schreibt er über den Beruf, den er liebt und die Beobachtungen, die er darin macht. Unlängst schrieb er auf seinem Blog über seine Erfahrungen mit Inklusion an einem Gymnasium. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Version des Artikels. Das ist der erste Teil.


Blog von Dominik @lueckenbildung

Montag Morgen, erste Stunde. Chemie-Unterricht in einer siebten Klasse: Manche Schüler*innen halten Reagenzgläser in den rauschenden Gasbrenner und warten gespannt auf eine chemische Reaktion. Ein paar Schüler*innen sind abgelenkt und reden über ihre Wochenend-Erlebnisse. Eine Schülerin ruft eine Beleidigung quer durch den Raum und wird vom Lehrer ermahnt. Eine reguläre Klasse an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, könnte man meinen.

Der erste Eindruck trügt jedoch – es handelt sich um eine Inklusionsklasse. Neben den Regelschüler*innen lernen in dieser siebten Klasse auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Es gibt Schüler*innen mit Förderschwerpunkt Lernen. Ihnen fällt es schwer zu lesen und komplexe Sachverhalte zu verstehen. Es gibt Schüler*innen mit ADHS, die sich nicht gut konzentrieren können. Und es gibt Schüler*innen mit Asperger-Autismus, für die es eine Herausforderung ist, die Gefühle anderer Menschen zu verstehen. Dazu kommen noch zwei Kinder, die aus Kriegsgebieten nach Deutschland geflüchtet sind und noch dabei sind, Deutsch zu lernen.

Inklusion hilft Kindern dabei,
gesellschaftliche Barrieren zu überwinden

Dass die Heterogenität in der Klasse nicht auf den ersten Blick auffällt, liegt daran, dass die Inklusion in der Klasse immer wieder gut gelingt. So kann man beobachten, wie ein Junge mit den Diagnosen ADHS und Autismus aufopferungsvoll und geduldig einem Jungen aus Syrien die Chemie-Experimente erklärt. Wie sich das erste Liebespaar der Klasse über die Inklusions-Grenzen hinweg bildet. Oder wie bei einer Projektarbeit alle Inklusionskinder wie selbstverständlich in unterschiedlichen Gruppen mit Regelschüler*innen arbeiten, ohne dass die Lehrer*innen einen Beitrag leisten müssen. Inklusion erlaubt es den Schüler*innen, die mehr oder weniger willkürlichen Grenzen zu überwinden, die Erwachsene nicht zuletzt durch das differenzierte Schulsystem gezogen haben.

Solche Erfahrungen lassen mich hoffen, dass Inklusion eine Chance ist, Barrieren in unserer Gesellschaft zu überwinden, ohne dass dabei das fachliche Lernen leiden muss. Natürlich stoßen wir Lehrer*innen auch in dieser Klasse auf Probleme und nicht alles gelingt reibungslos. Aber doch habe ich das Gefühl, dass wir als Lehrer*innen diesen Herausforderungen ähnlich gut begegnen können wie in den Regel-Klassen. Genau diese Normalität des gemeinsamen Lernens macht diese 7. Klasse zu einer Erfolgsgeschichte, denn sie ist das Ziel der Inklusion.

Mein Fazit nach einem halben Jahr Tätigkeit in einer Inklusions-Klasse an einem Gymnasium ist daher: Inklusion kann gelingen. Entscheidend dafür sind aber die organisatorischen Rahmenbedingungen. Insofern möchte ich am Beispiel der oben beschriebenen Klasse vorstellen, welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit Inklusion am Gymnasium funktioniert und inwiefern diese leider in aller Regel nicht erfüllt sind.

Die Klassengröße: Weniger ist mehr

Ich habe vor einer Weile in einem Blog-Beitrag anhand eines fiktiven Oberstufen-Kurses beschrieben, wie groß die Heterogenität in Lerngruppen auch am Gymnasium ist. Schon 30 Schüler*innen zu unterrichten ist eine nahezu unmöglich zu meisternde Herausforderung, wenn man den Anspruch hat, allen gerecht zu werden. Haben dann noch einige einen sonderpädagogischem Förderbedarf, ist das Unterfangen, guten Unterricht für alle zu machen, aussichtslos. Es erleichtert uns die Arbeit deswegen sehr, dass die Integrationsklasse bei uns etwas kleiner ist und nur aus 25 Schüler*innen besteht.

Das Problem: Inklusionsklassen sind oft so groß wie Regelklassen

Die Realität an vielen Schulen sieht aber anders aus: So gaben 2016 bei einer repräsentativen Forsa-Umfrage für das Land Nordrhein-Westfalen 48 Prozent der befragten Lehrer*innen an, dass die Klassengröße nach Beginn der Inklusion nicht reduziert worden sei.

