Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf

Dorf oder kleinstadtvorort Landschaft mit Einfamilienhäusern und ein paar Nadelbäumen im Hintergrund, davor ein Nutzarten mit Geächshaus und minikleiner Hütte. Der Autor Stefan Mesch steht vor dem Gewächshaus rum und guckt nach rechts.
alle Rechte vorbehalten , by Achim Reibach

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Stefan.

„Woran schreibst du? Wer bezahlt dich? Wie hältst du dich als Autor / Journalist über Wasser?“ Der Berliner Mikrotext-Verlag fragte 12 Absolventen einer „Schreibschule“, ob sie jetzt, als Erwachsene, tatsächlich schreiben – oder: schlingern. Stefan Mesch, 31, schreibt seinen ersten Roman. Und zieht, für „Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf“ (Mikrotext, 2014) Bilanz. Kleinerdrei darf Stefans Text – einer von 14 Texten aus diesem Buch – online veröffentlichen.


Blog von Stefan @smeschmesch


Stefan Mesch ist krass drauf

100_Ich will „Just Kids“ lesen, Patti Smiths 300-Seiten-Buch über das Leben als Künstlerin. Doch ich kriege nie mehr aus dem Kopf, was sie 2010 bei einer College-Abschlussrede als unbequeme, unheilvolle Prophetin immer lauter und drängender mahnte: Junge Künstler*innen brauchen einen Zahnarzt. Junge Künstler*innen müssen ALLES tun, für Mundhygiene. Sie dürfen anders denken – aber nie die Krankenkasse vernachlässigen, die Rücklagen, Vorsorge, Sicherheitsnetze, die sie mit 50, 60, 70 (oder: schon morgen!) brauchen. Wenn heute jemand „Patti Smith“ sagt, gehe ich ins Badezimmer und seufze. Falle in eine Angststarre – die Zahnbürste im Mund.

099_Ich will für diesen (unbezahlten) Essay dreieinhalb Arbeitstage opfern: Freitag / Samstag (Notizen, Sammeln, Recherche), Sonntag (Schreiben), Montag bis 13 oder 14 Uhr (Straffen, Lektorieren, Verschicken). Ich will, dass sich der Essay „lohnt“… doch ich will nicht zu gründlich nachdenken, was das bedeutet: Was ich aufgeben, ändern müsste, falls sich solche Gratis-Texte tatsächlich – objektiv, für mich – nicht „lohnen“.

098_Ich will meine Arbeit bloggen, unter www.stefanmesch.wordpress.com – denn ich will keine Texte schreiben, die nicht gefunden, geöffnet, zitiert, an alle potenziellen Leser*innen weiter getragen werden können. Nischen, Kleinverlage, Biotope? Super. Doch ich will nicht ins Abseits sprechen. Hinter Bezahlschranken, Walled Gardens oder in Kleinauflagen vergessen bleiben.

097_Ich will zehn bis zwölf Stunden täglich arbeiten. Ich will 14, 15 Stunden Informationen finden, ordnen, bearbeiten und teilen. Ich will nicht abschalten. Ich will kein Wochenende. Ich will nicht offline gehen. Ich will lesen und reden, schreiben und zuhören. Und denken. Ich will mein Leben lang lernen. Ich will keinen Feierabend.

096_Ich will zum Arzt gehen, zum ersten Mal dieses Jahrzehnt – aber bitte erst, wenn mein Roman druckfertig ist: Mitte 2015. Bis dahin will ich einfach hoffen, dass mein Körper klaglos funktioniert.

095_Ich will Schriftsteller sein – und höre seit Herbst 2001 aus allen Ecken die erwartbaren Pöbler / alten Männer rufen: „Auf dich hat keiner gewartet!“, „Die fetten Jahre sind vorbei!“, „Du hast den Hype um junge Literatur verpasst!“, „Du hast nichts zu erzählen!“ Ich weiß nicht, ob ich gut bin. Doch ich werde besser, je klarer ich spreche. Je mehr ich weiß. Jeden Tag finde ich kürzere Sätze – für kompliziertere Zusammenhänge.

094_Ich will den besten Roman schreiben, den ich zu schreiben in der Lage bin. Er heißt „Zimmer voller Freunde“: 400 Seiten sind fertig. Ich arbeite seit vier Jahren, jetzt an Kapitel 21 von 31. Ich habe noch keine Aussicht auf den passenden Verlag. Ich liege oft wach.

093_Ich will von 17 Jahre alten Mädchen im Freibad gelesen werden.

092_ … und von John Updike-, Dietmar Dath-, Stewart O’Nan-Leser*innen, den Fans von „Mad Men“, „Girls“, „Willkomen im Leben“ – und allen Leuten, die von den Neunzigern bis heute erwachsen wurden und sich oft besser von Figuren, Geschichten verstanden fühlen als von Nachbarn / Eltern. Ich will ein Autor sein, der Menschen einfällt, wenn sie „Coming-of-Age“, „Popkultur“, „Dorfjugend“, „Medien im Alltag“, „Clique“, „Ensemble-Drama“ oder „Freundschaft“ hören. Ich will Themen besetzen. Erzählen, was andere Bücher verkitschen, verlachen, versemmeln.

091_Immer will ich sagen: „Fünf Jahre lang habe ich in Hildesheim studiert“, denn ich lebte dort von Herbst 2003 bis Winter 2008. Dann bin ich nach Toronto (drei Monate Praktikum), und seit 2009 schlafe ich im alten Kinderzimmer im Dorf meiner Mutter und schreibe jeden Tag – zehn Minuten Fußweg Richtung Metzgerei – allein im unmöblierten Haus meiner toten Großeltern. Bis 2013 zahlte ich weiter Studiengebühren; am Ende fast 2500 Euro pro Jahr. Denn erst im 19. Semester war „Zimmer voller Freunde“ weit und robust genug, dass ich mich der Diplomprüfung stellen wollte. Ich war fünf Jahre an der Uni. Doch über neun Jahre lang Student. Oft mit der Angst, nicht eingleisig, beflissen genug zu sein.

090_Ich will nicht jammern. Nur deutlich sagen: Ich bin angespannt. Mache mir meine Texte nicht leicht. Achte jeden Leser*, dessen Zeit und Kopf ich krallen darf. Und kann oft selbst kaum glauben, wenn Redakteur*innen und Veranstalter*innen für meinen Einsatz zahlen.

089_Ich will nicht, dass mein altes Kinderzimmer mein Lebensmittelpunkt bleibt. Nächste Woche werde ich 31.

