Ahnungslos

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by jules-julian

In einer coolen us-amerikanische Großstadt an der Westküste. Die mit den vielen steilen Straßen. Ein japanisches Restaurant mit dampfenden Töpfen auf jedem Tisch. Wir sind zu viert und in diese angenehme Art von Smalltalk verwickelt, bei der gerade so viel harmlos Persönliches untergemischt ist, dass es unterhaltsam bleibt. Die Art, bei der sich gut skurrile Urlaubserlebnisse erzählen lassen. Mein Gegenüber hat da einiges zu bieten, er ist schon rumgekommen. War als Software-Entwickler in Asien, und ist nun eben in den legendären kalifornischen Hightech-Tälern. Das Wort Venture-Kapital fiel sicher irgendwann. Aber es war gar nicht so schlimm.

Irgendwann kommt eine Episode aus seiner Jugend. Mit 15 ist mein Gegenüber in den Sommerferien einfach losgetrampt – aus der Schweiz erst nach Deutschland, und dann langsam immer weiter gen Norden, bis nach London! Seine Eltern fanden das schon ok. Wenn er nun mal was erleben wolle… Sie rechneten wohl eh nicht damit, dass er weit kommt. Aber es sei gar nicht schwer gewesen, er wäre halt einfach etwas naiv an die Sache rangegangen, und er hätte unterwegs so nette Leute getroffen und etc. etc. Doch, während auch schon all seine anderen Erzählungen, das Software-Enwickeln in Asien, das Start-Up-Leben und das Venture-Kapital eher fern sind von meinen Lebenserfahrungen (bisher! wer weiß!), ist es diese kleine Geschichte, bei der ich plötzlich aus dem Gespräch auschecke.

Es fühlt sich an, als würde ich mich langsam entfernen und die Szene von außen sehen, wie wir vier da sitzen und er redet, angeregt und unterhaltsam, über sein abenteuerlustiges 15-jähriges Ich. Ich gucke aus der imaginären Distanz zu und fühle auf einmal diesen tiefen, tiefen Graben zwischen uns. Das Draußen-Ich schüttelt mit dem Kopf und kann es irgendwie nicht so richtig fassen, denn, das ist ja nicht das erste Mal und wird auch sicher nicht das letzte Mal sein, dass ich bemerke: da ist einer völlig ahnungslos. Er hat keinen Schimmer, dass ich zwar noch aufmunternd lächle, im Kopf aber irritiert und fern bin. Das ist eine nette Geschichte, denke ich mir. Aber sie wäre in meiner Lebenswelt niemals passiert.

In ein fremdes Auto steigen? Allein? Mit 15? Einfach losreisen? Undenkbar. „Einem Mädchen können Dinge passieren. Ein Mädchen muss sich vor bösen Männern in Acht nehmen. Ein Mädchen sollte nicht einfach so allein losziehen. Ein Mädchen muss sich schützen.“

Heute reise ich gerne auch mal allein. Und es gibt viele Frauen, die gerne allein reisen, und dabei auch mit Freude trampen. Mit 15 wäre mir das nicht in den Sinn gekommen. Ich war voll von jenen Ängsten und Ratschlägen und Bildern, in denen wir potentielle Opfer sind, die auf sich Acht geben müssen, und die ich heute wohl unter dem Begriff Rape Culture einsortieren würde. Sicher war es auch noch mehr als das. Eine Vorstellung davon, was ein Mädchen – ich – tun kann und tun sollte (und was nicht). Aber es ging mir in dem Moment gar nicht so sehr darum, dass ich mit 15 keinen filmreifen Roadtrip gemacht habe. Na buhu! Das haben viele nicht, aus den verschiedensten Gründen. So what. Ist doch eher unter “Luxusproblem” einzuordnen.

