St. Petersburg, 1995. Eine Art Reisebericht.

Foto , CC BY-NC 2.0 , by Mariano Mantel

Es gibt Momente, bei denen uns gleich klar ist, dass sie einmal als “historisch” bezeichnet werden, dass sie in die Geschichte eingehen. Mauerfall, 11. September, solche Ereignisse. Aber was ist mit der ganzen Zeit dazwischen? Die davon beeinflusst ist und Dinge erkennen lässt, die passiert sind oder noch passieren werden? Meistens leben wir da nur so durch, weil wir auch gar nicht die Zeit haben, dauernd alles zu reflektieren und einzuordnen, auf seinen historischen Gehalt hin. Und schon gar nicht, wenn wir noch jünger sind und naiv (oder weniger wohlwollend: ignorant), so wie ich als behütete westdeutsche 15-Jährige. Als solche fuhr ich im Herbst 1995 auf einen Schüler_innenaustausch nach St. Petersburg. Diese Reise hat mich noch jahrelang gedanklich beschäftigt – so sehr, dass ich mit Anfang 20 einen Text darüber schrieb. Aber auch mit Anfang 20 ist man (also ich zumindest) noch nicht unbedingt in der Lage, die Faszination und Ignoranz, mit der mein 15-järiges Ich diese völlig fremde Welt wahrnahm, zu filtern und einzuordnen. Das macht dieses Textstück quasi zum doppelten „moment in time“ für mich: durch das, was ich dort sah, und durch die Art, wie ich es erinner(t)e. Nun entlasse ich diesen Text – nur leicht überarbeitet – ins Internet. Viel Spass.

St. Petersburg, 1995. Eine Art Reisebericht.

Würde ich heute an einen mir weitgehend fremden Ort fahren, wäre mein erster Schritt, klar: das Internet. Doch Internet hatten 1995 die Wenigsten, ich jedenfalls nicht. Vielleicht war das Internet etwas, von dem ich schon einmal gehört hatte, aber meine Vorstellung erschöpfte sich recht naiv in einem Telefonhörer, den man irgendwie an den Computer anschließen musste. Ich hatte als Jugendliche in vielerlei Hinsicht nur eine recht vage Vorstellung von der Welt. Ich las keine Zeitung und sah die Tagesschau nur, wenn etwas Aufregendes oder Schlimmes passiert war. Dann nahm ich die Bilder auf, ohne auf die Texte zu achten, und fügte sie in meinem Kopf zu einem wirren Potpurri zusammen. Das bestand etwa aus menschlichen Lichterketten, hupenden Trabis und brennenden Ölquellen, und natürlich den immer wieder gleichen Politikerköpfen, die sich in der Erinnerung stark mit den grotesken Puppen aus „Hurra Deutschland“ vermischen.

Ich war also denkbar schlecht vorbereitet, als ich im Herbst 1995 zum Schüleraustausch nach St. Petersburg fuhr.

Schon der Entscheidung, Russisch als dritte Fremdsprache zu wählen, waren keine komplexen Überlegungen vorausgegangen. Spanisch wurde vorübergehend nicht angeboten, und der Gedanke, Russisch sprechen zu können, war exotisch und aufregend. Noch wichtiger: ich hatte den Eindruck, dadurch auch selbst exotischer und aufregender zu werden. Immerhin gab es eine ganz neue Schrift zu lernen, und auch der Austausch mit St.Petersburg stand als aufregende Möglichkeit im Raum. Der panische Reflex, angesichts der schließlich nahenden Abfahrt alles hinzuschmeißen und zu Hause zu bleiben, wurde von meinen Kurs-Genoss_innen im Keim erstickt. Ihre anstrengenden Motivationsversuche sollten mir die Angst nehmen, gaben mir aber auch zu verstehen, dass Schüchternheit uncool war und aufgegeben werden musste.

Wir erhielten von unserem Russischlehrer praktische Tipps, aber kaum Erklärungen: Dass wir Gastgeschenke mitbringen sollten, natürlich für die ganze Familie. Gute Schokolade sei in jedem Fall zu empfehlen, über den Rest schwieg er sich aus. Dass wir zwar zur Sicherheit Dollars mitnehmen, aber nicht benutzen sollten, weil dass der Wirtschaft schadete. Und dass wir immer sagen sollten, dass es uns gut geschmeckt hat. An weitere Anweisungen erinnere ich mich nicht. Vermutlich haben sie mir nicht weitergeholfen.