088_Ich will weiter. Ich will fertig werden. Ich will den zweiten Roman schreiben!

087_Ich will mit Menschen reden, die mehr wissen als ich – auch: über meine Themen.

086_Ich will nicht anfangen, aus einer Position des Enttäuschtseins, Mich-zu-kurz-gekommen-Fühlens zu klagen, dass mir der Buchmarkt, Literaturbetrieb, Verlags- und Medienlandschaft keinen Platz lassen. Ich habe den großen Sprung noch nicht gewagt. Ich arbeite noch – allein, im Stillen, sehr konzentriert – daran, mich für die Orte, an die ich will, zu qualifizieren.

085_Ich will: Neben Denis Scheck und Iris Radisch, Lena Dunham und Greg Rucka, Leif Randt und Terézia Mora, Cory Doctorow und Kathrin Passig. Und: Alan Sepinwall.

084_Ich will Leser*innen, Freunde, Follower*innen, Kolleg*innen, Lehrer*innen, Role Models, Verleger*innen, Schüler*innen, [05] Facebookfreund*innen, Facebookfreund*innen-die-Freunde-werden, Facebookfreund*innen-Empfehlungen. Dialogpartner*innen. Mitstreiter*innen. Ich will keine Fans… und will kein Fan sein.

083_Ich will verstanden werden. Ich will verständlich sein. Ich will ein Publikum.

082_Ich will nicht wählen müssen – zwischen Essays und Romanen. Die (wenigen) Hildesheimer Absolvent*innen, die eine zugkräftige Autoren-Vita brauchen, vernebeln gerne den Creative-Writing-Schwerpunkt und lassen den Journalismus fallen: „Er studierte Literarisches Schreiben“, „Sie studierte am Institut für Literatur“. Für mich bitte weiterhin – deutlich, empathisch, glücklich: „Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus.“ Ich bin beides – Autor und Journalist. Und, formal: Diplom-Kulturwissenschaftler.

081_Ich will glauben, dass mein Abschluss einen Unterschied macht – und, dass es richtig war, fünf Jahre lang um dieses Diplom zu zittern. Doch ich musste lachen, als ein Zuhause-Freund gratulierte: „Jetzt werden sich deine Honorare ändern! Du kannst überall sagen: ‚Ich schreibe keinen Text für 100 Euro! Ich bin diplomiert! 1,0!’“

080_Ich will niemanden versorgen, pflegen. Ich will meine Zeit von meiner Arbeit bestimmen lassen – die Ziele, Rhythmen, meinen Lebens-Radius nicht von Schlaf, Hunger, Launen, tausend Ansprüchen, Bedürfnissen eines Tieres / Kindes abhängig machen.

079_Ich will keine Pflanzen. Ich will keinen Garten.

078_Ich will nichts anbauen, gießen, ernten, backen, zubereiten. In Einmachgläser kippen. Ich will keine Schnittmuster beachten, Tutorials befolgen. Ich will keine Rezepte nachkochen und mich nicht daran messen lassen, wie nah die Dinge, die ich erschaffe, den Vorgaben und Regeln anderer Menschen kommen.

077_Ich will keine Küche. Ich will keinen Herd. Egal, wo ich gerade wohne: Ich esse fünf, sechs Tage am Stück nichts Warmes. Nutze drei, vier Monate lang keine Töpfe / Pfannen / Mikrowellen. Im Februar esse ich Hummus, Vollkornbrötchen, Datteln und weiße Schokolade. Im Januar aß ich Käse, Knäckebrot, Bulgur und Bananen-Müsliriegel. Jeden Tag.

076_Ich will niemals vor einem Kind stehen, das – zu Recht! – sagt: „Wenn DU Büchern weniger Zeit geschenkt und MIR mehr Zeit geopfert hättest, wären heute alle glücklicher.“

075_Ich will kein Haus, keine Wohnung abbezahlen. Ich will kein Nest bauen. Keine Wurzeln schlagen. Ich will nichts renovieren oder instand halten. Ich will kein Hauptmieter sein. Ich will keine Kehrwoche machen. Ich will keinen Cent und keine Stunde für „Gemütlichkeit“ bezahlen. Ich will nicht zu IKEA.

074_Ich will nie wieder tanzen gehen. Ich will nie wieder eine Hecke schneiden. Ich will nie mehr mit Freunden in ein Ferienhaus… und dann zu fünft im Supermarkt verhandeln, wie viele Eier man fürs Frühstück kaufen darf. Ich will nie wieder Kartenspiele spielen. Ich will nie mehr zum Zirkus oder an die Niagarafälle. Ich will nie wieder einen Film mit Monty Python, Will Smith und / oder Hobbits sehen. Ich… hoffe, dass ich nie wieder rauchen will.

073_Mein Leben wird perfekt, wenn ich nie mehr auf Busse oder Fahrräder angewiesen bin, um an die Orte zu kommen, die ich brauche.

072_Ich will nicht auf die anderen warten. Ich will nicht schlendern oder im Kreis laufen. Ich will nie „einfach mal so kucken“. Ich will keine Ausflüge, Spaziergänge. Ich will nicht trödeln. Ich will keine Angst haben, aus dem Schritt zu fallen. Ich will keiner Route folgen. Ich will nicht anführen – und nicht hinterher trotten.

071_Ich will jeden Monat ein Dutzend Bücher entdecken. Ich will in Buchhandlungen stehen, durch 3000 Titel blättern. Ich will die 100, 120 besten lesen, jedes Jahr. Und Comics! Und Theaterstücke! Ich will Artikel schreiben. Empfehlungen geben – oder Warnungen aussprechen. Ich will Autor*innen vorstellen. In Jurys sitzen. Listen bloggen: Ich will mit Büchern leben.

070_Ich will Ohrstöpsel benutzen – aber keine Scheuklappen tragen.

069_Ich will nie ohne Kamera, Notizbuch, offene Fragen und Erzähl-Absicht durch etwas Neues gehen. Immer auch Beobachter sein – für eine interessierte Öffentlichkeit. Ich will bei allem, dem ich mich aussetze, Texte und Leserschaften mitdenken.

