Inklusion am Gymnasium – so kann sie gelingen (Teil 2)

Foto , by John Schnobrich

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Dominik.

Dominik ist Lehrer für Physik und Philosophie an einem Gymnasium in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Auf seinem Blog “Bildungslücken” schreibt er über den Beruf, den er liebt und die Beobachtungen, die er darin macht. Unlängst schrieb er auf seinem Blog über seine Erfahrungen mit Inklusion an einem Gymnasium. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Version des Artikels. Das ist der zweite und letzte Teil seines Artikels.

Den ersten Teil könnt ihr hier nachlesen.


Blog von Dominik @lueckenbildung

Anderes Lernen braucht andere Räume. Ob mit oder ohne Inklusion:

Die Erkenntnis setzt sich langsam aber sicher durch, dass Lernprozesse genauso individuell sind wie die lernenden Menschen. Insofern ist ein Anspruch an guten Unterricht, dass er differenzierte Lernwege bietet.

In einer Inklusionsklasse stellt sich dieser Anspruch natürlich in besonderem Maße: Die Schüler*innen haben nicht alle das gleiche Lernziel – sie werden zieldifferent gefördert. Das bedeutet zum Beispiel, dass es für die Kinder unterschiedliche Lernmaterialien und eine große Aufgabenvielfalt gibt.

Solche individualisierten Lernsettings erfordern aber auch oft individuelle räumliche Lösungen. Deswegen steht an meiner Schule für die Inklusionsklassen neben dem Klassenraum noch ein weiterer kleiner Raum zur Verfügung – der sogenannte Differenzierungs-Raum. Hier können sich einzelne Lerngruppen oder auch das Lehrer*innenteam zurückziehen.

Das Problem: Schularchitektur
passt nicht zu moderner Didaktik

Die Möglichkeit einen zweiten Raum zu nutzen, ist leider keine Selbstverständlichkeit. Aufgrund steigender Schüler*innenzahlen stoßen viele Schulen ohnehin schon an die Grenzen ihrer Kapazität. Viele Schulen haben daher schlichtweg keine Räume übrig, die genutzt werden können.

Und die vorhandenen Räume im einheitlichen Schuhkarton-Format orientieren sich oft noch an den Erfordernissen einer vergangenen Zeit, in der Unterricht sehr lehrer*innenzentriert war. Die räumlichen Rahmenbedingungen sind daher nicht gut und angesichts des hohen Sanierungsbedarfes ist fraglich, ob hier in absehbarer Zeit Abhilfe geschaffen werden kann.

Inklusion ist so individuell wie die Kinder


Das Ziel von Inklusion an Schulen ist, möglichst niemanden auszuschließen und im gemeinsamen Lernen gesellschaftliche Grenzen abzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Inklusion so individuell gestaltet werden, wie die Kinder sind.

Während etwa die Leistungen mancher Autist*innen die der Regelschüler*innen regelmäßig übertreffen, brauchen sie eine besondere sozial-emotionale Begleitung. Bei lernschwachen Schüler*innen ist die Herausforderung, ihnen Aufgaben zu stellen, die sie bewältigen können, ohne sie aus dem Unterrichtssetting der Regelschüler*innen auszuschließen.

Die Voraussetzung für die Inklusion dieser Kinder ist Differenzierung: Eine Methode, die wir wiederholt im Klassenteam eingesetzt haben, ist die Differenzierungs-Matrix, die eine große Aufgabenvielfalt und möglichst passende Herausforderungen für alle Schüler*innen garantiert. Von solchen Unterrichtssettings profitieren letztlich alle Kinder, das sie auch für die ja in ihren Fähigkeiten und Interessen äußerst heterogenen Regelschüler*innen individuellere Zugänge zum Lernen ermöglicht.

Insofern Inklusion am Gymnasium zu mehr Differenzierung führt, kann sie einen Beitrag zu einer schüler*innengerechteren Lernkultur für alle leisten.

Das Problem: Inklusion funktioniert
(so) nicht für alle

Es gibt allerdings auch Schüler*innen bei denen eine Inklusion an einer Regelschule unter den derzeitigen Bedingungen nur sehr schwer zu realisieren ist. So gibt es zum Beispiel Kinder mit sozial-emotionalem Förderbedarf, für die allein schon die Klassengröße ein Problem ist. Für manche, weil sie es unter so vielen Menschen nicht aushalten. Für andere, weil eine so große Ansammlung von Menschen als eine Bühne für aggressives, respektloses oder anstößiges Verhalten nutzen. Weil Regelschulen mit solchem Verhalten überfordert sind, kann das Ergebnis der Inklusion dann sein, dass diese Schüler*innen einen Großteil des Tages in vollständiger Isolation verbringen.

