The First Bad Man – das neue Buch von Miranda July

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Ein Buch von Miranda July besprechen zu wollen, kommt mir vor, wie eine Kirche zu betreten, deren Regeln ich nicht kenne. Schuhe an, Schuhe aus? Haare bedecken oder nicht? Bekreuzigen oder nicht? Wie gut muss ich mich hier auskennen mit den Anekdoten, den Geschichten und dem Frühwerk der US-Schauspielerin, die für ihr Debüt “10 Wahrheiten” bereits einen bedeutenden Literaturpreis bekam? Was verzeiht die Gemeinde der Heiligen Miranda und was verurteilt sie?

Dass es diese Gemeinde gibt und dass sie ihrer Miranda huldigt, zeigte sich unlängst daran, in welcher Windeseile die Lesung Julys in Berlin am 13.11.2015 ausverkauft war. Wie viele Lesungen kennt ihr, für die sich Facebook-Seiten gründen? Miranda July jedenfalls hat eine Auf „Miranda July endlich wieder in Berlin” sagen 2.000 Menschen in Berlin, dass sie zu ihrer Lesung gehen wollen oder versuchen, Tickets zu ergattern. Das Interesse ihrer Fans ist so groß, dass der Veranstaltungsort gewechselt wurde. Zur Stunde könnt ihr auf der Seite einen herzzerreißenden Bieterkampf um die letzten Plätze beobachten.

Die Königin der ewigen Mittzwanziger

Was bringt die kulturverwöhnten Berliner dazu, für eine Lesung derart in die Knie zu gehen? Ist es July selbst? Die 1974 geborene Schauspielerin erlangte 2005 mit dem Film “Ich und Du und alle, die wir kennen” Bekanntheit unter den ewigen Mittzwanzigern deutscher Großstädte und gewann beim Sundance Filmfestival in Utah. In dem Film spiele sie die Hauptrolle, schrieb das Drehbuch und führte Regie. 2011 schrieb sie das Drehbuch für “The Future”, führte Regie und spielte die Hauptrolle. Ihr jüngstes Buch heißt “The First Bad Man”, ins Deutsche so profan wie schlecht übersetzt mit “Der erste fiese Typ”. Die Leute, die sich auf Facebook um Karten für Miranda July prügeln, wollen offiziell zur Lesung dieses Buches. Rechtfertigt das Buch das Feilschen?

Als ich an einem Donnerstag Morgen am Flughafen Tegel stehe und den schwarzen Einband des Romans sehe, habe ich keine Ahnung, dass ich mir diese Frage jemals stellen werde. Alles, was ich sehe, ist ein Titel, den ich interessant finde und ein Autorinnen-Name, der mir bekannt vorkommt. Vier Tage später habe ich das Buch ausgelesen und übergebe es meiner Freundin Deanna in New York. Ich mochte die Geschichte der Mittvierzigerin Cheryl Glicksman und ihre Suche nach dem Glück so sehr, dass ich sie ausgelesen habe, während um mich herum eine Geburtstagsparty auf einem Dach in Brooklyn tobte, dutzende Menschen Smalltalk mit mir machten und mein Kreislauf im New Yorker Sommer in die Knie ging.

Cheryl sucht das Glück

“The First Bad Man” ist eine Erzählung über die Macht unserer Wahrnehmung und der Bestimmtheit, mit der sie unseren Weg steuert – jenseits von Logik und Rationalität.

Ich folge dem Leben von Cheryl Glicksman, die alleine in einem Haus in Kalifornien lebt, unter einem psychosomatischen Globussyndrom leidet. Sie hat das Gefühl, schlecht schlucken zu können, wenn sie unter Druck gerät. Cheryl träumt davon mit Phillip, einem Vorstand in dem Unternehmen, für das sie arbeitet, zu schlafen. Cheryls Job ist es, Frauen ein Fitnessprogramm zu verkaufen, das als Selbstverteidigung daherkommt. Diese Masche für ein Fitnessprogramm war Cheryls Idee – sie witterte darin das größere Geschäft und veränderte den Kurs des Unternehmens „Open Palm“, das ursprünglich nur auf Selbstverteidigung für Frauen ausgerichtet war.