068_Ich will Hagumi Hanamoto zitieren, eine 21jährige bildende Künstlerin aus Chica Uminos Selbstfindungs- und Kunsthochschul-Manga „Honey & Clover“: „Weißer Marmor. Wie teuer der wohl ist? Und wie hart? Wie arbeitet man wohl damit? Ich habe noch nie mit Stein gearbeitet. Es gibt so vieles, das ich gerne ausprobieren möchte. Ich kann sie ausgebreitet vor mir sehen. All diese unendlich vielen Dinge, die ich gerne erschaffen würde. Jedes Mal, wenn ich eine neue Schachtel öffne, springen mir so viele Fragezeichen entgegen. Ich fange sie Stück für Stück ein. Ich ringe mit ihnen, schmecke sie und schlucke sie herunter. Danach gebe ich ihnen einen Namen und bringe sie an den Ort zurück, an den sie gehören. Ich verbringe den Großteil meiner Zeit damit, genau dies immer und immer zu wiederholen. Ich würde gerne jede einzelne dieser Schachteln öffnen. Doch ein einziges Menschenleben ist dafür zu kurz. Wie schön wäre es doch, wenn ich 400 Jahre lang leben könnte.“

067_Ich will jedem, der mich als Lektor, Kritiker, Scout, Übersetzer, Autor engagiert, alles geben.

066_Ich will keine „Neben“jobs. Jeder Auftrag übernimmt mein Leben / Denken für Tage und Wochen. Ich finde keine Balance. Kein elegantes Gleichgewicht. Nur die Befriedigung, zwischen Klient*innen und Idealen, bezahlten und pro-bono-Jobs, kurzen Texten und Lebensprojekten zu wechseln, oft mehrere Male in einem Monat. Alles macht – hintereinander! – Spaß und Sinn. Nur „nebenbei“, „ein bisschen“, „peu à peu“, „nach Feierabend“ klappt bei mir… überhaupt nicht.

065_Ich will keine BWL-Bachelorarbeiten des 22jährigen Nachbarjungen Korrektur lesen, der als Trainee bald fünfmal so viel Geld hat und in Stuttgart oder gar Frankfurt (!) ein glanzvolles neues Leben beginnt. Doch abzusagen wäre arrogant – und würde mich für Jahrzehnte unter einem Erdrutsch schlechten Karmas begraben, hier im Dorf.

064_Ich will ein glanzvolles neues Leben beginnen. Im Ausland.

063_Ich will keine Angebote ausschlagen. 2006 fragte Stephan Porombka, ob ich seine Hilfskraft werden will. Ich brauchte zwei Tage, um zu mailen, dass ich meine Zeit zum Lernen / Lesen behalte. „Na – wenn dir Selbstverwirklichung wichtiger ist…“ Im Herbst lehnte ich ab, das Journalismus-Seminar zu PROSANOVA 2014 zu leiten. „Mich ehrt die Anfrage. Aber zurück in diese lokalen Kollektiv-Projekte? Mein viertes PN-Festival? Das wäre wie Sitzenbleiben. Eine Strafe!“ Alle anderen bezahlten Jobs und Aufgaben… nahm ich an.

062_Ich will dozieren. Ich will auf Podien – als Gast und Moderator. Ich will Autor*innen befragen. Ich will in Seminare. Ich will frei sprechen. Ich will zu Youtube.

061_Ich will realistisch sein: Pro Jahr schaffe ich 100 druckfertige Seiten Prosa. 12 Artikel, fünf, sechs Essays, drei Dutzend Blogposts und, als Leser (…ist das Arbeit oder Erholung?) 100 Romane und 150 Comics. Daraus ein Einkommen zu schlagen, das mir erlaubt, 12 Monate lang ein Zimmer zu mieten und ein erwachsenes, eigenes Leben zu führen… klappt nicht, bisher.

060_Ich will die Texte lesen, die meine Hildesheimer Freunde und Nicht-Freunde zum Thema Geld / Schreibschule / Elternreichtum vs. Erfahrungsarmut verfassten. Ich kenne Flo Kesslers – wichtige – Polemik. Ich warte auf die Berichte der „Diplomschriftsteller im Beruf“. Ich las die Flut schlechter Feuilleton-Repliken der ersten Wochen… und ein paar tolle, brauchbare Antworten von Dietmar Dath, Jan Decker / Bertram Reinecke und, besonders: Peer Trilcke. Ich selbst will – hier – kein sechstes Mal beschreiben, was Hildesheim schön / schrecklich macht. Im Herbst 2013 führte ich ein langes Interview, warum kaum Absolvent*innen meines Studiengangs vom Schreiben leben. Im Frühling 2012 schrieb ich im Vorwort der jährlichen „Landpartie“-Anthologie über die Beklemmung, in einer trüben, verkniffenen Kleinstadt die eigene Stimme zu finden. 2008 machte ich eine 20 Seiten lange Collage meiner Tagebücher aus dem ersten Semester (Link: Kleinauflage, vergessener Text!) und 2006 betreute, montierte, lektorierte ich ein ganzes Buch aus 16 Tagebüchern des Schreiber-Jahrgangs 2005 [24] (Link: Kleinauflage. Vergessene, vergriffene, grandiose 378 Seiten!). Wer lesen will, warum mir Hildesheim viel brachte – nur keinen Spaß: „Kulturtagebuch. Leben und Schreiben in Hildesheim“, ein Text von 2007, in meinem Blog.

059_Ich will NIE sagen müssen: „Im Vergleich zu allen Kompromissen und Enttäuschungen später war meine Hildesheim-Zeit doch halbwegs schön.“

058_Ich will mich zügeln. Wenn ich NOCHMAL irgendwo schreibe: „Kurz nach bestandener Eignungsprüfung lud mich meine Mutter in ein mexikanisches Restaurant am Bahnhof ein – doch schon im ersten Semester wurde daraus ein Matratzen-Outlet, und heute ein Ofen-Discounter, ‚Wir heizen Hildes Heim‘: Mit Freunden essen gehen kam dann nicht vor, die nächsten fünf Jahre.“…boxen mir Kleinstadtheld*innen, die all das mehr genießen konnten als ich (Kurze Wege! Keine zu fremden Gedanken! Gebäude wie Hogwarts und jeden Tag lecker Einheits-Suppe und Kirschkuchen mit immer-gleichen-also-harmlosen 300 Mädchen, 40 Jungs am Campus!) ins Gesicht.

