Gespenst im Bauch

Foto , CC BY 2.0 , by Carsten Frenzl

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Katrin.

Katrin ist freie Journalistin und schreibt normalerweise über Sport oder die spaßigen Seiten kleiner Kinder. Im Moment wartet sie aber erstmal darauf, dass ihr zweiter Sohn auf die Welt kommt.

Blog von Katrin

[Triggerwarnung: Suizidgedanken]

Herzogin Kate ist schwanger und unter ärztlicher Dauerbeobachtung. Wildfremde Menschen lachen über sie; die Dame sei offenbar extrem wehleidig, sie sei ja schließlich nicht krank. Das ist falsch. Ihre Krankheit heißt Hyperemesis Gravidarum (HG), extremes Schwangerschaftserbrechen. Diese Krankheit hat nichts mit gesteigertem Mitteilungsbedürfnis zu tun und auch keine psychischen Ursachen.

HG betrifft nur circa zwei Prozent aller Schwangeren, davon zehn Prozent so schwer, dass sie mit Elektrolytentgleisungen, Dehydrierung und Suizidgedanken im Krankenhaus landen, mit Infusionen behandelt werden müssen und oft außer Stande sind, sich um Arbeit, Familie oder auch nur um sich selbst zu kümmern.

HG tritt meist auch in jeder Folgeschwangerschaft auf, häufig stärker. Neben den Symptomen leiden Frauen vor allem unter dem Unverständnis ihres Umfelds und der Verweigerung medizinischer Hilfe. Dabei hat HG nichts mit üblicher Schwangerschaftsübelkeit zu tun, sondern ist eine Krankheit, die unbehandelt für Mutter oder das Ungeborene tödlich verlaufen kann. Wenn man sie hat, fühlt sich das manchmal so an:

Es ist dunkel. Zum zehnten Mal in dieser Nacht wachst du nach ein paar Minuten Dämmerschlaf auf. Die Schwärze um dich dreht sich, die Welt ist tot. Seit Monaten schon hast du immer denselben Traum: Du bist beim Arzt. Er teilt dir mit, dass das Kind in deinem Bauch verstorben sei, und du schaffst es einfach nicht, traurig darüber zu sein. Du liegst allein im Bett, weil du schon lange nicht mehr richtig schläfst. Dein Kopfkissen ist nass, doch es sind keine Tränen der Trauer, sondern der Erleichterung. Darüber, dass es endlich vorbei ist. Es folgen Tränen der Scham, weil du weißt, dass du so etwas Grausames nicht fühlen solltest; weil du dich freuen solltest auf dein Wunschkind, statt es weg zu wünschen.

FREU DICH DOCH!

Um dich herum schwirren Gedanken: Es wird sicher bald besser. – Andere schaffen es auch und gehen sogar arbeiten – Das Glück, schwanger zu sein, gleicht alles andere aus, sei nicht so undankbar! – Denk nicht immer daran! Was du beachtest, verstärkt sich. – Man muss sich auch mal zusammennehmen. Du spuckst doch nicht mehr 20 Mal am Tag, sondern nur noch fünfmal, das ist schließlich nicht lebensbedrohlich. – Krämpfe und Elektrolytentgleisung? Du bist eben schwanger, nimm es an, das hat jede. – Du musst dich freuen, sonst geht es dem Kind nicht gut!

Es sind nicht deine Gedanken, die da schwirren. Es sind Meinungen fremder Menschen, die du ungefragt zu hören bekommst und in ihren Augen liest, wenn du ihnen sagst, dass du zwar schwanger, aber nicht glücklich bist. Von Menschen, denen du zu erklären versuchst, dass du noch nie etwas Schlimmeres erlebt hast als dieses Gefühl der Gefangenschaft in einem Körper, der dir den Dienst versagt und im Kleinhirn jeden Tag einen neuen neuronalen Amoklauf vorbereitet. Die Sätze klingen alle vernünftig – und hohl und stumpf in deinem wunden Kopf, der nicht zu ihnen passt. Und in deinem Bauch liegt dein Magen wie ein zu großer, stachliger, glühender Stein, der dir die Luft abdrückt.