Das Flugzeug der Aeroflot war innen mit großgeblümter Tapete verkleidet, was uns kein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Es hat sich mir auch deshalb so nachhaltig eingeprägt, weil es mein erster Flug war, und ich fand, mit diesem Flugzeug machte man es mir nicht leicht. Der Klapptisch im Sitz des Vordermanns war aus Holz und eierschalfarben lackiert, und im Sitz versank ich wie in einem alten Kinosessel. Vetrauenerweckendes, modernes Hartplastik suchte man vergeblich. Heute würden wir das Flugzeug “Vintage” nennen. Vermutlich wurde mir während dieser Reise zum ersten Mal klar, was „Erwartungshaltung“ bedeutet.

Kurz nach der Landung in St.Petersburg verschwand der uns begleitende Referendar in der Menschenmenge, um bald darauf Arm in Arm mit einer jungen russischen Frau wieder aufzutauchen, die offensichtlich seine Freundin war. Die unausgesprochene Annahme, er wäre vor allem auf die Reise mitgekommen, weil wir so eine tolle Klasse waren, erwies sich als einigermaßen egozentrisch. Vielleicht hielt er es für unpädagogisch, unseren Aufprall in der fremden Kultur zu dämpfen, oder hatte schlicht nur seinen eigenen deutsch-russischen Austausch im Sinn. Jedenfalls sahen wir für den Rest der Zeit sehr viel weniger von ihm als uns lieb war.

Die Zusammenführung mit unseren Gastgeber_innen fand im blassen Neonlicht eines Reisebusses statt, was der Stimmung nicht eben förderlich war. Wir fremdelten. Die charmante russische Deutschlehrerin versuchte mit einigem Elan, die allgemeine Verkrampfung aufzulösen, doch Sprachbarriere und hormonbedingte Zurückhaltung waren stark. Namen wurden aufgerufen, Plätze getauscht. Ich versuchte währenddessen, in der Rückenlehne meines Sitzes zu verschwinden. Als mein Name fiel, stand ein Junge in schwarzer Bomberjacke auf, den mir die russische Lehrerin offensichtlich vorzustellen versuchte. Mein Blick flatterte zu unserem Referendar, zur russischen Lehrerin, zu meinen Freundinnen. Das musste ein Missverständnis sein, ein Irrtum, denn ich war natürlich von einem Mädchen als Austauschpartnerin ausgegangen. Peinlich berührt dachte ich an den bunten Badeschaum in fünf verschiedenen fruchtigen Duftnoten, den ich für Sie als Geschenk dabei hatte. Ich redete auf den Referendar ein, während alle mich anstarrten und nur jeweils die Hälfte verstanden. Je länger die Besprechung dauerte, desto enger schien der Bus zu werden, mein Kopf hingegen wuchs vor Scham auf das dreifache seiner Größe an. Doch so groß meine Schüchternheit war, so eisern war auch mein Wille: ich wollte nicht bei einem Jungen wohnen. Man tauschte sich auf Russisch aus, ich sank erschöpft in meinen Sitz zurück und fühlte mich elend: ich hatte die deutsch-russische Freundschaft verraten, kaum dass ich angekommen war. Zum Glück verstand ich das meiste nicht, was gesagt wurde. Heute ist mir mein Verhalten nicht mehr wirklich begreiflich. Da hatte sich eine Familie auf meine Ankunft vorbereitet, und ich sagte einfach nein. Es tat mir noch Jahre später leid.

Man brachte mich in der ersten Nacht schließlich bei der Schuldirektorin unter, die einen riesigen Schäferhund hatte. Er trug einen Maulkorb und wurde dauernd in ein anderes Zimmer gesperrt, so dass sich zwischen mir und dem Hund immer eine neutrale Zone befand. Später erzählte man mir, dass man Hunde hier nicht zum Spaß hielt. Um mich aufzuheitern, zeigte mir die Direktorin Videos von ihren Besuchen in meiner Heimatstadt. Ich verbrachte den ersten Abend in St. Petersburg damit, dem Bürgermeister meiner hessischen Kleinstadt beim Händeschütteln und Verbrüdern zuzusehen. Als sich herausstellte, dass ich bei einer der Festveranstaltungen zu Ehren der russischen Besucher ebenfalls anwesend gewesen war, sprang die Direktorin plötzlich auf und zog sich das Kostüm an, das sie damals getragen hatte. Sie dachte, ich würde mich vielleicht daran erinnern.