057_Ich will mich freuen: Mein Studium war schroff, packend, dramatisch, fordernd, hart – eine Serie toller Zumutungen. Und ich will kotzen. Denn zwischen 20 und 25 konnte ich fast jede Nacht in Büchern bleiben – ohne Angst, jemanden / etwas zu verpassen. Wozu diese Stimmung sinnlosen Verzichts und Mangels? Stumpfsinn, Provinz-Monotonie? Immer gleiche Großsprecher in jedem Seminar, jeder Redaktion – Schnappfische im trübseligen Teich? Hanns-Josef Ortheil würde lachen. „Dein Studium, lieber Stefan, war ‚hart‘, weil DU dich überall verbeißt. Dein Hildesheim war ‚eng‘, weil DU verbissen denkst.“ Ich bleibe dabei: Wer sich in Orte, Menschen, Ideen stürzen will, findet dort ein Becken – nicht tief genug. Wer sich verbeißen will – muss anders leben. Anderswo! Schreiber*innen meiner Betriebstemperatur kämpfen, arbeiten, probieren – wie blöd. Gab ja nichts anderes zu tun: Wir hatten ja nüscht.

056_Ich will urbane Freund*innen. Ich will prekäre Freund*innen. Ich will politische Freund*innen. Ich will queere Freund*innen. Ich will Freund*innen aus visible minorities. Ich will ein „Wir“ mit Leuten, von denen man mir seit 30 Jahren sagt, dass sie nicht recht „zu uns“ gehören, kaum ins Gewicht fallen, hier. Ich will wache, schnelle Freund*innen. Ich will schreibende Freund*innen. Ich will bloggende Freund*innen. Ich will hungrige, leidenschaftliche, wütende Freund*innen. Menschen, die viel wissen – und noch mehr wissen wollen. Ich will meine fünf, zehn Jahre alten Freundschaften pflegen. Über die fünfzehn, zwanzig (!) Jahre alten schreibe ich den Roman. Ich will mehr Blickwinkel. Ich will an meinen Freund*innen wachsen. Ich will Pluralität.

055_Ich will meine Kultur verstehen. Und dann noch eine – und NOCH eine: Ich will in mehr als EINER Gesellschaft leben. Ich will die taz und MSNBC, Coverspy und Globe and Mail, ich will Amerika und Kanada und Deutschland aus den Unterschieden heraus mitschreiben: Ich will keine Weltkarte durcharbeiten. Keinen Urlaub machen, keine Sehenswürdigkeit abhaken. Ich will nicht VIEL sehen – aber gründlich, monatelang. Ich will in Hong Kong, Tokio leben. Ich will New Yorker werden. Oder Torontonian.

054_Ich will 40, 50 Essays, Kritiken, Reportagen lesen – jeden Tag.

053_Ich will Debatten, Öffentlichkeit, Feeds und Panels. Ich will Stimulation.

052_Ich will meine Einnahmen 2013 offen legen: Ich schrieb drei Texte für ZEIT Online (und zwei großeunbezahlte fürs Comic-Ressort des Berliner Tagesspiegel), half einem siebzigjährigen US-Jazzmusiker mit Formularen für seine Heirat am Standesamt Wien, übersetzte (fürs Goethe-Institut) ein Essay von Tanja Dückers ins Englische, (für private Klienten) den Lebenslauf einer kanadischen Mezzosopranistin und den Nachruf der deutschen Großmutter einer US-Literaturagentin ins Deutsche, vier Wochen lang mit Hildesheimfreund Lino eine Enzyklopädie zu Marvel-Superhelden (Englisch – Deutsch) für Random House und, für die Spiele- Agentur von Hildesheimfreund Lutz, eine Woche lang Spaßtexte und Spielregeln zur Weihnachts-Betriebsfeier eines Berliner Startups (Deutsch – Englisch). Ich dolmetschte für einen New Yorker Autor, der Ostdeutsche mit Behinderung zu DDR-Erfahrungen befragt, führte fürs Hildesheimer Alumni-Netzwerk ab.hier.kultur ein Interview zur Frage „Geld oder Liebe?“, war Liveblogger und Podiumsgast zum Thema Social Reading auf der Hildesheimer Tagung lit.futur, half einem deutschen Verlag, ein Web-Portal für anspruchsvolle junge Bücher zu konzipieren. Zusammen waren das gut vier Monate Arbeit. 2800 Euro Honorar. Genug, um für Oktober und November in New York zu leben. Zum ersten Mal.

051_Ich will Romane finden. Lektorieren! Ich will neue Bücher scouten für deutsche Verlage – kanadische und US-Titel entdecken. Ich will literarisch übersetzen! Comics und Jugendbücher empfehlen. Viel mehr Autor*innengespräche führen! Portraits schreiben und Texte übers Fernsehen, Kuratieren, Digitalkultur! Ich will Gebärdensprache lernen.

Eine verwaschengraue Hauswand, ein Baar Bäume, Gras. An einem Baum lehnt ein rosa Fahhrad, Efeu klebt am Haus. Was so rumsteht: ein weißer Gartenstuhl, eine Mülltonne, eine Wassertonne, ein großer Topf und der Autor Stefan Mesch.

050_Ich will mehr Zeit.

049_Ich will mich nicht belügen: Wenn ich NICHTS anderes mache, brauche ich für ein Kapitel „Zimmer voller Freunde“ sechs Wochen. Bei elf Kapiteln sind das 66 Wochen. Bis dahin ist 2015, Mitte Juni. Wie oft sage ich Silvester, allein: „Du hättest viel mehr Jugendbücher empfehlen müssen! Portraits schreiben – und Texte über Digitalkultur!“ (?) Und wie oft andererseits: „MEIN Buch braucht meine Zeit und meinen Kopf – noch so viel mehr, von beidem.“ (!)

048_Ich will eine Warnung aussprechen: Wäre das ein Zwinker-Schmunzel-Text, um durch meine Freelance-Welten zu führen / neue Leser*innen anzusprechen… ich wäre jetzt durch. Hätte Charme versprüht. Schwerpunkte gesetzt. Tatsächlich aber kippt mir diese Bilanz seit Tagen von „Yeah: Das bin ich!“ zu „Hat der Mann KEINEN Plan B?!“, von „Großbaustelle, charmant“ zu „Setz dich ins Dunkle, Stefan: Denk nach, was du verpatzt!“. Ich habe kein Recht, zu klagen. Doch ich bin auch nicht stolz / sortiert / am Ziel: Lasst mich mein Buch abschließen. Verlag, Leser*innen, Echo finden. Dann steht mein Lebenstraum zur Diskussion. Dann weiß ich, welche Plätze ich mir verdiene. Noch bin ich unterwegs.

047_Ich will Experte sein. Immer besser werden – in allem, was ich kann.