BLUT UND GALLE

Du schaust auf die Uhr. Es ist erst halb zwölf. Wieder nur zehn Minuten geschafft. Eine Sechstelstunde. Das ist eine Achtundvierzigstelnacht, ein Hundertvierundvierzigstel Tag… Du musst auf die Toilette, Galle spucken. Du tust es nicht mehr achtmal in jeder Nacht, das ist ein Fortschritt. Auch das Blut darin ist weniger geworden. Danach schaltest du das Licht an, denkst an dein großes Kind im Nebenzimmer und daran, dass du dankbar für jeden Tag bist, den du mit ihm verbringen darfst. Doch im Moment kannst du ihm nicht einmal ohne Hilfe die Zähne putzen.

Du wirst auch das Kind in deinem Bauch nicht eigenmächtig töten. Ohne selbst in Lebensgefahr zu sein, darfst du es seit vier Wochen gar nicht mehr. Du weißt, dass sich auch diese Rechnung nicht gehört. Du willst so nicht denken. Trotzdem hattest du eine Panikattacke, als der letzte Tag verstrich, an dem ein straffreier Abbruch deiner Schwangerschaft möglich gewesen wäre. Du hast stundenlang geweint, denn du wusstest, dass es ab diesem Moment für genau 28 Wochen kein Entkommen mehr geben würde. 196 Tage. 4704 Stunden. 282.240 Minuten. Eine Ewigkeit. Und du wusstest, dass du mit ihr trotz all der liebevollen Nachsicht, die deine Familie für dich aufbringt, in deinem Körper allein bleiben würdest.

Du hattest deinem Mann kurz vor diesem Tag noch einmal freigestellt, sich für einen Abbruch auszusprechen, weil du ihm dieses durchsichtig gewordene Wesen, das irgendwann einmal du warst, nicht ungefragt zumuten wolltest. Er entschied sich, dir beizustehen und es gemeinsam zu versuchen. Du auch. Solange es leben will, willst du auch, dass es lebt. Aber noch immer fehlt die Kraft für Vorfreude. Dein Sorgen für das ungeborene Leben ist ehrlich, aber mechanisch.

Hyperemesis Gravidarum. Der Schatten, der seit Monaten dein Leben bestimmt. Der deinen Körper umhüllt und durchdrungen hat. Der ihm durch permanente Übelkeit, Erbrechen und einen Strauß bizarrer Folgesymptome alle Kraft entzieht. Jeder Ton, jedes Licht, jede Information ist zu viel. Und im permanenten Dämmerlicht klebt die Zeit wie Kaugummi zwischen den Zeigern deiner Uhr.

Im Gegensatz zur ersten Schwangerschaft hat der Schatten diesmal zumindest einen Namen. Du weißt jetzt, dass du nicht verrückt bist. Aber es lächeln trotzdem noch immer die meisten wissend, weil sie glauben, dass sie dasselbe erlebt hätten, als sie von morgendlicher Übelkeit geplagt wurden. Die Krankheit ist ein Gespenst. Wer ihm nicht selbst begegnet ist oder es zumindest bei sich im Haushalt beherbergte, hat keine Vorstellung davon und flüchtet sich in Bagatellisierung.

ALLEIN GELASSEN

Ärzte fürchten sich vor dem Gespenst, weil es ein großes Schild vor sich herträgt, auf dem „Vorsicht, potentieller Haftungsfall!“, steht. Es tue ihnen leid, aber man könne da leider gar nichts außer Akupunktur machen, sagen sie. Es ist gelogen. Die Wahrheit ist, dass viele von ihnen erst eingreifen, wenn die Grenze zur unterlassenen Hilfeleistung erreicht ist, und auch dann meist nur genau so lange, bis sie wieder weiter entfernt ist als eine potentielle Klage wegen einer falschen Beratung.

Kranke Schwangere haben keine Lobby. Sie sind wenige. Sie sind schwach. Und nach der Entbindung haben sie keine Ambitionen mehr, sich gegen den Vorwurf zu wehren, sie seien nur zu weich gewesen. Sie haben dann keine Lust zu streiten, sondern mit etwas Glück ein Baby im Arm. Es gibt mehr oder minder wirksame Medikamente, doch du musstest ohne deine behandelnden Ärzte herausfinden, wie sie heißen, weil sich niemand die Finger schmutzig machen wollte. Man kann die Präparate nur im Ausland bestellen, weil deutsche Unternehmen zu wenig Gewinn damit erwirtschafteten.