Phillip hält Cheryl für lesbisch. Das sagt er ihr beiläufig, als er sie zur Gralshüterin seiner Libido macht, der er als heterosexueller Endsechziger nicht mehr ohne moralisches Urteil trauen will. Sein Dilemma: Eine 16-Jährige will Sex mit ihm und er kann nicht entscheiden, ob er das in Ordnung findet. In die Rolle der Entscheiderin gedrängt, nimmt Cheryl diese Rolle an. Das ergibt Sinn: Moralische Wächterin über seinen Sex zu sein, ist zunächst die einzige Intimität, die sie mit Phillip erleben kann. Wie weitreichend die Macht ist, die Cheryl damit hat, wird sich erst am Ende des Buchs zeigen, wenn sie mit einer sehr konkreten Folge von Phillips Sexualleben konfrontiert und für den Rest ihres Lebens Verantwortung dafür übernehmen wird.

Wie Phillip, lässt sich auch Cheryl in ihrer Wahrnehmung anderer Menschen von ihren Annahmen leiten. Sie hat einen Gärtner, den sie für obdachlos hält und vor dem sie sich ein bisschen fürchtet. Gleichzeitig hat sie nie das Herz, ihm zu sagen, dass er nicht mehr kommen soll. Der Gärtner arbeitet für sie, seit sie in ihrem kalifornischen Haus wohnt. Sie nimmt die Dienste des Gärtners an, weil ihre Vormieter das schon machten. Auch im Fall ihres Gärtners wird das instinktive Folgen der eigenen Wahrnehmung, ohne diese zu hinterfragen, Cheryls Leben verändern. Positiv.

Der Einbruch in das Pfannen-Idyll

July wendet viel Energie darauf, uns Cheryls Eigenbrötlertum nahe zu bringen. So erfahren wir, dass Cheryl nur Dinge besitzt, die sie braucht. Sie benutzt am besten nur eine Pfanne, um sich Essen zuzubereiten, aus der sie dann auch isst. Sie richtet ihren Alltag auf Effizienz statt Komfort aus. Bevor sie von der Couch aufsteht, überlegt sie, welche Dinge auf ihrem Weg, dorthin mitgenommen werden müssen und versetzt sich in einen Omnibus, der auf seinem Weg alles aufpickt.

Nach 13 Jahren in Berlin, von denen ich 10 in einem WG-Zimmer verbracht habe, in dem kaum Platz für Überfüssiges war (was ich geflissentlich ignorierte), kann ich sagen, dass mir Cheryl Glicksman System (vor allem das der ein-Pfannen-Abendessen) ziemlich normal vorkommt. Ich könnte hier auf den Schlüssel für den Andrang zur fraglichen Lesung gestoßen sein: Die Menschen in Berlin sagen sich beim Lesen von Cheryls Geschichte „Endlich normale Menschen!”

Das ist nur eine Vermutung.

In Cheryls Alltag kommt Bewegung mit Clee, einer 20-Jährigen, deren Eltern die Gründer von „Open Palm“ sind. Sie sitzen im Vorstand des Unternehmens, haben keine Lust auf ihre Tochter und drängen Cheryl, die junge Clee bei sich aufzunehmen. Warum ihre Eltern keinen Bock auf auf ihre Tochter haben, wird kurz nach Clees Einzug bei Cheryl klar: Die junge Frau ignoriert Regeln, schaut Tag und Nacht in höllischer Lautstärke Fernsehen, räumt ihre dreckige Wäsche nicht weg, wäscht sie nicht und lebt wie ein Waschbär auf einer Müllhalde in Cheryls Haus. Zunächst muss sie Cheryls Haus aber in eine Müllhalde verwandeln. Cheryl schaut sich das an. Dann versucht sie, es zu verhindern. Am Ende gelingt ihr das. Sie wird Clee domestizieren – wenn auch nur kurz und als Begleiterscheinung einer schwerwiegenderen Entwicklung im Leben beider Frauen.