Aber diese Selbstverständlichkeit. Immer diese Selbstverständlichkeit. Es scheint mich aus seinen munteren Augen anzuspringen: die unhinterfragte eigene Freiheit – die auszukosten er die Mittel, die Voraussetzungen, das Selbstbewusstsein hatte (und hat). Die Freiheit, diese Freiheit so in Anspruch nehmen zu können, ohne Zweifel, dass die Gesellschaft sie ihm da so ausgelegt hat – bereit zum Gebrauch.

Ich war ihm nicht gram wegen seiner Geschichte. Der Abend lief weiter dahin mit Anekdoten, Gelächter und den Dämpfen der japanischen Fondues. Aber es war ein inneres Stolpern. Ein kleiner Krampf im Magen, irgendwie vertraut, schon weitaus schlimmer gehabt, aber trotzdem nie angenehm. Er kommt immer mal. Geschichten über jungmännliche Abenteuerreisen wurden mir schon einige erzählt. Schlimmer sind eigentlich die Talkshow-Männer, die Experten, die Stimmen-Haber. Deren Glaube an Recht und Berechtigung der eigenen Meinung so unerschütterlich und absolut ist, dass ich mit offenem Mund und riesengroßen Augen dastehe vor Erstaunen und Sprachlosigkeit und Wut, wie unglaublich weit weg dieses Innenleben von meinem zu sein scheint und wie ahnungslos und ignorant sie sind gegenüber allen Positionen, die nicht die ihre ist. Ein kleines bißchen davon steckt auch in meinem jugendlichen Abenteurer. Sein Nicht-Wissen, seine Ahnungslosigkeit für den emotionalen Schluckauf, der mich plagt, angesichts seines freiheitsverwöhnten Tatendrangs. Es fühlt sich nicht schön an, aber gesagt habe ich ihm ja auch nichts davon.

Zumal. Ich saß nun da, in dieser schicken Stadt, vor diesem leckeren Essen, auf einer tollen Reise. Dinge, die vielleicht nicht alltäglich für mich sind, aber erreichbar. Und so viele andere Dinge, die ziemlich selbstverständlich sind. Abitur, Studium. Meinen Freund zu küssen, ohne dass es jemanden schert. Niemand, der_dem meine Hautfarbe auffällt. Einfach so günstige, schöne Kleidung in meiner Größe zu finden. Unterm Radar zu fliegen, in so vieler Hinsicht. Ich habe sicher schon einige Krämpfe ausgelöst.

Und, wäre ich denn nun glücklicher, wenn er sein Abenteuer mit 15 nicht hätte machen können?

Das ist nicht der Punkt. Er und ich, wir sind auch eigentlich relativ egal. Nicht egal ist, wie wir diese Freiheit besser verteilen können. Weniger ahnungslos zu werden für das, was für uns selbstverständlich ist, und für andere nicht. Ahnung zu bekommen dafür, was das für sie bedeutet muss. Und warum das eigentlich alles so sein muss (und ob). Ja, das wäre schon nicht schlecht.

21 Antworten zu “Ahnungslos”

  1. Anne Wizorek sagt:

    Ich habe jetzt die ganze Zeit überlegt, was ich hierzu kommentieren könnte, aber ich glaube ich sage einfach nur: Danke! <3

  2. lress sagt:

    Da bin ich aber heilfroh, dass ich meine Freiheit in den 70ern ausleben konnte. Trampen war zwar nicht mein Ding, aber der Rest …

  3. Thomas sagt:

    Ein guter Impuls. Danke fürs Teilen! <3

  4. Thomas sagt:

    Noch was. Beim Lesen kam mir ein (noch unfertiger) Gedanke, der so halb mit diesem Thema zu tun hat. Ich musste über Personen nachdenken, die von sich sagen, das hätten sie alles “aus eigener Kraft geschafft”. Die mir erzählen, ihre Position im Leben sei nur ihr eigener Verdienst.