Nach einer relativ schlaflosen Nacht saß ich morgens am Frühstückstisch dem Briten Richard gegenüber, der Flugbegleiter bei British Airways war und auf dessen Anwesenheit ich mir keinen Reim machen konnte. Ein Freund der Familie, offenbar. Erst viel später als ich zugeben möchte wurde mir bewusst, dass er vermutlich einfach der Freund des Sohnes der Direktorin – ein junger Lehrer – war. Die Heteronormativität war stark in mir. Richard dolmetschte ein wenig, denn Englisch erschien mir im Vergleich zu Russisch eine deutlich kleinere Hürde. Leider entging mir in meiner tiefen Verunsicherung die Absurdität des Augenblicks: da sassen wir nun bei labberigem Rührei, die deutsche picklige Jugendliche, der britische Stewart, der russische Schäferhund, Oktober 1995, St. Petersburg. Mein Körper tat sein Übriges, um mein Unwohlsein zu verstärken. Auf den Stress der Fremde hatte er mein eines Augenlid auf die doppelte Dicke anschwellen lassen. In dieser Weise als wenig belastbar gebrandmarkt begann mein Aufenthalt.

Fast alle Schüler_innen aus meiner Klasse wohnten in der gleichen Plattenbausiedlung, und doch kam mir die Entfernung zwischen den einzelnen Wohnungen zum Teil unendlich weit vor. Die Wohnsiedlung schien keinen Anfang und kein Ende zu haben. Klotzartige, riesige Gebäude, soweit das Auge reichte. Dazwischen waren Wäschetrockenplätze, Spielplätze und allerlei matschige Trampelpfade. Ein faszinierender Irrgarten aus Beton, in dem sich auch die Schule irgendwo verbarg und wieder einige Pfade weiter auch die Räumlichkeiten für den Sportunterricht. Die Wände dort waren behängt mit Bodybuilding-Postern aus den 80er Jahren, und die Jungen der russischen Klasse trainierten an martialischen, kantigen Kraftmaschinen. Die Mädchen machten Aerobic mit eisernen Hanteln.

Zwischen den endlosen Reihen der Plattenbauten zog eine breite, sehr gerade Straße eine weitläufige Schneise, in deren Mitte die Straßenbahn verlief, fast schon etwas verloren wirkend. Die Wagen hatten oft nicht mehr alle Sitze, dienten uns aber ohnehin nur als Transportmittel zur U-Bahn. An jeder U-Bahn-Station gab es kleine pavillonartige Kioske, von denen mindestens einer weiß etikettierte Raubkopien (VHS-Kassetten und CDs) und ein anderer Alkoholika führte. Wir waren begeistert von den schwarzen schmalen Dosen, auf denen ein Totenkopf mit Zylinder abgebildet war und die laut Aufschrift „Black Death Vodka“ enthielten, trauten uns aber nicht, welchen zu kaufen.

