Der wertvollste 20-Mark-Schein der Welt

CC BY-NC-SA 4.0 , by Nicole von Horst

Ich gehe selten auf Konzerte. Wenn es nicht eine liebste Lieblingsband ist, deren Texte ich komplett auswendig kann, wenn es nicht eine Band oder eine_e Musiker_in ist, bei denen ich weiß, dass kein Song mich anödet, zieht es mich nicht aus dem Haus. Ich bin eher Wohnzimmertänzerin. Was allein daheim in Wohnzimmern dafür nicht gut geht? Pogo tanzen. Es fehlt mir: verschwitzt und heiser ein Konzert verlassen, mit klingelnden Ohren und singender Brust, und die nächsten Tage zarte blaue Flecken heilen zu sehen.

An Pogo mag ich, dass es weniger Arbeit ist, von Rempel zu Rempel herumgewirbelt zu werden, als selbst aus eigener Kraft auf- und ab hüpfen zu müssen. Doch kaum etwas ist auf Konzerten nerviger, als aus Versehen angerempelt zu werden, zum Beispiel wenn ich in einer Konzertmenge an der Durchgangsstraße zu stehen scheine. Bei Steh-Wipp-Nick-Konzerten, auch wenn sie verzerrte Gitarren beinhalten, stehe ich immer an der Durchgangsstraße. Das Mädchen, an dem man sich ohne Stress vorbeischieben kann halt. Ich würde gerne zurückrempeln, aber das verstößt irgendwie gegen das Protokoll.

Doch um Pogo soll es hier nur am Rande gehen. Ich will von meinem ersten allein selbstausgesuchten Konzert erzählen. Von allerersten Konzerten schrieb ich hier schon: ich war am Anfang der Grundschule, erwartete Rock und bekam Rolf Zukowski. Das erste “Erwachsenen”-Konzert dann Pur, am Ende der Grundschulzeit. Und ab da immer wieder mit meiner Cis-Mutter zu Konzerten ihrer Lieblingsbands. Von denen einige auch meine Lieblingsbands wurden. Darunter u.a. Punkrock(-for lack of a better word-)konzerte, zum Beispiel The Offspring, Januar 2001, Stadfthalle Offenbach. Ich bin 13 Jahre alt, stehe mit Mama hinten am Rand und traue mich nicht mehr, als vorsichtig mitzuwippen. True Story: zu dieser Zeit ist Projektwoche an meiner Schule und ich nehme Teil an einem Projekt namens “Big Father”, für das wir die Nächte im Haus des CVJM verbringen und Big Brother in Jesus-Version nachspielen. (Ja, ernsthaft.) Ich habe für die Nacht und das Konzert freibekommen, mache ab und zu eine vorsichtig mitrockende Teufelsgeste mit der Hand und komme mir sehr subversiv vor. (Und bin froh, am nächsten Morgen nicht wie an den anderen Tagen von den CVJM-Leuten mit Herbert Grönemeyers Lied Männer auf lautester Lautstärke geweckt zu werden.)

Liebe auf den ersten Ton

Die erste Band, zu der ich selbst fand und dabei nicht nur Musikvorlieben anderer übernahm, begegnete mir kurz danach und traf mich wie ein Schlag. Ich muss nachmittags, nachdem ich aus der Schule kam, MTV eingeschaltet haben; mein einziger Zugang zu Musikneuigkeiten. Wahrscheinlich liefen die MTV-Videocharts. Und darunter der Song Crawling von Linkin Park. Ich setzte mich direkt vor den Fernseher, um besser zuhören und zusehen zu können. Das Video hatte etwas, das mein Teenager-Ich von der ersten Sekunde ansprach – das traurig unverstandene Mädchen, das dunkle Tränen weint und sich über die Arme streicht, dazu die Erwähnung von „wounds“, so obvious! Und der Sound! Er füllte etwas aus, was meinem Körpergefühl fehlte, eine Aggression, zu der ich keinen Zugang hatte, angenehm brachial, und laut, wie meine Stimme es nicht war. Kein Mist, ich weiß wirklich noch, als ob es gestern wäre, wie ich mir danach den Namen der mir unbekannten Band aufschrieb, nachguckte, ob es Konzerte in der Nähe gäbe und meiner Cis-Mutter vorschlug, mit mir dahin zu gehen. Konzerte waren unser Ding.