    Wir müssen keinen Milliardärsspross mit Geschäftsführerposten im familieneigenen Firmenkonglomerat betrachten, um eine solche Legende zu entlarven. Es genügt ein Blick auf Mittelklasse-Menschen. Von der Sorte gibt es durchaus noch genug, die in einer traditionellen konsum- und repräsentationorientierten, weiß, hetero, patriarchal genormten Struktur leben und dir erzählen wollen, der Mercedes-Kombi oder SUV, das Eigentum an der Doppelhaushälfte, der Landhaus-Stil seien „nicht vom Himmel gefallen“. Nein, sind sie nicht. Aber woher das Privileg kommt, überhaupt diese Jobs zu haben, die ihnen das ermöglichen, warum da Strukturen sind, die ihnen das erlaubt haben, darüber denken sie nicht nach. Die sehen sie gar nicht, weil sie so fucking selbstverständlich sind. Dass die Wege sich ihnen größtenteils von selbst geebnet haben, weil alle existierenden Strukturen nun einmal darauf ausgelegt sind, Personen wie ihnen die Wege zu ebnen – das kennen sie gar nicht anders.
    Wenn uns also Personen erzählen: „Das hab ich mir alles selbst aufgebaut!“, müsste die Antwort sein: Nein. Deine Privilegien haben dir dabei geholfen.

  5. IOOI SqAR sagt:

    Ich kann den Artikel nicht so stehen lassen. Denn es ist eben nicht alles so schwarz-weiß wie beschrieben. Ich, männlich, Jahrgang 1971, eher ein Hänfling, nicht schwul (dazu später) bin in den 90ern viel getrampt. In Deutschland und Westeuropa (bis Spanien). Und dabei sind einige Fahrer übergriffig geworden. Das fing an mit Dingen, wie der Hand, die „aus Versehen“ von der Gangschaltung auf mein Knie rutschte, über den „Sportarzt“ der mich davon überzeugen wollte, dass er mich auf Phimose (bitte selbst googlen) untersuchen muss (nur zu meinem Besten natürlich), den LKW-Fahrer, der plötzlich mitten bei der Fahrt zu onanieren anfing, den Jungunternehmer, der mich irgendwo in der Pampa zwischen Hamburg und Berlin rausschmeißen wollte, wenn ich ihn nicht küsse und mir dann ein Fläschchen Poppers unter die Nase hielt bis zu dem Spanier, der, nachdem er mich aufgelesen hatte, die Autobahn verlies, zu einem Abrissgebäude fuhr und mich dort zwang, die Hosen runterzulassen um mich zu befingern. Das sind noch nicht alle Begebenheiten, die mir widerfahren sind, zeigen aber, dass es auch für Männer nicht unbedingt harmlos ist, zu trampen. Da nie etwas „wirklich schlimmes“ wie eine Vergewaltigung dabei passiert ist, hab ich einfach weitergemacht, zumal ich ja aus Spanien auch wieder zurück nach Deutschland musste und kein Geld für eine Zugfahrt hatte. Ob meines schmächtigen Körperbaus hätte ich mich aber im Ernstfall auch nicht wirkungsvoll wehren können. Heutzutage fahre ich Zug und diese Begebenheiten haben mir letztlich doch mehr zugesetzt, als ich mir damals eingestehen wollte, zumal das ganze nicht meiner sexuellen Präferenz entspricht. Aber so viel zu dem Klischee, dass Männern so etwas nicht passiert und alle Schwule nette, harmlose Kerle sind.

    Viel Spaß im Leben noch und nicht immer alles so durch die Schwarz-Weiß-Brille sehen. Das Leben ist bunt (und manchmal auch schmutzig).

  6. sturmfrau sagt:

    Danke für den sehr interessanten Artikel.

    Trampen hatte mir meine Frau Mutter natürlich auch verboten, aber wo hätte ich auch hintrampen sollen/wollen – ich kann mich an keinerlei Ermunterung zum Reisen, noch dazu allein, seitens meiner Eltern erinnern. Da generell die Stimmung daheim von einem pauschalen „Das schaffst Du sowieso nicht!“ geprägt war, hat mich auch nie die Motivation dazu überfallen, wenngleich ich das in einem Winkel meines Herzens gewollt hätte. Mir wurde aber vor allem eingeschärft, keine Tramper mitzunehmen.