Die U-Bahn selbst entpuppte sich als Tor zu einer anderen Welt. Die Bahnsteige waren mal futuristisch orangefarben beleuchtet, dann wieder in barockem Gold und Weiß und voll verschnörkelter Ornamentik. Auf der Rolltreppe konnte man oft das Ende der Treppe nicht sehen, so tief ging es hinab. Man wurde regelrecht vom Erdboden verschluckt. Wenn man wieder auftauchte, hatte sich das Betonmeer in eine Welt voller vergoldeter Brücken und prachtvoller historischer Paläste verwandelt. Hier war die Stadt von Kanälen durchzogen und gespickt mit beeindruckenden Ansichten, mit Prachtstraßen und Statuen. Wir sahen die Eremitage, den Newski-Prospekt und den Panzerkreuzer “Aurora”. In Puschkin besuchten wir die Sommerresidenz des Zaren, doch das halb fertig rekonstruierte Bernsteinzimmer fesselte mich nur wenig, denn es war ja irgendwie nicht echt. Interessanter als die Unmengen an Bernsteinschmuck waren für uns die „Hard Rock Café St. Petersburg“-T-Shirts, die Händler auf den Straßen ausgebreitet hatten. Sie machten sich keine Mühe, nicht wie Fälschungen zu wirken. Dies wäre auch ein sinnloses Unterfangen gewesen, da es kein Hard Rock-Café in St.Petersburg gab. Für uns hatte das größte Souvenir-Qualität: die westliche Welt in kyrillischen Lettern. Ich bezahlte mit Dollars und hatte einen Anflug schlechten Gewissens, weil ich damit die aufstrebende russische Wirtschaft geschwächt hatte. Andererseits ließ sich das auch nicht einfach verhindern. Als wir eine Vorstellung des St. Petersburger Balletts besuchten, wurden wir gebeten, kein Deutsch zu sprechen, da wir Karten für Einheimische hatten – die waren günstiger. Eine Karte für Einheimische kostete soviel wie eine Zwei-Liter-Flasche Pepsi, und ich erfuhr nie, wie viel eine Karte für Ausländer gekostet hätte. An die Aufführung habe ich keine Erinnerung, wohl aber an die Kronleuchter und die geschnitzten Balustraden unserer Loge. Statt auf die Tänzer_innen achteten wir auf die Matrosen in den anderen Logen. Wie Botschafter dieser für uns neuen Welt waren die Matrosen untrennbar mit dem Straßenbild der St. Petersburger Innenstadt verbunden, ihre Uniformen ein wandelnder Anachronismus in der Optik der Jahrhundertwende. Ich hegte den Verdacht, dass nur die gut aussehenden Matrosen von Bord durften, und in der Pause des Balletts schafften wir es, uns mit ein paar von ihnen zu fotografieren. Sie waren nur wenige Jahre älter als wir und schienen nicht unglücklich über ihren Status als Touristinnenattraktion.

Abends kehrten wir in die andere Welt zurück. Ich hatte Glück im vermeintlichen Unglück gehabt, denn ich kam schließlich bei Marina unter, dem russischen Mädchen, das meine beste Freundin beherbergte. Diese Freundin lernte gar kein Russisch und war eher aus Neugier mitgefahren. Sie war Pfadfinderin, was mir ihren Mut hinlänglich erklärte. Leider brachte ich ihr keine Vorteile in der Kommunikation, denn es kam kaum ein russisches Wort über meine Lippen. Wir schliefen zusammen im Ehebett der Eltern, die umgezogen waren ins Bett unserer Austauschschülerin, die wiederum mit ihrer Oma auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer schlief. Ihr älterer Bruder musste sich mit einem schmalen Sofa im Flur begnügen. In meiner Erinnerung bestand die Heizung unseres Schlafzimmers aus einem Rohr, aus dem heiße Luft kam, und das sich durch öffnen und schliessen regulieren liess. Aber ich weiss tatsächlich nicht mehr, was davon jugendliche Dramatik ist. Jedenfalls schienen wir öfter zu schwitzen oder zu frieren. An einer Seite des Zimmers gab es auch einen kleinen geschlossenen Balkon, auf dem riesige Glasbehälter mit eingemachten Tomaten lagerten. Essen und Trinken war ein faszinierendes Thema. Da wir den ganzen Tag schwarzen Tee zu trinken bekamen, lagen wir regelmässig bis ein Uhr nachts wach. Wir verschlangen Berge von gebratenem Weißbrot mit Zimt und Zucker, das uns an arme Ritter erinnerte und das unsere Gastmutter unermüdlich herstellte. An anderen Tagen gab es auch für uns Kurioses wie Tomatenspaghetti oder lauwarmen Bohnensalat zum Frühstück, und einmal löffelten wir mit einiger Überwindung an einer Suppe, deren Inhalte wir einfach nicht identifizieren konnten. Natürlich sagte ich danach „вкусный“. вкусный, das heißt lecker und ich sagte es die ganze Zeit, auch, weil ich keine ganzen Sätze bilden konnte.