Der Gedanke liegt nahe, dass für solche Kinder das alte Förderschulsystem mit intensiver Betreuung in kleinen Lerngruppen die bessere Lösung ist. Schulministerin Yvonne Gebauer hat wohl auch deshalb angekündigt, dass zum einen Förderschulen erhalten bleiben und zum anderen in inklusiven Regelschulen Förderschulzweige, in denen Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf in Teilen separat unterrichtet werden. Gebauer nennt dies „differenzierte Inklusion“.

Wie genau diese geregelt sein werden, ist noch nicht klar. Die Antwort der Politik scheint aber zu sein, auf die Herausforderungen der Inklusion mit der Rückkehr zur Separation zu reagieren.

Die Frage bleibt, wie der Erhalt des Zwei-Säulen-Modells mit Förderschulen und Regelschulen mit dem Grundgedanken der Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar ist.

Inklusion braucht Soziale Kompetenzen

Wie jede größere Gemeinschaft ist eine Klasse ein hochkomplexes soziales System: Schüler*innen lachen und weinen zusammen, verlieben sich, streiten sich, versöhnen sich, schließen manche ein und andere aus. Und diese Komplexität nimmt natürlich noch einmal zu, wenn Kinder mit Förderbedarf dazu kommen.

Umso wichtiger sind soziale Kompetenzen. In unserem Fall investiert das Klassenteam und vor allem das Leitungstandem (wie solch ein Tandem funktioniert, ist im ersten Teil dieses Artikels erklärt worden) immer wieder viel Zeit: Zusammen mit den Schüler*innen besprechen sie zum Beispiel im Klassenrat auftretende Probleme und erarbeiten Regeln für die Klassengemeinschaft. Dabei greifen sie auch auf die Unterstützung der Schulsozialarbeiter*innen zurück, die hier über besonderes Know-How verfügen. Weil wir eine Schule im gebundenen Ganztag sind, verfügen wir hier über einige zusätzliche Ressourcen.

Das Problem: Keine Zeit für Social Learning

Leider verfügen nicht alle Schulen über solche pädagogische Mitarbeiter*innen: Lehrer*innen sind beim Umgang mit Problemen innerhalb der Klassengemeinschaft oft auf sich alleine gestellt. Dabei handelt es sich zudem um eine Aufgabe, die in der Ausbildung wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Erschwerend kommt dazu, dass für die Förderung von sozialen Kompetenzen im Schulalltag kaum Zeit und Raum bleibt.

Elternarbeit: Die Erziehungsberechtigten
als Teammitglieder

Damit Inklusion funktioniert, müssen nicht nur die Schüler*innen alle gleichermaßen in die Klassengemeinschaft investieren. Es hilft, wenn auch Eltern den Prozess wohlwollend begleiten. Die Kooperation mit den Eltern von Kindern mit Förderbedarf ist für Lehrer*innen immer wieder eine besondere Herausforderung. Dies beginnt schon bei der Diagnose des Förderbedarfs: Damit die Kinder die bestmögliche Förderung erhalten, ist eine möglichst genaue Diagnose erforderlich.

Allerdings sperren sich manche Eltern dagegen, dass ihre Kinder getestet werden. Dahinter steht oft ein guter Wille: Sie wollen nicht, dass ihr Kind stigmatisiert wird. So kann es zu Konflikten kommen. Aber auch mit den vielen Eltern von Kindern mit Förderbedarf, mit denen die Kommunikation gut gelingt, ist der Kommunikationsaufwand meist höher als bei Regelschüler*innen.

Bei Eltern von Regelkindern kann die Elternarbeit in einer Inklusionsklasse allerdings ebenso anspruchsvoller sein: Viele sehen die Inklusion kritisch und haben häufig die Sorge, dass ihre Kinder zu kurz kommen. Die Elternarbeit ist dadurch insgesamt deutlich intensiver und eine besondere Herausforderung. Aber auch hier gilt wie im Lehrer*innenteam: Durch die intensivere Zusammenarbeit kann auch ein intensiverer Zusammenhalt zwischen Pädagog*innenen und Erziehungsberechtigten zustande kommen, der das Wohlergehen der Kinder fördert.