    Zum Glück hat das meiner Reiselust keinen Abbruch getan. Ich genieße heute kaum etwas so sehr wie das Unterwegs-Sein. Aber die Überwindung einer Schwelle gehört vor allem bei Unternehmungen auf eigene Faust mit dazu, und ich merke, dass diese Schwelle aus Fremdbefürchtungen besteht, nicht aus meinen eigenen. Zum Beispiel scheiterte in diesem Sommer die gemeinsame Wanderung mit einer Freundin, aber ich wollte auf keinen Fall auf das Frischlufterlebnis verzichten und beschloss daher, mich allein mit Rucksack und Zelt auf den Weg zu machen. Im Vorfeld kreisten meine Gedanken darum, wie gefährlich es wohl sein mag, als Frau allein zu Fuß unterwegs zu sein. Sehr ermutigt haben mich die Aussagen einer Freundin, die mir berichtete, eine ihrer Freundinnen sei dauernd allein zu Fuß unterwegs und habe noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, und auch die Schilderungen einer Frau aus einem Wanderforum, die schon wirklich weite Strecken, auch im Ausland, allein zurückgelegt hat. Letzte Sicherheit gibt einem natürlich niemand, aber das ist, wie sich am Kommentar von IOOI SqAR ja zeigt, für Männer nicht anders. Passieren kann immer was, und man dürfte gar nicht erst vor die Tür gehen, wollte man letzte Sicherheit.

    Die Kunst liegt an der Überwindung dieser künstlichen Schwelle, mit denen viele Frauen aufgewachsen sind. Es wird suggeriert, man sei per se gefährdeter als Männer, man könne gegen diese Gefährdung nichts tun, es sei das Schlaueste, zuhause zu bleiben und sich einzumauern. Dass auch Frauen sich wehren können, wird nicht erwähnt, geschweige denn mit Selbstverständlichkeit gelehrt.

    Ich habe die schöne Erfahrung gemacht, wie sehr es sich lohnt, aller künstlichen Schwellen zum Trotz einfach los zu fahren oder zu laufen. Ich würde nicht unbedingt trampen, das ist irgendwie ohnehin nicht mein Ding, aber allein zu reisen macht mir unglaublich viel Freude. Die eingetrichterte Skepsis über Bord zu werfen hat mir schon manches nette Gespräch, manche nette Begegnung eingetragen. Das hätte ich nicht erlebt, wenn ich in meinen vier Wänden geblieben wäre. Ich finde es wichtig, mir die Lebendigkeit zu erobern, die mir zusteht, anstatt mich von Misstrauen dressieren zu lassen. Besonders auf Wanderungen zu Fuß hat sich das ausgezahlt.

  7. H.H. sagt:

    Frage mich gerade, ob er vielleicht die unangenehmen Dinge, die ihm pasiert sind, verschwiegen hat. Dass er strotzend vor Kraft und ohne Skrupel sich auf den Weg gemacht hat, glaube ich gern. Ich bin auch schon oft getrampt, selbst in Berlin – ich glaube das erste Mal mit 17 und das relativ arglos. Passiert ist mir dabei auch nie etwas. Glücklicherweise. Ich bin oft solche Dinge immer mit dem Hintergrundwissen angegangen, dass mir etwas passieren könnte und deswegen musste ich jedes Mal über meinen Schatten springen, was ein enormen Kraftakt bedeutet, sich selbst und anderen Leichtigkeit vorzuspielen. Mutproben.

  8. guru sagt:

    Dafür werden Mädchen zu vielen Dingen einfach eingeladen, die Jungs selber organisieren müssen. Und ich glaube nicht dass Mädchen zu einer langweiligen Jugend verdammt sind, sorry.