Das liegt auch daran, dass für die Größe von Inklusionsklassen grundsätzlich die gleiche Obergrenze gilt wie für Regelklassen: Diese liegt in diesem Schuljahr in Gymnasien und Gesamtschulen bei 29 beziehungsweise 30. Und diese Kennzahl muss in der Regel auch ausgeschöpft werden – alleine schon, weil in vielen Kommunen Schulplätze fehlen. Expert*innen und Lehrer*innenverbände fordern daher schon lange gesonderte Obergrenzen für Inklusionsklassen. Laut der Website des Kultusministeriums in Nordrhein-Westfalen wird es diese aber auch künftig generell nicht geben.

Ein Grund dafür ist laut der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, dass in Inklusionsklassen die Lehrer*innen regelmäßig in Doppelbesetzung unterrichten. Auch ich unterrichte mit einem Kollegen zusammen: Wir haben uns bewusst dafür entschieden gemeinsam zu unterrichten. Denn wie für viele andere Tätigkeiten gilt auch im Lehrer*innen-Team:

Die Zusammenarbeit geht leichter von der Hand, wenn die Team-Mitglieder gerne zusammen arbeiten und ähnliche pädagogische Ziele verfolgen.

Unterrichten im Tandem ist gut für alle

Die Doppelbesetzung ist in den Inklusionsklassen von besonderer Bedeutung: Die Kinder mit besonderem Förderbedarf brauchen oft je nach Förderschwerpunkt und individuellen Besonderheiten auch besondere Zuwendung. Diese individuelle Betreuung ist natürlich deutlich leichter zu bewerkstelligen, wenn man zu zweit im Klassenraum ist.

Aber auch die Regel-Schüler*innen profitieren stark vom Lehrer*innen-Tandem. Gerade im naturwissenschaftlichen Unterricht ist der Betreuungsbedarf groß: Die Schüler*innen arbeiten häufig selbständig in Experimenten oder Projekten. Diese Arbeitsform sind für Lehrer*innen sehr fordernd, weil sie einen deutlich höheren individuellen Betreuungsaufwand bedeuten: Viele Schüler*innen haben Fragen oder brauchen Unterstützung.

Zu zweit ist es viel einfacher möglich, allen Schüler*innen gerecht zu werden.

Teamarbeit mach den Unterricht aber auch besser: Im Team Unterricht zu planen, erhöht merklich die Kreativität. Die Arbeitsteilung erleichtert es zudem, Aufgaben und Materialien zu entwickeln, die für möglichst jede*n Schüler*in angemessene Herausforderung bieten. Und nicht zuletzt lassen sich Fehler bei der Unterrichtsplanung leichter vermeiden.

Zudem erlaubt die Doppelbesetzung gleichzeitig auch eine genauere Diagnose des Arbeitsverhaltens. Alleine bin ich als Lehrer oft schon mit den Fragen der jungen Menschen in meiner Klasse vollständig ausgelastet. In Doppelbesetzung kann sich ein Team-Mitglied zeitweise heraus ziehen, um das Arbeitsverhalten der Schüler*innen genauer zu beobachten.

Das erlaubt eine fairere Bewertung, da nun nicht nur das Ergebnis einer Arbeitsphase, sondern auch der individuelle Anteil jedes*jeder Einzelnen berücksichtigt werden kann. Außerdem erhalte ich auf diesem Weg als Lehrer viel öfter ein professionelles Feedback, was nach dem Referendariat selten ist. Durch die zunehmende Routine schleichen sich unbeobachtet naturgemäß Verhaltensmuster ein, die für das Lernen nicht förderlich sind. Die Doppelbesetzung kann hier helfen, gegenzusteuern.

Dass durchgehende Doppelbesetzung eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Inklusion ist, daran zweifelt kaum jemand. Genauso wenig Zweifel lassen aber Politiker*innen daran, dass diese auch künftig nicht zum Standard werden wird.

Sie verweisen immer wieder entweder darauf, dass Doppelbesetzung nicht notwendig, zielführend oder nicht zu finanzieren ist.

Sonderpädagog*innen bringen besonderes Know-How ein

Im Klassenteam der siebten Klasse, die ich unterrichte, ist auch eine Sonderpädagogin. Diese ist häufig, aber nicht immer als Doppelbesetzung im Unterricht dabei. Auch wenn ich auf ihre Unterstützung im Unterricht verzichten muss, steht sie mir mit Rat und Tat zur Seite – zum Beispiel wenn es darum geht, differenzierte Lernmaterialien zu erstellen.

Diese Unterstützung ist unerlässlich, gerade am Gymnasium. Differenzierung und Individualisierung ist zwar natürlich Teil der Aufgabe auch in dieser Schulform. Regelschul-Lehrer*innen lernen aber normalerweise weder im Studium noch im der Ausbildung im Referendariat, was es mit den besonderen Bedürfnissen der Kinder mit Förderbedarf auf sich hat.

Deshalb ist es unerlässlich, mit den Sonderpädagog*innen zusätzliche Expertise im Team zu haben. Das gilt insbesondere an Gymnasien, an denen die Lehrer*innen an eine vermeintlich homogene Schülerschaft gewöhnt sind.