Clee bringt durch ihre Provokationen Cheryl dazu, aus ihrer Isolation auszubrechen. Das passiert nicht durch ein Gespräch oder einen Streit, sondern durch eine Prügelei. Hier passiert etwas, das vielleicht nicht typisch für das Leben ewigjunger Großstädter in WGs ist (zumindest nicht aus meiner Erfahrung): Cheryl und Clee merken, dass sie sich gerne miteinander prügeln. Es ist ein Spiel mit Regeln, die beide nie festlegen, aber zu kennen scheinen. Als Clee sagt, Cheryl solle “The First Bad Man” sein, weiß Cheryl, was gemeint ist: Sie soll einen der Angreifer aus den Selbstverteidigungsvideos von „Open Palm“ spielen.

Träume sind bewegliche Ziele

Die Schlägereien haben eine für mich unerwartete Funktion: Sie dienen nicht dazu, die Hackordnung der Mitbewohnerinnen festzulegen, sondern sie haben völlig unabhängig von der Wohnsituation der Frauen die Wirkung, dass beide für ihre Bedürfnisse einstehen und sich dafür einsetzen. Nebenbei erfährt Cheryl, dass sie Clee falsch eingeschätzt hat. Die junge Frau, die Cheryl wie ein fleischgewordener Männertraum vorkommt, ist lesbisch und nicht sie ist das Problem in der Beziehung zu ihren Eltern. Ihre Eltern sind die Arschlöcher.

Für mich war es ein Schock, das July mich die Gewalt der Frauen untereinander als emanzipatorisch empfinden lässt. In der Geschichte von Cheryl und Clee und den Erwartungen, mit denen sich beide konfrontiert sehen, ergibt diese Entwicklung aber Sinn.

Am Ende von “The First Bad Man” hat Cheryl, was sie wollte: Sie hat Sex mit Phillip. Doch der Sex ist nicht mehr die Erfüllung eines Traums, sondern vielmehr das letzte bisschen Gewissheit, dass Cheryl und unser aller Träume ein Mindesthaltbarkeitsdatum haben. Das Datum richtet sich nach folgender Frage: Wieviel wissen wir über uns und unsere Mitmenschen?

„Optimismus ist Mangel an Information“, hat Heiner Müller gesagt. Optimismus ist auch ein Verlassen auf die eigene Wahrnehmung, ohne die Überprüfung der eigenen Annahmen, gegebenenfalls der positiven. Wir wagen diese Überprüfung selten, weil sie ein Ausbrechen aus der eigenen Sicherheitszone bedeutet. Cheryl und die Dinge, die sie erlebt, malen kein rosarotes Bild über dieses Verlassen der Sicherheitszone.Ihr Leben wird nicht um 180 Grad zum Positiven gedreht, nur weil sich die Menschen in ihrem Umfeld als anders herausstellen, als sie ursprünglich angenommen hatte. Aber die Leserinnen und Leser sehen, dass ein Ausbruch aus den in unseren Köpfen gezimmerten Gefängnissen der Wahrnehmung und Annahmen die Chance auf Freiheit in sich trägt. Er bedeutet auch die Chance darauf, den Annahmen anderer zu entkommen.

Als ich „The First Bad Man“ weglegte, hatte ich nicht das Bedürfnis, ein neues Mitglied in der July-Kirche werden zu wollen oder zur Messe in Berlin gehen zu müssen. Aber das Buch ist packend, abstrus und witzig und wert, diesen Herbst auf eurem Nachttisch zu liegen.

Miranda July liest aus “The First Bad Man” am 12.11. in Zürich, am 13.11. in Berlin, am 14.11. in Hamburg und am 15.11. in Göttingen. Leider teilt der Verlag nicht mit, ob die Autorin bei den Lesungen auch Pfannen signiert.

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