  9. Anne Wizorek sagt:

    Quoted for emphasis (da der Kern des Textes leider offenbar von vielen, zumindest hier in den Kommentaren, nicht verstanden wurde):

    Nicht egal ist, wie wir diese Freiheit besser verteilen können. Weniger ahnungslos zu werden für das, was für uns selbstverständlich ist, und für andere nicht. Ahnung zu bekommen dafür, was das für sie bedeutet muss. Und warum das eigentlich alles so sein muss (und ob). Ja, das wäre schon nicht schlecht.

    • Privi sagt:

      Ein Abendessen in San Francisco wäre eine echt gute Gelegenheit gewesen über die eigenen Privilegien nachzudenken, anstatt neidisch auf die vermuteten Privilegien anderer zu schielen (natürlich rein selbstlos im Sinne der Weltverbesserung).

  10. Lottola sagt:

    Mit 15 nicht, aber mit 16 bin ich (w) losgezogen. Durch halb Europa getrampt. Mir und ebenso größenwahnsinnigen Freundinnen war dabei immer klar: irgendwann „erwischt es“ uns. Das „Es“ war dabei nicht näher definiert. Aber irgendwie der kalkulierte Preis der Freiheit. Natürlich waren wir zu dumm, um die Konsequenzen abzusehen. Und natürlich hat es mich „erwischt“. Auf dieser dreimonatigen Reise mehrere körperliche Übergriffe, diverse beiläufige Belästigungen („Südeuropäer sind eben so.“), und schließlich auch die Vergewaltigung. Mit anschließender Belästigung durch die örtlichen Polizisten, die mich als Ausreißerin erstmal eine Nacht einsperrten und nicht an Aufklärung interessiert waren. Irgendwie kam ich wieder nach Hause. Erzählte niemandem davon, reiste das nächste Jahr wieder genau so in den Süden, etwas erfahrener und mit etwas weniger drastischen Erlebnissen. Mit 16 bereits wurde mir eingehämmert, wo die Grenzen meiner Freiheit liegen. Ich fühlte mich tough, diese Grenzen zu überschreiten. Damals hab ich die ganze Angst und das Erlebte irgendwo an der Biegung des Flusses begraben. Zurück kam es aber doch, ungefähr 20 Jahre später, in Form von Depressionen, Sozialphobie, PTB und dem Resumee, dass ich niemals in meinem Leben eine normale Beziehung haben kann. Statt dessen habe ich viel von dieser Welt gesehen. Und festgestellt, dass es zumeist eben nicht meine Welt ist, in der ich mich bewege. Oder die falsche Zeit.

  11. blauhai sagt:

    Super Artikel, merci!

  12. Kristian sagt:

    Danke für die Perspektive, die so nie meine eigene sein kann.

  13. J sagt:

    Für mich vermischen sich mehrere Reaktionen. Ich gehöre auch zu den privilegierten „Jungmännern“, die mit 15 Europa durchtrampten. Ich habe auch schlechte Erfahrungen mit bösen Männern gemacht (sehr ähnlich zu dem, was auch von anderen männlichen Kommentatoren beschrieben wurde). Mir war auch damals zu jedem Zeitpunkt bewußt, dass das Risiko sehr viel größer gewesen wäre, wenn ich ein Mädchen gewesen wäre, und dass darin eine große Ungerechtigkeit liegt.

    Ich habe aber den Eindruck, dass die Schablone „privilegiert-benachteiligt“ viel zu kurz greift. Wie Du schon bemerkst, haben die allermeisten Menschen keine solchen Reisen gemacht. Aber nicht aus wirtschaftlichen Gründen; ärmer als ich damals konnte man nicht sein, sondern weil sie sich nicht trauten, oder es sich nicht genug wünschten. In Mut und Phantasie liegt auch eine Form von Privilegiertheit. Aber lohnt es sich, darüber zu weinen, dass Mut und Phantasie ungerecht verteilt sind? Schönheit und Gesundheit?