048_Ich will mein Potenzial ausschöpfen – in MEINEN Disziplinen. Ich will, was ich nicht kann / nie können will, so weit umgehen / fort stoßen wie möglich; statt müde halbwegs halbherzig verzettelt mittelmäßig Schritt zu halten, überall.

045_Ich will kein Handy finanzieren – oder stündlich auf Facebook reagieren. Ich will nicht täglich E-Mails schreiben, telefonieren. Ich will nicht jede Woche zur Post oder auf Skype – und ich bin froh um jeden Monat ohne Zugfahren, Staubsaugen, Familienfeiern, Rasieren. Ich will jede Freundschaft voller führen. Jedem näher rücken. Für alle immer ÜBERALL sein. Aber eigentlich…nicht.

044_Ich will kein Geld ausgeben, um erreichbar zu sein.

043_Ich will nicht erreichbar sein.

042_Ich will eine Tür – damit ich eine Tür abschließen kann. In den vier Wochen, die Freundin Lena durch Jamaika reiste, mir ihre Karlsruher Wohnung überließ, schrieb ich 15 Seiten Roman – und hielt Logistik / Störungen so fern wie möglich. Tagelang keine Menschen sehen, tut mir gut. Über Wochen die immer gleichen Menschen treffen zu müssen, macht mich fertig. Neil Gaiman dankt in seinen Büchern oft Tori Amos, denn wenn sie tourt, hütet er das Haus und schreibt. 2009 fiel mir nicht schwer, Handy / Auto / die Hildesheimer Sparversion eines „Studentenlebens“ aufzugeben, zurück aufs Land zu ziehen. Doch Freiheit, Luxus, Verführung, ganz für meine Ziele zu leben? Nichts balancieren, niemanden anlächeln zu müssen?

041_Ich will nichts kaufen. Das trifft sich gut – so lange ich nichts bezahlen kann.

040_Ich will mitdenken, dass man sich diese Art, kein Geld zu haben, auch erstmal leisten können muss: „Wir leben alle von unseren Familien“, schreibt Flo. „Wer außer uns hätte auch in den wirtschaftlich bewegten Zeiten der nuller Jahre Motivation gehabt, neun Semester lang über eigene Kurzgeschichten-Ideen zu diskutieren?“ und: „Für Endzwanziger bedeutet es nun einmal eine Fundamentalentscheidung gegen jegliche Art von realistischer Zukunftsplanung, nach dem Studium über Jahre hinweg an einem möglichst fulminanten Debütroman zu laborieren.“

039_Ich will nicht durch mein Dorf laufen allein, vom Elternhaus (…das ich nie bauen / abbezahlen könnte) zum Großelternhaus (…Strom, Internet, Heizöl, Müllmarke: zahlt meine Mutter), die Worte meines Bankberater-Freundes im Ohr: „Wenn du heute stirbst, hattest du nichts. Keine schöne Zeit. Kein fertiges Buch. Keine Früchte für deinen Verzicht.“

038_Ich will mit jedem Cent, den ich mir zusätzlich verdiene, Zeit in New York oder Toronto erkaufen – statt „richtiger“ Schuhe oder Maklercourtage in Hamburg. Ich will für eine Zugfahrt nach Neukölln keine 200 Euro zahlen – wenn mich ein Flug nach Nordamerika 450 kostet. Ich will einem Lebenslauf voller Orte wie Sinsheim, Hildesheim, Heibronn bitte nie „heute lebt er in München“ nachsetzen – oder: „seine Bücher erscheinen in Ludwigsburg und Schwetzingen.“

037_Ich will keinen einzigen besten Freund. Ich will nicht EIN Zuhause. Ich will keine Filme zweimal sehen und keinem schlechten Buch acht Stunden opfern. Ich will immer neue, andere Gerichte in immer anderen, neuen Restaurants bestellen. Ich will nie wieder eine Sneak Preview besuchen. Ich will meine Lieblingsband, meine Lieblingsautor*in und meinen Lieblingsfilm noch nicht gefunden haben. Ich will GRANDIOSE Bücher – und nutze alle Filter, Netzwerke, Kritiker*innen, Händler, um sie zu finden. Ich will Herausforderungen. Steigerung! Ich will, dass sich mein Leben weitet. Ich will das Beste vor mir haben.

036_Ich will mich zwei- oder dreimal jedes Jahr mit Menschen, bei denen ich mich sicher fühle, betrinken. Manchmal nippe ich an Bier, aus Höflichkeit. Aber BERAUSCHT (und also: mit passenden Leuten am passenden Ort) war ich zuletzt… 2011? 2010?

035_Ich will mir Freundinnen und Freunde einladen, die Zeit zum Schreiben brauchen oder Auszeit im Beruf. „Hier ist ein ganzes Haus, am Feldrand, leer: Nimm dir zwei Monate im Sommer! Arbeite an deinem Manuskript!“ Doch keiner findet im Büro den passenden Absprung. Alle bleiben in der Stadt. Oder sie haben Angst, wochenlang nur zu schreiben: „Müsste ich in solchen Dörfern leben – ich hätte mich umgebracht.“

034_Ich will nicht ständig Absolvent*innen – früher: genau so motiviert wie ich – anlächeln / auf die Schulter klopfen und sagen: „Du bist jetzt Pressesprecher*in? Endlich!“, „Du machst Broschüren für Anwält*innen? Dann wurde ja alles gut.“ Lieber will ich Martin Kordić glauben, wenn er sagt: „Die Alltagsstruktur, die mir der Beruf vorgibt, ist total wichtig für mein Schreiben. Ich würde niemals ausschließlich schreiben wollen oder können. Wenn ich nicht Lektor wäre, würde ich mich um einen anderen Job bemühen. Ich hätte das Buch nicht schneller geschrieben, wenn ich in den letzten fünf Jahren nicht gearbeitet hatte.“

033_Ich will, dass alle wenig-schreibenden Schreiber-Freundinnen und -Freunde solche Kordić- Kurven kriegen.

032_Ich will kein junger Autor sein – vor Deutschlehrer*innen, die rufen: „Junge Literatur? Da kam uns auch schon was ins Haus: Thomas Meinecke, Juli Zeh, Birgit Vanderbeke. Da tut sich allerhand, neuerdings!“ Wie lange muss ich mit jungen Autor*innen konkurrieren, die meine Eltern sein könnten? Und Bücher für meine Ex-Lehrer*innen schreiben?