Zur Erinnerung, 2001 – Wenn ich Musik haben will, suche ich sie über Napster, kurz darauf über andere Dienste wie Kazaa, weil Napster geschlossen wird. (Ich finde über diese Peer-to-Peer-Netze Konzertbootlegs und erstmals Musikvideos wie dieses ). Es ist VIER fucking Jahre vor der Gründung von Youtube. (Ich fühle mich gerade alt.)

Dance like no one is watching

Mama sagte zu, mit mir zum Konzert zu fahren, Köln oder München. Ich verzierte meine Schulhefte mit dem Linkin Park-Logo, meldete mich in Fanforen an, versuchte, mir die Lyrics mit Wörterbüchern zu übersetzen, aber scheiterte nicht nur an meinem Schulenglisch, sondern auch an meinem sehr wörtlichen Verständnis der Texte. Und ging durch die fieseste Phase meiner Pubertät, Typ unverstandener Teenager, der sich selbst nicht versteht aber ständig erklären soll. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, hoffte ich, dass Bruder und Mütter nicht da waren, damit ich im Wohnzimmer den Kopfhörer in die Stereoanlage stecken und die Musik laut aufdrehen konnte, headbangen im Viereck, das die Sonne auf den Fußboden zeichnete, nicht weiter als das Kabel reicht.

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Wenn ich online war, dann viel im offiziellen Linkin Park-Forum (und im HP-FC-Chat, haha), postete dort auch eigene, für den Musikunterricht geschriebene (natürlich sehr pathetische) Rap-Lyrics, für die ich sogar ein bisschen positives Feedback erhielt. Für mich, mittlerweile 14, ein großes Ding.

Dann kommt der 11. September. Ich bin sehr mitgenommen von allem, die meisten sind es. Der Song In the End von Linkin Park kommt so oft im Fernsehen, dass er mir zu viel wird (gefühlt nur geschlagen von Enyas Only Time). Ich bin gefühlt unverstanden im Konflikt mit meinen Müttern und eindeutig im Konflikt mit meinen eigenen Wahrnehmungen. Fürchte mich davor, dass ich, schneller als ich darüber nachdenken kann, irgendetwas anstelle, für das ich richtig Ärger bekommen kann. Schule schwänzen zum Beispiel. Und gebe mir Mühe, nichts zu machen, das dazu führt, dass mir das Konzert verboten wird. Das schließlich am 21. September in München stattfindet.

Please write on this

Mir unterläuft jedenfalls kein Fehler, auch wenn ich nicht genau weiß, wie ich das geschafft habe. Mama hat sogar ein Hotelzimmer gebucht, damit wir nachts nicht gleich zurück müssen. Es ist Oktoberfest, ich sehe vom Auto aus Typen mit so umkordelten spitzen Wollfilzhüten. Mit anderen warten wir lange draußen in der Schlange. Leute neben uns machen Fotos mit einer Wegwerfkamera. Und es ist kalt. Das ist nicht unwichtig, ich trage nämlich einen großen Kunstfaserpelzmantel mit Riesenkapuze, ein abgetragenes Stück meiner Omi. Als wir endlich drinnen sind, gibt Mama mir einen 20-DM-Schein, damit ich den Mantel an der Garderobe abgeben und mir etwas zu trinken kaufen kann. Sie will während des Konzertes hinten bleiben. Ich nicht, ich will soweit nach vorne wie möglich. Und ich will mich nicht an einer Garderobe aufhalten, bin zu schüchtern, mich da anzustellen und auf mich aufmerksam machen zu müssen. Ich stecke den Schein also in meine Manteltasche und laufe los. Vorne rechts an der Bühne geht es nicht weiter, geht es nicht nach links in die Mitte. Wir stehen und warten. Ich spreche eine junge Frau neben mir an, übe mich in Smalltalk, von Fan zu Fan sozusagen, frage sie Sachen wie: “Was ist dein Lieblingslied?” Sie sieht mich an, wie auch ich jetzt sicher eine 14-Jährige in einem dicken Pelzmantel mit fast ebenso dick aufgetragenem Kajal unter den Augen in einer heißen Konzerthalle ansehen würde: milde, gutmütig, wissend. Dann wird eine Absperrung geöffnet und wir werden in die Mitte gelassen. Bester Platz. Und nach Vorband und Pause endlich – Linkin Park.

