„Feuchtgebiete“ – besser als Film?

Foto , by © Peter Hartwig / Majestic

Erinnert Ihr euch noch an Helen Memel? Helen ist 18 und hat sich bei der Intimrasur eine Analfissur verpasst, die sich entzündet hat. Nun liegt sie nach der OP auf einer proktologischen Station und versucht geheim zu halten, ob sie schon Stuhlgang hatte, denn danach würde sie nämlich entlassen. Das will Helen aber auf keinen Fall, denn das Krankenhaus ist der ideale Ort, um ihre geschiedenen Eltern aufeinandertreffen zu lassen – mit dem finalen Ziel, diese wieder zusammenzubringen. Während Helen im Krankenbett rumliegt, teilt sie mit uns und dem anziehenden Pfleger Robin ihre Philosophien rund um Hygiene (überbewertet!), Sexualität, Körper- und Körperflüssigkeiten, vom lustigen Knibbeln-und-Aufessen angetrockneten Spermas bis hin zu den Natur-Dildo-Qualitäten von Avocadokernen.

“Feuchtgebiete”, das Erstlingswerk von Charlotte Roche, sorgte bei seinem Erscheinen 2008 für einiges Aufsehen: es gab viel Kritik für die so gewollt erscheinenden, überzogenen Tabubrüche und Ekelhaftigkeiten der Helen Memel, deren Geschichte angeblich auch noch zu “70% autobiographisch” war – was natürlich die Provokation noch ausschlachtbarer, die gerümpften Nasen des Feuilletons noch gerümpfter, die hochgezogenen Augenbrauen noch hochgezogener machte. Dabei blieb (bei mir) der Eindruck, dass Roche es eben doch geschafft hatte, den Finger dorthin zu legen, wo es weh tat (vor Ekel). Viele taten ihren Roman als “sinnlos”, “albern” und “übertrieben” ab, als wollten sie damit in Wahrheit den Grusel überspielen, den er insgeheim bei ihnen ausgelöst hatte. Roche fand geschickt alltägliche “Horrormomente” wie öffentliche Toiletten und inszenierte deren vermeintliche Widerlichkeit mit fieser Freude. Mich zumindest hat das damals sehr amüsiert – und die überzogenen Anforderungen an die Hygiene insbesondere des weiblichen Körpers und das damit verbundene defizitäre Bild von Frauenkörpern (bzw. -Genitalien) wurden durch diese Ekelfolie zumindest sichtbar und zum Thema gemacht. Gleichzeitig wurde hier eine junge Frau inszeniert, die mit ihrer Sexualität und ihren sexuellen Wünschen offensiv und experimentierfreudig umgeht – auch noch keine Normalität. Was neben all dem Sex und Ekel zudem oft merkwürdigerweise unter den Tisch fiel: “Feuchtgebiete” war nicht zuletzt ein Roman über eine überaus schwierige Mutter-Tochter-Beziehung und traumatische Familiengeschichte.

Ein Verkaufserfolg war “Feuchtgebiete” jedenfalls ohne Frage und so wundert es nicht, dass es, wenn auch mit einiger Zeit Verzögerung, nun auch eine Verfilmung des Stoffs gibt. Am 22.08. kam der gleichnamige Film von Regisseur David Wnendt (viel gelobt für “Kriegerin”) bei uns in die Kinos, seine Premiere hatte er gerade erst auf dem Filmfestival in Locarno, wo er aus Anstandsbedenken nicht auf der traditionsreichen Piazza laufen durfte und leider auch keine Preise gewann, dafür aber beim Publikum offenbar gut ankam.



Da ich zugegebenermaßen sehr neugierig auf die Verfilmung war, besuchte ich also bereits am Mittwochabend eine Vorpremiere. Diese war allerdings, wie das manchmal eben so ist, in eine dieser “Ladies-Night”-Reihen eingebettet, wie sie viele Multiplexkinos im Gendermarketingwahn mittlerweile anbieten und die schon für sich genommen einen eigenen Artikel verdient haben (Maike und Lucie are on it). Aber im Prinzip wurde der Film dadurch noch etwas spannender. Ein Saal voller größtenteils junger Frauen, die sich bei der vor dem Film stattfindenden Verlosung eines Wellness-Gutscheins beinahe um selbigen prügelten, um sich dann mit kathartischem “Iiiieh” und “Ääääh” Helen Memel beim Tampontausch, beim Klobrille-mit-der-Muschi-wischen und bei Spermaknibbeln anzusehen, bot einen sinnträchtigen Kontrast.