    An einem bestimmten Punkt muss ich für mein Leben entscheiden, wie ich es produktiv führe. Dazu gehört auch, dass mir mein eigenes Potential auf Selbstverwirklichung nicht dadurch kaputtmache, dass ich anderen die Schuld gebe. Lucie, Du und ich und die meisten die hier schreiben sind verdammt privilegiert. Schon durch das Jahrhundert in dem wir geboren wurden, aber auch in unendlich vielen anderen Dimensionen. Wir sind sogar privilegiert am Leben zu sein. Lass uns das Leben nutzen. Auch dafür, dass die Welt gerechter wird, aber lass uns den Blick nicht so sehr verengen.

  14. Helga sagt:

    Liebe „Mach doch einfach“- und „aber ich hab auch Angst“-Spezialexperten,

    ja, die Freiheit von allen Menschen, die nicht weiß, männlich, heterosexuell (WHM) und gesund sind, wird eingeschränkt. Und das nicht nur im eigenen Kopf, sondern auch von anderen Menschen. Bereits bei Babies schätzen Eltern z.B. die Bewegungsfähigkeiten von Jungen zu hoch und von Mädchen zu niedrig ein und behandeln sie entsprechend (as in: Jungen dürfen mehr, Mädchen weniger). Je älter sie werden, umso mehr unterscheidet sich die Größe des öffentlichen Raums, in dem sich Jungen und Mädchen von ihren Eltern aufhalten dürfen. Schwarze Eltern hämmern ihren Kindern Verhaltensregeln ein, damit sie nicht „aus Versehen“ ermordet werden. Dass diese jahrelange unterschiedliche Behandlung sich irgendwann im eigenen Kopf festsetzt, dürfte einleuchten.

    Je mehr ein Mensch von der WHM-Norm abweicht, umso höher sind die Barrieren, die um ihn/sie errichtet werden und von der Teilnahme am öffentlichen Leben abhalten. Dann gibt es noch individuelle Unterschiede, die sehr unfair sein können – aber kein Grund sind, diskriminierende Strukturen einfach hinzu nehmen. Dass ihr dieser Gedanke auf einer Reise kam, ist der Autorin, wie nachzulesen, bewußt. Das ist aber ebenfalls kein Grund, ihr die Erfahrung und Analyse abzusprechen.

    • sturmfrau sagt:

      Die Verwendung des Wortes „einfach“ ist natürlich irreführend, weil auf mehrere Arten interpretierbar. Zu sagen, jemand solle „einfach“ irgend etwas machen, zeugt natürlich von einer gewissen Arroganz und ignoriert auch, dass es für viele Menschen eben nicht einfach ist. Genauso nimmt aber auch niemand „einfach“ diskriminierende Strukturen in Kauf. Das zu ändern setzt ebenfalls ein Bewusstsein und die Fähigkeit voraus, über den antrainierten Tellerrand hinauszusehen, und das kann genau so schwierig sein. Privilegien in Frage zu stellen ist für diejenigen, die sie besitzen, keine Selbstverständlichkeit, weil sie selbst die Grenzen nicht spüren (müssen), die anderen auferlegt werden. Hier haben sich Leute gefunden, die sich bedanken für die Eröffnung einer neuen Perspektive, und das finde ich für sich genommen schon bemerkenswert.

      Über Privilegien zu diskutieren bringt aber natürlich auch das Problem mit sich, dass es immer noch jemanden gibt, dem es schlechter geht und der weniger privilegiert ist. Wir haben die Möglichkeit, zu reisen und sind damit (auch als Frauen) natürlich denen gegenüber privilegiert, die nicht reisen können, oder denen gegenüber, die nicht zu ihrem Vergnügen reisen, sondern aus schierer Notwendigkeit. Ich finde aber, man sollte trotz dieser Privilegiertheit auch die Probleme ansprechen dürfen, ohne dass der Diskussion die Grundlage abgesprochen wird mit dem Pseudo-Argument „Ach, Euch geht’s doch vergleichsweise gut!“ Umso wichtiger finde ich auch, dass Männer ihre Erfahrungen mit Gewalt hier schildern und denke, das sollte nicht als Derailing-Versuch missverstanden werden. Auch der Anspruch, man selbst allein und niemand sonst sei ein Opfer, ist eine begrenzte Perspektive, die andere ausschließt.