Der erste Song ist With You (meine Erinnerung stimmt sogar mit dieser Setlist überein). Die ersten Töne, Zuhause in einem Sound, Bauchweh vor Freude. Das ist groß. Ich stehe in der Menge, gröle, hüpfe, habe mittlerweile meinen Mantel ausgezogen, und ihn mir über den Arm gehängt. So poge ich mit, die eine Faust nach oben, den anderen Arm mit Pelz an den Bauch gedrückt. Das ist anstrengend, ja, und wird auch dadurch erschwert, dass ich Winterstiefel mit für mich zu hohen Blockabsätzen trage, aber es macht nichts. Es macht alles nichts aus. Keine Unsicherheit dabei, mich zu bewegen.

Viel mehr weiß ich vom Konzert nicht. Der Rest ist verschwommen, dann ist es vorbei. Die Leute um mich rum bewegen sich Richtung Absperrung zum Ausgang. Es wird leerer. Und ich ziehe meinen Mantel wieder über, Rauschen im Ohr, stecke die Hände in die Taschen und stelle fest: mein 20-Mark-Schein ist weg. Und mein Schlüssel. Fuck.
20 Mark sind sehr viel Geld für mich, ein großer Deal das zu verlieren. Schlüssel ist noch schlimmer. Also suche ich. Den Schlüssel sehe ich sofort. Und in der Nähe auch, unter nassem Dreck platt auf dem Boden klebend, einen Geldschein. Mein Geldschein! Ich trockne ihn ab, stecke ihn ein und drehe mich um.

Hinter mir, an der Absperrung zur Bühne, ist plötzlich viel los. Ich gehe näher heran, um zu gucken, Leute drängen sich ans Gitter, als gäbe es etwas dahinter. Und mir wird klar: hier gibt es unter Umständen gleich Autogramme. Also stelle ich mich dazu. Und suche in meinem Mantel nach einem Zettel. Irgendeinem Zettel. Ich habe keinen Zettel. Das einzig Zettelähnliche, das ich habe, ist dieser 20-Mark-Schein. Ich kann doch nicht. Oder? Ich meine, wie sieht das denn aus?

Die Band kommt tatsächlich heraus. Und ich tue das Einzigmögliche: ich strecke meinen Arm mit dem Geldschein aus, versuche, mit ihm über das Gitter zu kommen, hoffe, dass mein Autogrammwunsch verstanden wird. Denn ich sehe wie die anderen Leute um mich herum mich und meinen Geldschein angucken; schon wieder die (jetzt sehr verschwitzte) 14-Jährige in ihrem übergroßen schwarzen Kunstpelz. Es sieht auch wirklich aus, als wollte ich der Band sehr überschwenglich ein Trinkgeld zustecken. Like, wtf?
Als der erste, ich weiß noch nicht mal mehr wer genau, Chester vielleicht, oder Mike, mit seinem Stift in die Nähe von mir und meinem Geldschein kommt, versuche ich ein heiseres: “Please write on this”. Und es funktioniert. Ich bekomme von allen, bis auf den DJ (nicht da) ein Autogramm. Auf meinen Schein. Und werde zum Schluss noch davon aus der Bahn geworfen, dass der Bassist, Phoenix, zu mir (ja, zu mir!) sagt: “Hi, how are you“. Teenie-Ich bekommt so schnell nur ein leises Schulenglisch-”fine” herausgekrächzt und zerfällt sogleich vor Erfurcht. Was gut ist, denn auch er ist schon eine Unterschrift weiter. Und ich schaffe es endlich, zum Ausgang zu gehen, ganz langsam, mit dem wertvollsten 20-DM-Schein der Welt.

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Dieser Beitrag ist der erste Teil einer unregelmäßigen Serie zu unseren Konzerterinnerungen. Demnächst mehr.

Eine Antwort zu “Der wertvollste 20-Mark-Schein der Welt”

  1. analogMensch sagt:

    Ich musste schmunzeln als ich das Bild gesehen habe! Ich klebe heute noch meine Konzerttickets und sonstige Erinnerungen an Konzerte ein! Einfach, damit ich in einigen Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten darin blättern und mich an tolle Abende zurückerinnern kann.

    Bei mir sind es meist kleine Konzerte, in einer Location hier in meiner Stadt. Aber trotzdem ist es jedes Mal etwas besonderes! Außerdem komme ich sehr viel näher an die Bands ran, kann noch ein oder zwei Bier mit ihnen trinken, erzählen und lachen!
    Ich schätze soetwas sehr, denn Musik ist und bleibt einer der wichtigsten Teile meines Lebens!