Dein Arzt zieht skeptisch die Augenbrauen hoch, wenn du deine Pillen-Liste diktierst. Die Apothekerin findet dich verantwortungslos und empfiehlt seit zwölf Wochen hartnäckig Ingwertee. Deine Nachbarin fragt, ob es da nicht was Homöopathisches gebe und ein bisschen Geduld nicht vielleicht gesünder wäre. Eine Kollegin erzählt dir, dass ihre Schwangerschaften immer super gewesen seien, sie aus Rücksicht auf das Kind aber auch sonst nie Medikamente genommen hätte. Und der Internist meint, es sei alles eine Frage der Psyche und des Willens. Die Einstellung zum Kind, darauf komme es an. Du solltest darüber mal nachdenken.

IM HALBSCHLAF

Du tust seit Wochen nichts anderes. Weil du dich vor Übelkeit nicht bewegen kannst. Weil kein Wasser mehr in deinem Körper ist, wenn du nicht gerade die Nadel einer Glucose-Infusion in deiner blauen, zerstochenen Armbeuge stecken hast. Weil du weder schläfst noch wach wirst. Weil dir Arme und Beine einschlafen, sobald du dich hinsetzt, und du im Flur zusammenklappst, nachdem du in einem Anflug von Heldinnenmut den Müll runtergetragen hast. Vor allem aber, weil sich die Wochen vor dir auftürmen wie ein unendliches Gebirge aus zersprungenem Glas.

Das Gespenst lähmt deinen schmerzenden Körper und hat deinen Willen durchlöchert. Nach über vier Monaten ist das Gebirge noch immer riesig. Vielleicht sogar noch größer als vor ein paar Wochen, denn dein Blick ist ein wenig klarer geworden, seit du dir wieder alleine ein Glas Wasser holen und es dank viel zu vieler Tabletten manchmal sogar einen halben Tag lang bei dir behalten kannst.

Trotzdem weißt du seit gestern Nacht, dass das Gespenst nicht als Sieger vom Platz gehen wird: Kurz vor vier – zwischen Halbschlaf, Schwindel und der sechsten Portion Galle – war der Traum wieder da. Derselbe Arzt, dasselbe graue Gesicht, dieselbe Diagnose. Aber du warst zum ersten Mal aus tiefster Seele traurig, als er dir seinen Befund mitteilte.

Du bist keine Heldin. Du weißt, dass du das Gespenst nicht besiegen kannst, und wirst es nie wieder in dein Leben lassen. Aber für dieses letzte Mal gehst du in die Küche und bäckst in der Morgendämmerung die einzigen Kekse, die dein Magen toleriert. Sie helfen gegen das Spucken in der Nacht. Es ist anstrengend und dauert lange, weil dir vom Umrühren schlecht wird. Danach schaust du dir Kinderfilme ohne Ton gegen die Übermüdung an und bist dir zum ersten Mal sicher: Das Gespenst wird auch diese zweite Partie in deinem Körper nicht gewinnen. Es hat die schärferen Waffen – aber es spielt auswärts.

Linkliste

Informationen zur Erkrankung selbst
Hyperemesis-Netz
www.hyperemesis.de
HelpHER

Hilfe und Beratung
Ernsthafte Arzneimittelberatung (persönlich am Telefon oder in der Datenbank, sehr kompetent und hilfsbereit)
Deutsche Selbsthilfegruppe bei Facebook mit Betroffenen und ehemals Betroffenen

8 Antworten zu “Gespenst im Bauch”

  1. dasnuf sagt:

    Ich hatte das auch. Als wäre nicht schon alles schlimm genug, wird einem am Ende von den Ärzten ja auch noch gesagt, das sei psychosomatisch. Psychosomatisch 20 mal pro Stunde kotzen.

    • Lyra sagt:

      Ja, genau das habe ich auch oft zu hören bekommen: psychosomatisch.
      Lächerlich. Mich macht das heute noch wütend.

  2. olarot sagt:

    ich hatte das auch. In der ersten Schwangerschaft habe ich 15 kg in 2 Monaten abgenommen. In der jetzigen Schwangerschaft habe ich mich erfolgreich mit Agyrax vollgepumpt. Davon ging die Übelkeit nicht weg, aber es war nicht mehr so schlimm wie beim ersten mal. Ich wollte auch sterben oder habe gehofft eine Fehlgeburt zu haben. Jetzt bin ich in der 28SSW. Mir geht es seit einigen Wochen besser und ich fange an mich auf das Baby zu freuen.