      Als ich in meinem Kommentar etwas von „einfach loslaufen“ schrieb, wollte ich vermitteln, dass sich der Unterschied zwischen Wünschen und Tun oft nur in dem Moment entscheidet, in dem man den ersten Schritt macht, und dass es zur Aufrechterhaltung der strukturellen Gewalt beiträgt, in künstlich erzeugten Ängsten (und damit im Inneren des Hauses) zu verharren. Das bedeutet nicht, dass es draußen ungefährlich ist, aber wenn man niemals in Betracht zieht, sich selbst das Draußen erschließen zu können, verbleibt man auf jeden Fall innerhalb eines gewalttätigen Gefüges. Natürlich ist das Loslaufen, so es mit der Überwindung von (zum Teil auch berechtigten) Ängsten verbunden ist, niemals einfach. Dennoch ist schließlich der erste Schritt eine bemerkenswert schlichte Unternehmung, an der einen im Grunde niemand hindern kann.

  15. ruhepuls sagt:

    Vor ein paar Monaten überquerte ich nachts um eins gemeinsam mit einer Freundin und einem Freund (und einigen mir unbekannten Menschen) eine Kreuzung in einem Frankfurter Vorort. Unter diesen mir unbekannten Menschen befand sich auch ein ekliger Typ, der meine Freundin und mich übergriffig anglotzte – und der hinter uns in die gleiche Richtung ging wie wir. Meine Freundin hat den Typ mit starrem Blick (vermeintlich) ignoriert, meinem Freund ist er gar nicht aufgefallen. Als ich mich nach kurzer Zeit umdrehte, sah ich, dass ein Stück hinter dem Typen noch eine junge Frau ging, die immer langsamer wurde – und mit ihr auch der widerliche Typ, der dabei in ihre Richtung blickte. Deshalb schlug ich vor, wieder zurück zu gehen, um der jungen Frau ggf. unsere Hilfe anzubieten. Das führte dazu, dass der widerliche Typ erst irritiert war und dann wieder zurück zur Kreuzung ging – wo er vermutlich leider so weitermachte..
    Wir warteten dann gemeinsam mit der jungen Frau, die bereits einen Freund per Telefon gebeten hatte, sie mit dem Auto abzuholen, bis dieser da war. Währenddessen bedankte sie sich immer wieder bei uns und war sehr erleichtert. Ich war so froh, ihr helfen zu können, hätte mich das aber alleine zum Beispiel auch nicht getraut.

    Dem Freund von mir war bis zu dem Abend überhaupt nicht bewusst, dass so etwas passieren kann, dass dies für die meisten Frauen Realität ist. Ihm war der widerliche Typ nicht mal aufgefallen. Er hat später noch häufiger davon gesprochen und ich hoffe, es hat etwas für ihn verändert und er geht nachts mit offeneren Augen durch die Stadt.

    Dies ist nur Beispiel von vielen. Es ist wichtig, denen, die weniger priviligiert sind als man selbst, zuzuhören, Mitgefühl zu entwickeln und so zu versuchen sich in ihre Lage zu versetzen und auf Basis dessen eventuell das eigene Verhalten zu verändern.
    Danke für den Text.

  16. Miel sagt:

    (Danke für den Text. <3)

  17. Char sagt:

    Liebe Lucie, danke für deinen Text! Ich war schon so oft in genau der Situtation. Ein Freund erzählt mir von seiner Weltreise und Reisen in Länder, wie den Iran, Afghanistan, alleine und frei… . Ich hab dabei immer ein unterschwelliges schlechtes Gefühl und hab nie so richtig verstanden warum. Jetzt schon.