031_Ich will Ann Cotten umarmen, als sie 2008 unsere charmelos überspannte BELLA triste-Redaktion „Hildesheimer Bubi-Mafia“ nennt. Und ich will Flo zustimmen, der über angepasste Ich-habs-nötig-Schreiber*innen sagt: „Das ist der Heintje-Effekt der deutschen Literatur: Immer jüngere Autoren verhalten sich immer braver, immer älter.“ Ich will dem Universum danken, dass mein Ziel Schreiben bleibt – nicht Schriftsteller-Sein: Ich brauche Verlage, um 1) breiter gelesen, schneller gehört zu werden, 2) öfter mein Dorf verlassen zu können und 3) mir noch mehr Denker*innen, Idealist*innen, Nerds ins Leben zu locken. Doch am Betrieb und seinen Funktionär*innen reizt mich wenig.

030_Ich will nicht promovieren: Im Deutsch-LK, zum Abitur, hätte ich gerne lebenslänglich Deutsch-LKs geleitet. Im Studium gab ich Seminare. Tatsächlich aber suche ich etwas anderes: Räume voll schlauer Menschen, auf Augenhöhe. Ein glücklicher Professor wäre ich nur, falls Professoren alle Tage damit verbringen, jedem (und sich gegenseitig) Artikel und Bücher zu empfehlen.

029_Ich will keine Fixkosten, Verträge. Ich will keine Jobs, die ich nie mehr zu kündigen wage. Ich habe keinen Bausparvertrag – und keine Fesseln? / oder: …und keine Perspektive?

028_Ich will die Buchmessen in Frankfurt, Leipzig sehen. Aber nicht als Zaungast, Nur-Besucher. Ich will seit 2005 zum open mike der Literaturwerkstatt Berlin – bewarb mich jedes Jahr. Und kam 2012, nach sieben Absagen, ins Finale

. Ich will seit 2005 zum Literaturkurs Klagenfurt – bewarb mich jedes Jahr. Erhielt neun Absagen, bisher. Ich will für „Zimmer voller Freunde“ keine staatliche Förderung / Stipendien. Ich will keiner Steuerzahler*in sagen müssen: „Erst war ich Schreibschüler, jahrelang. Dann habe ich von Geld, das… Flüchtlingen helfen könnte, 600 Seiten über Zorn und Sex von Elftklässlern geschrieben.“

027_Ich will dazu Freund Christian Huberts zitieren: „Was für ein Privileg, sich willentlich, weil das Privileg nicht öffentlich thematisiert werden soll, gegen Fördergelder / Stipendien entscheiden zu können!“, „Was für ein Privileg, eine Schreibschule besuchen zu können, statt vom JobCenter zu einer Berufsausbildung erpresst zu werden (obwohl man schreiben möchte / kann)!“

026_Ich will nicht kokettieren.

025_Ich will beantworten, was ich als Teilnehmer des „Diplomschriftsteller im Beruf“-Projekts gefragt wurde: „Wie ist das eigentlich, wenn man nach einem Studium auf der Straße sitzt und einen richtigen Beruf ergreifen muss? Über welche Wege kommt man da hin? Was ist euch, ganz konkret, danach mit eurem Abschluss passiert?“

024_Ich will mich jeden Tag freuen, dass ich noch keinen „richtigen Beruf ergreifen musste“. Und stimme Christian zu: WAS für ein Privileg!

023_Ich will – statt diesen Cocktail meiner Ängste noch schaumiger zu schlagen – sortieren, wo Ausschlüsse mich betreffen, weil Zeitungswesen / Buchkultur seit Jahren siechen: Flaue Honorare? Enttäuschte Leser*innen, übermächtige US-Serien, dröges deutschsprachiges Erzählen? Entzauberte, marode Verlage? Tausend tolle Leute meines Alters – die Texte so lange gratis liefern, bis ihnen Erwachsenen-Verpflichtungen alle Zeit / Träume fressen? Buchmarkt, Debatten, Mainstream und TV, in dem auf ewig Baby-Boomer zu anderen Baby-Boomern sprechen? Die Brandstifter-und-Ausverkaufs-Rhetorik vieler Feuilletons, ob es nicht ohne ginge, eigentlich: Braucht Deutschland…Buchhändler*innen? Gebühren-TV? Freies Theater? Gender-Studies-Professuren? Rundfunkorchester? Lyrik? Goethe-Institute? Die Künstlersozialkasse? Meine nicht-prekären Freundinnen und Freunde sagen: Nö. Parkplätze in der Kreisstadt! Und noch ein Schwimmbad, bitte.

022_Ich will – abseits solcher struktureller Sorgen – die Ausschlüsse benennen, die Stefan Mesch wählt… weil er Stefan Mesch sein will: Braucht mein Debüt-Roman 150.000 Worte – statt üblicher 70.000? Muss ich acht Bücher lesen – bevor ich Redakteur*innen einen Artikel anbiete? Bricht mir ein Zacken aus der Krone, weil ich bei meiner Mutter übernachte – um meine Projekten nach meinen Ansprüchen auszuführen?

021_Ich will zuletzt drei Ausschlüssen winken, die mir erspart bleiben: In einem Fachbereich mit 80 Prozent zierlichen, weißen Frauen mit bunten Tüchern im Haar konnte ich mir sicher sein, in jedem Seminar beachtet / erinnert zu werden. 30, 40 Euro für gebrauchte Bücher kann ich fast monatlich am Konto meiner Mutter abrechnen. Und knapp acht Jahre Unterhalt-plus-Kindergeld von meinem Vater – 560 Euro – finanzierten Studium. Essen. Auto. Miete… und später Monate in Toronto.

020_Ich will den Leuten, die sagen „Deinem Leben fehlt es an allem!“ die Leute vorstellen, die sagen: „Dein Leben ist beneidenswert – und Einsamkeit / Isolation ein kleiner Preis!“

019_Ich BIN MIR SICHER, dass man noch viel mehr streichen, wegnehmen könnte – bevor ich aufhöre, zu schreiben: Wenn es noch reizarmer, bedrückender, unbequemer wird im Dorf – komme ich als Autor trotzdem erstmal weiter. Los!