Das Problem: Elternarbeit kostet viel Zeit,
wird aber nicht entlohnt

Wie beschrieben sind die Anforderungen bei der Elternarbeit für Lehrer*innen in Inklusionsklassen in der Regel größer und somit müssen die Pädagog*innenen hier mehr Zeit investieren. Dieser Anforderung wird aber im Hinblick auf die Arbeitszeit wenig Rechnung getragen.

Die Arbeitszeit der Lehrer*innen richtet sich nach Unterrichtsstunden. An Gymnasien in NRW beträgt die Regelarbeitszeit 25,5 Stunden. Dabei wird kein Unterschied gemacht, ob Lehrer*innen diese in einer Regel- oder einer Inklusionsklasse ableisten.

Insofern ist die anspruchsvollere Elternarbeit eine der vielen Aufgaben, die Inklusions-Lehrer*innen leisten müssen, ohne dass dafür in angemessenen Maße zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

Not macht erfinderisch:
Die Schulleitung verwaltet den Mangel

Es ist ein zentrales Problem, dass von den Landesregierungen nur knappe Ressourcen zur Umsetzung der Inklusion zur Verfügung gestellt werden. Ich habe in meinem Blog schon erläutert, wieso das dazu führt, dass Schulen große Probleme haben, neue Aufgabe wie die Inklusion oder die Digitalisierung zu bewältigen. Um dennoch ihrer pädagogischen Verantwortung gerecht zu werden, müssen die Schulen tragfähige Lösung finden. Eine geschickte Verwaltung des Mangels ist hier gefragt.

Einige unserer schulinternen Lösungen habe ich bereits beschrieben – etwa feste Zeitfenster für Teamsitzungen im Stundenplan oder ein eigener Differenzierungs-Raum. Möglich machen kann solche Privilegien nur die Schulleitung. Umso wichtiger ist es, dass die Führungskräfte die besonderen Bedürfnisse der Inklusionsklassen ernst nehmen und die Lehrkräfte so weit wie möglich unterstützen. Dafür ist es unerlässlich, dass sich die Mitglieder der Schulleitung selbst intensiv mit dem Thema Inklusion und den daraus erwachsenden Anforderungen auseinandersetzen.

Das Problem: Lücken in der Leitung
führen zu Lücken im Konzept

Die Realität ist, dass bei weitem nicht alle Schulleiter*innen dem Thema Inklusion offen gegenüberstehen. So reichte kürzlich erst die Schulleiterin eines Bremer Gymnasiums Klage gegen die Einrichtung einer Inklusionsklasse ein. Dies muss nicht an einer grundsätzlichen pädagogischen Ablehnung liegen. Für viele Schulleiter*innen ist die Inklusion ein weiteres Feld, auf dem sie den akuten Ressourcen- und Personalmangel verwalten müssen.

Dabei sind Schulleiter*innen oft ohnehin schon im normalen Schulalltag überfordert: So kam etwa kürzlich ein Gutachten des Verfassungsrechtlers Alexander Thiele von der Uni Göttingen zu dem Schluss, dass die Arbeitszeiten hessischer Schuldirektor*innen von regelmäßig 50 bis 60 Stunden pro Woche gegen das Grundgesetz und bestehende landesgesetzliche Regelungen verstoßen.

Diese Überlastung ist sicherlich ein Grund dafür, dass viele Schulen derzeit gar keine*n Schulleiter*innen haben. Betroffen davon sind vor allem Grund-, Haupt- und Realschulen. Dieses Führungsvakuum fällt bei organisatorisch anspruchsvollen Aufgaben wie der Realisierung von tragfähigen Strukturen für Inklusion besonders ins Gewicht.

Fazit: Inklusion kann gelingen – wenn die Bedingungen stimmen

Inklusion ist aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht eine Chance – auch und gerade an Gymnasien. Richtig umgesetzt, fördert sie differenziertes Lernen, stärkt soziale Kompetenzen, reduziert soziale Barrieren und ist Treibstoff für Teamwork in den Lehrer*innenzimmern.

Mein positiver Blick auf die Inklusion rührt aber auch daher, dass ich unter nahezu optimalen Bedingungen arbeiten kann, die leider die Ausnahme sind.

Ich würde mir aber wünschen, dass solche Umstände die Regel werden. Die Gesellschaft hat Lehrer*innen den Auftrag gegeben, die Inklusion im Schulsystem zu organisieren. Es ist die Aufgabe der Politiker*innen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Pädagog*innen diesen Auftrag auch erfüllen können.

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