  3. Kirsten Niemann sagt:

    Embryotox ist großartig – auch bei allen anderen Fragen zu Medikamenten in der Schwangerschaft wo man merkt, dass der Frauenarzt/die Frauenärztin keine große Ahnung und keine Lust, sich schlauzumachen hat.

  4. glaskerze sagt:

    Danke für deinen Mut, das ganze während des Schreibens noch einmal zu erleben. Es hat dich sicher sehr viele Tränen gekostet.
    Ich habe ebenfalls unter HG gelitten. Allerdings in einer weniger ausgeprägten Form. Aber trotzdem haben fast alle starken Gerüche bei mir Erbrechen ausgelöst. Schlug mir jede Menge Unverständnis darüber entgegen, dass ich mich nicht zusammenreißen könne. Mein Schwiegervater hielt mich ebenfalls für arg wehleidig, als ich anmerkte, dass er den frisch gemahlenen Kaffee bitte wegpacken möge. Hielt mir die Packung dafür unter die Nase. Meine Arbeitskollegen, die erst mit Mitleid, dann mit Ärger auf meine schlechter werdende Arbeitsweise reagierten.
    Glücklich war ich dann tatsächlich erst am Geburtstag der Kleinen – und traurig, dass nicht gleich ein zweites mit rauskam. Denn das hätte ich gerne, aber momentan habe ich noch etwas Angst vor einer zweiten Schwangerschaft, die vermutlich ähnlich – oder schlimmer – ablaufen würde..

    Alles Gute für dich!

  5. Lila sagt:

    Ich litt die ersten 5 Monate an HG. Habe dann MCP bekommen, welches alles einigermaßen erträglich machte. Im Anschluss darauf bekam ich eine Präeklampsie, so dass meine Tochter in der 33. Woche geholt werden musste.
    Beim nächsten Kind wird alles anders? Ich möchte es nicht wissen….

  6. Annette Lignitz sagt:

    Ich kenne das zur Genüge….in der ersten Schwangerschaft ging alles wie von selbst. Nicht im Traum habe ich damit gerechnet, dass die zweite anders sein könnte…weit gefehlt. Am Ende der Schwangerschaft habe ich über 10kg weniger gewogen als vorher. Ich konnte die Wohnung nicht mehr verlassen, habe ständig gekotzt und – als würde das noch nicht reichen – bei jedem Kotzen hat such meine Blase entleert…tolles Gefühl! „Stell dich nicht so an!“ war noch das Netteste, was ich zu hören bekam. Meine Tochter kam 6Wochen zu früh und ich war unendlich erleichtert, es geschafft zu haben!

  7. Sabrina sagt:

    Guten Tag, ich habe mich gerade sehr erschrocken, wie dieser Beitrag meine Situation in grossen Teilen und mein Empfinden vor drei Jahren widerspiegeln! Auch ich gehörte zu den 2% der Hyperemesi Gravidarum Patientinnen, und habe damals auf einen Zeitraum von zwei Monaten verteilt fünfeinhalb Wochen im Krankenhaus verbracht, um mit Infusiontherapie behandelt zu werden. Die erste Woche auf Intensiv, weil ich sämtliche Medikamente nicht vertrug. Ganz zu Anfang mit Beginn einer stärker werdenden Übelkeit erfuhr ich Desinteresse und es wurde von vielen – ausser meinem besorgten Mann und meiner Oma, die auch HG hatte in allen Schwangerschaften – als typisches Schwangerschaftswehwehchen abgetan.
    Allerdings kann ich von meinem Umfeld berichten, das sich nach meinem ersten Krankenhausaufenthalt wegen einhergehendem Kreislaufzusammenbruch und intensivmedizinischer Behandlung viele Angehörige und Freunde informiert haben und nun um die Besonderheit der Krankheit wissen. Sie taten es aus eigenem Antrieb, nicht weil ich es verlangte.
    Auch meine Hebamme und Ärzte haben das ueberhaupt nicht auf die leichte Schulter genommen, sondern sich von Anfang an sehr gekümmert und ich glaube dass es uns nur deshalb heute gut geht, weil sie auch regelmäßig und beharrlich auf durchgehende! medizinische Überwachung bestanden.

    Mit freundlichem Gruß, Sabrina