018_Ich will nicht wissen, ob viele Texte / Kurzgeschichten, die ich in Hildesheim diskutierte und verbessern half die allerletzten Geschichten waren, die meine Freundinnen und Freunde schrieben: „Höchstens drei von euch machen später mit Romanen Karriere“, klärte Hanns-Josef Ortheil schon in Woche 1. Wir waren 14 Anfänger*innen – und schreiben heute, zehn Jahre später, fast alle noch in irgend einer Form. Doch „Roman-Autor(in), veröffentlicht“ dürfen sich tatsächlich nur Kai und Nora nennen, bisher. Für mich war Hildesheim eine Schreib- und Lebensverhinderungs-Anstalt. „Durchlässig wie Badeschaum“? „Offene Türen“?! Oft half über Monate nur grimmiges Weiterschreiben – während Freundinnen und Freunde heulten und den Kübler-Ross-Phasen des Aufgebens folgten wie in jeder anderen Casting-und-Reality-Show, ihre Romanversuche löschten, Nischen der Kultur-Vermittlung suchten, die schneller Lob oder bessere Bezahlung brachten. (Dass bei diesem Ausharren, Weiterschreiben, Sich-nicht-Beirren-Lassen auch reiche Eltern oder ein Arztkind-Ego helfen – klar!)

017_Ich werde nie fragen, wie missglückt Hanns-Josef meine Hildesheimer Texte fand. Als Stimme in Seminaren fühlte ich mich ernst genommen, geschätzt. Doch für ROMANFÄHIG / RELEVANT musste ich mein Schreiben vier, fünf Jahre alleine halten – und zwischen „Ich habe Stoff! Einen Plan! Und werde bald ein Romanprojekt beginnen!“ zu „Ich lege ihm jetzt die ersten 100 Seiten vor: Das ist tatsächlich diplomwürdig… hoffe ich.“ lagen bei mir 51 Monate Textarbeit, Angst, Durchhalten, Besser-Werden.

016_Ich will mir also vorstellen, was eine Neunzehnjährige fühlt, die ihre Texte 2006 oder 2007 in Hildesheimer Textwerkstätten / studentische Projekte trug: Stefan Mesch, Kai Splittgeber, Paul Brodowski und Thomas Klupp geben Tipps und lektorieren. Vom ersten Tag an warnen die Veteranen: „Wahrscheinlich wird das alles nichts.“ Bei BELLA triste kommen vier, fünf Bubis auf ein, zwei Frauen. Ob ALLE diese Gatekeeper Akademikerkinder sind (mit „hochrangigsten bundesrepublikanischen Eltern“?) kam mir als Frage zehn Semester lang nicht in den Sinn – denn Schnösel-Schreiber hatten iBooks, Dielenboden und noch nie „Buffy“ gesehen. Meine Freundinnen und Freunde stürmten Nebenfach-Seminare wie „Gender in ‚Akte X’“, „Fankultur bei ‚Xena, die Kriegerprinzessin’“ und trafen sich zu „Desperate Housewifes“. Einem Mann wurden in Hildesheim – schon, weil es wenige gab – oft andere Teppiche ausgerollt als einer Frau. Ironisch smarte Texte im Thomas-Glavinic-Ton fanden andere Resonanz als Comedy oder Science Fiction. Aber meine Gretchenfrage mit 22 war: „Magst du Pro Sieben?“, nicht „Haben deine Eltern Abitur?“. Ich habe mit Buffy, Xena und Buffy- / Xena-Fans studiert. Selten mit Flo Kessler. Und nie mit Blick auf bürgerliche Mauscheleien. Oder Bewusstsein für Klassismus.

015_Ich will nicht müde, larmoyant sein. Ich will keine halb-gelungenen, halb-durchdachten Texte absenden. Oder unter Zeit- / Gefälligkeitsdruck halbfertige Urteile fällen. Ich will keine Seiten überspringen. Ich will keine Schleichwege und Abkürzungen nehmen. Ich will nicht einknicken – auf der Zielgeraden.

014_Ich will empfehlen, von Hildesheimer Absolventen: Anne Köhlers „Nichts werden macht auch viel Arbeit“ (Kolumnen, 2010), Funny van Moneys „This is Niedersachsen und nicht Las Vegas, Honey“ (Memoir / Rotlicht-Reportage, 2012), jede Ausgabe der „Landpartie“ (Studiengangs-Anthologie, seit 2005) und die Literaturzeitschrift BUBI triste (…weil wir in Hildesheim oft VIEL schneller, gründlicher lernen, Texte anderer Leute toll herauszugeben – als eigene zu schreiben). Leif Randts „Schimmernder Dunst über CobyCounty“ (Roman, 2012) hat mich euphorisiert. Meine Schulfreund*innen und meine Mutter waren gelangweilt: Ich bin nicht sicher, ob das ein Buch für Schreibschul-Absolventen*innen ist… oder auch für echte Menschen. Zuletzt empfehle ich Ortheils „Wie Romane entstehen“ (Poetik, 2007), denn so oft mich sein Räuspern, Seufzen in Hildesheim aus dem Konzept brachte – so hilfreich und empathisch fand ich (…aus der sicheren Entfernung, als Leser!) Bildsprache und Ermutigungen dieses Texts.

013_Ich will noch lauter empfehlen, von Sari Botton: „Goodbye to all that: Writers on Loving and Leaving New York“, 28 persönliche „Wovon lebst du eigentlich?“-Texte von 28 Frauen in der gleichen Zwickmühle: a) Ich will schreiben!, b) Ich will leben!, c) Ich will New York! und später oft: d) Ich will Kinder / Familie! Lösbar sind solche Spannungsfelder kaum. Doch sie klug auserzählt und neu gedacht zu lesen, aus 28 Perspektiven, hilft schon viel weiter.

012_Ich will kein junger Autor sein, der keine junge Autor*innen liest: Ich will entdecken. Euphorisieren! Ich will – 2015, probehalber, für ein Jahr – nur Bücher nicht-weißer Autorinnen und Autoren finden… und nicht immer nur „Thomas von Steinaecker!“ (selbst auch schon Ende 30) rufen, wenn jemand klagt, dass es keine aufregenden jungen Stimmen gibt. Leute schreiben. Es ist mein Job – und ein Vergnügen –, sie zu finden.

011_Ich will mit vielen Menschen kommunizieren… ohne, sie sehen zu müssen. Ich will ihre Leidenschaften und Kultur, ihre Ängste und Lektürelisten und Brüche. Ich will durch ihren Kopf – nicht in ihr Wohnzimmer. Ich will, wenn trotzdem Zeit ist irgendwann, eine Woche lang zu einer interessanten Person ziehen – sie durch die Tage begleiten. Im Beruf erleben. Persönliche Fragen stellen: Ihren Alltag schreiben. Dann will ich in die nächste Stadt, zu anderen Menschen… und so in 52 Wochen 52 Portraits mit-leben.