Das Problem: Es fehlen Sonderpädagog*innen

Wie stark die Lehrer*innen in Inklusionsklassen von Sonderpädagogen unterstützt werden, unterscheidet sich stark von Schule zu Schule. Ein Grund: In NRW fehlen Sonderpädagog*innen. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) beziffert die Lücke auf 7.000 Lehrer*innen. Der Mangel zeigt sich im Alltag. Es kommt immer wieder vor, dass sich auf ausgeschriebene Stellen für Sonderpädagog*innen niemand bewirbt.

Team-Work erfordert Team-Zeit und Team-Building

Selbst wenn eine Schule die Stellen für Sonderpädagog*innen besetzen kann, heißt das nicht, dass die Kooperation funktioniert. Sonderpädagog*innen und Lehrer*innen an Regelschulen müssen lernen, produktiv zusammen zu arbeiten. Umso wichtiger ist ein regelmäßiger Austausch und Zeit zum Kennenlernen und zur gemeinsamen Planung von Unterricht.

An unserer Schulen gibt es für die Inklusionsklassen Team-Zeiten. Die Treffen sind bei allen fest im Stundenplan verankert und den Team-Mitgliedern wird dafür auch eine halbe Stunde in ihrem Deputat gut geschrieben. Solche Team-Zeiten sind leider kein Regelfall. Im normalen Schulalltag ist es aus organisatorischen Gründen so gut wie unmöglich sich als Klassen-Team regelmäßig zu treffen. Fehlt aber die dringend nötige Abstimmung im Klassenteam, leidet darunter die individuelle Betreuung der Kinder und Qualität des Unterrichtes. Lösungen für dieses Problem liefert die Landesregierung im Bundesland, wo ich unterrichte, leider meines Wissens nicht.

In vielen Inklusionsklassen sind die Lehrer*innen nicht die einzigen Erwachsenen im Raum. Denn einige der Kinder mit Förderbedarf haben sogenannte Inklusionsbegleiter*innen. Diese Integrationshelfer*innen sind einzelnen Schülern zugeordnet und sollen sie unterstützen, den Schulalltag zu bewältigen.

Der Idealfall der Zusammenarbeit zwischen Lehrer*innen und Inklusionsbegleiter*innen lässt sich in meiner siebten Klasse beobachten: Unsere beiden Inklusionsbegleiter*innen geben uns nicht nur gute Hinweise über den richtigen Umgang mit ihren Schützlingen. Sie haben genauso den Rest der Klasse im Blick. Insofern sind sie dadurch eine weitere Entlastung für die Lehrer*innen.

Inklusionsbegleiter*in ist nicht gleich Inklusionsbegleiter*in

Nicht alle Inklusionsbegleiter*innen sind eine gute Hilfe. Da es bislang keine Ausbildung gibt, handelt es sich nicht um für den Beruf ausgebildete Fachkräfte. Vielmehr ist der Hintergrund der Kräfte sehr unterschiedlich: Teilweise handelt es sich dabei um junge Menschen im Bundesfreiwilligendienst oder im Freiwilligen Sozialen Jahr. Teilweise sind es aber auch Menschen mit einer abgeschlossenen Ausbildung oder einem Studium im pädagogischen Bereich. Die Einstellung und Zuteilung erfolgt nicht durch die Schulen, sondern die Schulträger.

Wohl nicht zuletzt auch wegen der vergleichsweise schlechten Bezahlung stehen gut ausgebildete Bewerber*innen für die Aufgabe nicht gerade Schlange. Wie engagiert und fachkundig die Unterstützung der Lehrkräfte ist, ist daher oft Glückssache. Ein weiteres Problem: Nicht jedes Kind, dass eine*n Inklusionsbegleiter*in gebrauchen könnte, hat eine*n. Einen Antrag auf eine solche Betreuung müssen die Eltern stellen. Manche Erziehungsberechtigte sträuben sich dagegen aus Angst vor Stigmatisierung.

Welche Faktoren noch wichtig sind, damit Inklusion am Gymnasium gelingen kann,
darum wird es demnächst im zweiten Teil dieses Artikels gehen.

2 Antworten zu “Inklusion am Gymnasium – so kann sie gelingen”

  1. Katrin sagt:

    Ein schöner Artikel über ein aktuelles Problem. Eine Frage bleibt mir aber noch… Wie wird eigentlich entschieden, welche Kinder gefördert werden? Also wer zieht die Grenze zwischen einem Kind, das mit besonderer Förderung auf ein Gymnasium gehen darf und einem Kind, welches einfach ,,zu dumm“ dafür ist und deswegen ohne Förderung eine andere Schulform besucht? Und wie wird diese Grenze gezogen? Geht das überhaupt in irgendeiner Weise fair?

  2. […] kleinerempfehlung: Dominiks Gastbeitrag „Inklusion am Gymnasium – so kann sie gelingen“ und der zweite Teil […]