Unsere Verständigung war reduziert auf das Wesentliche. Marina sagte „Essen“, wenn das Essen fertig war, und „Schlafen?“ wenn sie fragen wollte, ob wir müde sind. Manchmal schlugen wir Wörter im Diktionär nach und zeigten mit dem Finger drauf. Marina hielt den Früchte-Badeschaum hoch, den ich mitgebracht hatte, deutete im Wörterbuch auf „Kuchen“ und sah mich fragend an. Ich errötete leicht und deutete auf „Baden“. Marina zeigte „Auto“ und „Direktor“, als wir sie nach dem Beruf ihres Vaters fragten. Ihr Vater erinnerte uns an Danny DeVito und hatte eine Pistole auf der Ablage im Flur liegen. Begegnete man ihm nachts im Flur, trug er meist nur einen Tanga. „Auto“ und „Direktor“ war alles, was wir hatten, um die Situation unserer Gastfamilie einzuschätzen, für die uns die Massstäbe fehlten. Die Familie wohnte zu fünft in einer Drei-Zimmer-Plattenbau-Wohnung, deren Toilette so klein war, dass man die Tür beim hinsetzen mit den Knien wieder aufdrückte. Aber sie hatte mehrere Fernseher, Videorekorder, einen Camcorder, in jedem Raum eine Stereoanlage, und fuhren mit dem Mercedes zu ihrer дача. Wir verbrachten einige Zeit damit, uns Videos anzusehen, auf denen der ältere Bruder gekonnt an den Ringen turnte. Einmal schaffte es meine Freundin, sich tatsächlich etwas mit ihm zu unterhalten, da er Englisch sprach. Sie sprachen über Bier.

Um uns Jugendliche zusammenzubringen, veranstaltete die Schule einen bunten Abend mit Vorführungen, Spielen und DJ. Die russische Deutschlehrerin machte als Moderatorin das Beste aus der Situation und brachte uns freundlich, aber bestimmt dazu, an den Spielen teilzunehmen – beispielsweise auf einer gefalteten Zeitung tanzen, um sich näher zu kommen. Irgendwann mussten sich alle Lehrer_innen zu einer eigenen geselligen Runde zurückziehen, während bei uns das Licht abgedunkelt wurde, damit wir uns auf die Tanzfläche trauten. Peinlich daran war aber rückblickend vor allem unser Spott über die Remixe bekannter Eurodance-Hits aus dem Vorjahr. Als unser Referendar wieder auftauchte, war er sehr betrunken und tanzte mit einer dreizehnjährigen Schülerin Stehblues. Er erzählte uns später, dass sie bei diesen Runden den Wodka natürlich nicht ablehnen durften, er aber gegangen sei, als die Schuldirektorin stalinistische Lieder angestimmt hatte.

Andere Momente, in denen wir Jugendlichen etwas zusammen unternahmen, sind nur noch zusammenhanglose Erinnerungsfetzen. Ich glaube, es gab auch nicht so viele. Einmal gingen wir mit der Austauschschülerin Strumpfhosen kaufen. Das Kaufhaus wirkte auf mich, als hätte man viele kleine Läden in einem barocken Schloss untergebracht. Einmal sahen wir im Fernsehen den Musikclip „Kommunalnaja Kvartira“. Ich habe den Refrain noch heute im Ohr.

Am Ende des Aufenthalts hatten wir Souvenirs und einiges Selbstbewusstsein gesammelt, weil wir dabei gewesen waren und allerlei Ungewohntes überstanden und erlebt hatten. Doch es blieb auch ein schales Gefühl der Undankbarkeit. Noch lange bekam ich ein Ziehen der Peinlichkeit im Magen, als ich mit etwas Abstand darüber reflektierte, welchen Eindruck wir damals hinterlassen haben mussten. Dann fühle ich mich wieder linkisch und stumm, pubertär und unwissend. Auf der einen Seite fasziniert, auf der anderen völlig unfähig zu einem wirklichen Kontakt. Irgendetwas haben wir damals verpasst. Wie Fremdkörper sind wir in Jemandes Leben geplatzt, der sich hinterher auf eine handvoll Anekdoten reduzierte. Gelernt habe ich dabei trotzdem viel – wenn auch leider kein Russisch.

3 Antworten zu “St. Petersburg, 1995. Eine Art Reisebericht.”

  1. SL sagt:

    Danke für diesen Text :D So ähnlich hab ich mich ehrlich gesagt beim Frankreichaustausch auch gefühlt. Kleinere kulturelle Hürden, aber die gleichen Teenie-Awkward-ääh-Hürden in der Kommunikation. Hab mich auch immer gefragt, was da eigentlich nicht stimmte :D