010_Ich will schreiend fort rennen jedes Mal, wenn alte Leute sagen: „Nimm dir doch einfach mal ein bisschen Zeit! Hilf mir mal, meine Geschichte aufzuschreiben! Ich habe SO viel erlebt!“ …bevor ich MEINE Geschichte halbwegs selbstwirksam gestalten konnte.

009_Ich will nicht drüber nachdenken, wann ich den nächsten Menschen küsse. Oder nur irgendwo bin, wo Leute leben, die ich küssen will.

008_Ich will nie „Huhu: Wie geht es euch? Uns geht es gut! Liebe Grüße von den Meschs!“ whatsappen. Ich will nie sagen müssen: „Meine Partnerschaft und mein Zuhause sind mir das Wichtigste – danach kommt lange nichts.“ Ich will keinen Eltern applaudieren, die durch ihre Kinder leben. Ich will keine Hochzeit feiern helfen, auf der ich nur einen Partner mag – und die mich deprimiert wie die Beerdigung aller anderer, potenziell toller / glücksfähigerer Versionen dieses Menschen. Ich will nicht ständig Frauen weinen und Männer Bandsägen bedienen sehen. Ich will keine Freundinnen und Freunde, die auf die Pensionierung warten.

007_Ich will mit diesem dauernden „Ich will“ kein Manifest und keinen Katalog aus Forderungen / Vorsätzen aufstellen: Ich will – für mich allein – oft glauben, dass ich die selben Wünsche, Ansprüche, Mängel, Sehnsucht habe wie jeder sonst; im Grunde das selbe will wie alle anderen. Dieser Countdown will 100 Lebensziel- und Lebensführungs-Selbstverständlichkeiten sammeln, die MIR alltäglich, vernünftig erscheinen… bis wieder jemand sagt: „Stefan? DU willst so leben, okay – aber wer sonst?!“

006_Ich will einladen, diese Liste von vorne zu lesen – statt „will“ mit „kann“ oder „habe“: „Ich habe keinen Garten. Ich habe keinen Pflanzen.“, „Ich kann kein glanzvolles neues Leben beginnen, im Ausland.“, „Ich habe keinen Feierabend.“ Vieles in meinem Leben passt mir sehr gut – zum Glück. Denn ich habe keine so große Wahl, wie das „Ich will“ davor suggeriert.

005_Ich will jeden Winter nach Toronto – und konnte das 2009 bis 2013 für je drei Monate finanzieren. Ich will 2014 weniger jobben, viel mehr schreiben – und bin nicht sicher, wie ich den nächsten Flug bezahle. Letzten Herbst habe ich verstanden, dass ich für Monate nicht krankenversichert war – und will mich sofort schämen / entschuldigen, als meine Sachbearbeiterin fragt: „Sie haben bei ‚Monatseinkommen‘ angegeben: ‚ca. 300 Euro‘. Haupt-, nicht nebenberuflich? Was ARBEITEN Sie denn?“

004_Ich will hoffen, dass ich als echter Schriftsteller / veröffentlichter Autor in ein, zwei Jahren ein neues Level an Angeboten / Aufträgen / Honoraren freispielen kann.

003_Ich will mir Ideale leisten. Ich will Kapazitäten, um rumzuspinnen. Mich zu verrennen. Zu leben! Und ich will meine Hosen runter lassen: Ich brauchte für diesen Text sechs (!) Tage länger als geplant. „Bald steht er ja in deinem Blog. Immerhin!“ (meine Mutter) „Der letzte große, wichtige Text in meinem Blog hatte 700 Leser.“ – „Das reicht dir nicht?“ – „Für acht Tage Schreiben? Nein.“ – „Na ja. Dann druck es doch in einer Zeitung. Vielleicht in der ZEIT.“ – „…“

002_Ich will Privilegien verstehen. Den Markt. Und Mechanismen, die einigen von uns erlauben, noch weiter zu schreiben / zu reden / sich zu produzieren – und andere abdrängen. Ausbremsen. Verstummen lassen. Ich will niemanden letzte Texte schreiben sehen – denn ich stehe zwischen Massen talentierter Menschen, die „bald“ schreiben, „auch“ schreiben, „schon immer“ schreiben, „bestimmt“ schreiben wollen… morgen jetzt. Echt. Was unterscheidet uns? Motivation und Kraft? Prioritäten? Beharrlichkeit? Oder, dass meine Mutter Müllmarken und Heizöl zahlt – für mich? Und alles tun würde? Und an mich glaubt?

001_Ich will nicht daran denken, was ich verpasse.

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[Auf Anregung der kleinerdrei-Redaktion habe ich die Sprache dieses Textes noch einmal geschlechtergerecht angepasst. Zufrieden bin ich nicht: Ich hätte das von Anfang an beim Schreiben bedenken sollen – nachträglich lektoriert verliert mein Text Geschwindigkeit und Rhythmik. Anregungen / Links / Feedback zum Thema „geschlechtergerechte Sprache“? Gerne hier als Kommentar. Ich lerne noch!]

9 Antworten zu “Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf”

  1. Mirka sagt:

    Sehr spannend für mich zu lesen, die ganz viel von dem will, das du nicht willst. Danke für deine Einblicke, deine Träume, deine Ziele. Danke fürs Zeigen, wie unterschiedliche Listen mit Zielen sein können.

  2. Nora Estell sagt:

    Sehr schöner, motivierender Text. Vor allem, weil ich gerade einen Abschluss in einem geisteswissenschaftlichen Fach gemacht habe und nun an meinem ersten Romanentwurf sitze. Vieles, was du sagst, spricht mir aus der Seele.

  3. Jana sagt:

    Dein Text hat mich wirklich gefesselt. Obwohl noch viel jünger und in einer ganz anderen Lebenssituation, entdecke ich mich in einigen deiner Punkte wieder. Ich bin gespannt, was ich noch alles zu lesen bekomme, ab jetzt folge ich dir nämlich!

  4. […] 2014: Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf (personal essay) […]

  5. stefanmesch sagt:

    […] Christiane und ich wurden Netzfreunde – und sahen uns im Mai 2014, nachdem sie einem langen Text von mir und meiner Arbeit als Journalist / Blogger gelesen […]

  6. […] 2014: Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf (personal essay) […]

  7. […] Text über meine Arbeit: 2014 in “Irgendwas mit Schreiben: Diplomschriftsteller im Beruf” […]