Der Film hält sich auf den ersten Blick eng an die Handlung des Buches – Analrasur, Krankenhaus, Stuhlgang, der charmante Pfleger Robin (Christoph Letkowski) und der Versuch, die Scheidungseltern zu vereinen. Zwischendrin erzählt Helen in Rückblenden mehr über ihre Sicht auf Körper und Sex, sexulle Erfarungen, ihre Eltern und Drogentrips mit der besten Freundin Corinna (Marlen Kruse). Die dichtet der Film allerdings zur Geschichte hinzu – eine gute Entscheidung, denn sie macht auch Helen komplexer. Mehr Raum erhält auch die problematische Geschichte von Helens Familie, was durch die fantastisch besetzten Eltern (herrlich verkrampft: Meret Becker, großartig schmierig mit Moustache und Motorrad: Axel Milberg) getragen wird. Alles trägt dazu bei, die Figur Helen, trotz aller Extreme, glaubhaft und ungeheuer anziehend zu machen, was nicht zuletzt an der Darstellerin, der Tessinerin Carla Juri, liegt. Natürlich war ich kurz irritiert, denn ich habe mir (wie vermutlich einige) beim Lesen immer ein Charlotte-Roche-Lookalike vorgestellt, aber gerade deshalb ist es umso spannender, dass die Besetzung nicht eine derart naheliegende Wahl getroffen hat. Carla Juri verkörpert Helen selbstbewusst, vorlaut und schräg, aber gleichzeitig grundsympathisch. Wenn sie sich die Hämorrhiden kratzt oder mit Gemüse masturbiert, dann ist das unverkrampft, meistens ziemlich lustig und manchmal auch recht erotisch.

Doch während die filmische Umsetzung (wie sie das im Idealfall ja auch sollte) aus Roches Geschichte alles rauszuholen sucht, sie in spannende Bilder mit allerlei maß- und sinnvoll eingesetzten Effekten wie Splitscreens und Videoclip-Ästhetik packt, geht dabei natürlich auch ein bisschen die “Rohheit” des Romans verloren. Sicher ist dies eine bewusste Entscheidung, und vielleicht bin ich auch eine zu abgebrühte Kinogängerin. “Ekelmomente” gibt es zwar auch so noch genug, doch eine kleine Prise mehr Roche’sche Grobheit hätte ich wohl noch vertragen können. Aber vielleicht ist mein Blick darauf auch schon zu abgeklärt, denn, um zum Eingangseindruck zurückzukehren: einigen jungen Frauen in diesem Kinosaal hatte Helen Memel in der Verkörperung von Carla Juri sicher einiges zu sagen über sexuelles Selbstbewusstsein, über Körpergefühl und -liebe. Das sollte nicht zu hoch aufgehängt werden (Körpernormen aufbrechen kann die schlanke Helen nun nicht unbedingt), aber sicher auch nicht zu niedrig. Denn ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Körper ist leider nicht bei vielen Frauen und Mädchen Normalität.

Eine mögliche Einschränkung stellt dabei das Narrativ um Helens Familie dar: Helen ist durch die Ereignisse in ihrer Kindheit und die Scheidung ihrer Eltern traumatisiert. Da kann es ein Leichtes sein, ihre Ideen über Körper und Sex nur darauf zu reduzieren, diese als “unnormal” und als grotesk-frivole Auswüchse ihrer Sozialisierung abzustempeln und zu belachen. Und sich dabei gleichzeitig davon zu distanzieren und nicht weiter darüber nachzudenken. Diesen Konflikt hat Roche angelegt mit ihrer Entscheidung, sowohl eine Streitschrift zu Körperfragen zu verfassen als auch eine problematische Mutter-Tochter-Beziehung zu beschreiben. Doch es bleibt zum Glück nicht die einzige Möglichkeit der Rezeption – und an diesem Punkt hat der Film mit seiner gegenüber dem Buch reduzierten Drastik, mit seiner Deutschpop-Video-Ästhetik, der heiteren Frivolität und auch ganz grundsätzlich unterhaltsamen Erzählweise wohl eher einen positiven Effekt: nämlich, die Zuschauer_innen reinzuziehen in die Welt von Helen Memel, sie ihnen sympathisch zu machen. Und ihnen damit vielleicht auch noch ein paar ketzerische Gedanken über den Geschmack ihrer Körperflüssigkeiten mitzugeben.

6 Antworten zu “„Feuchtgebiete“ – besser als Film?”

  1. spicollidriver sagt:

    Ich gebe zu, daß ich das Buch damals nur bis Seite 25 oder so gelesen habe, weil es mir danach zu blöd wurde (ich habe auch kaum Interesse an Filmen, bei denen ich das Gefühl haben, sie leben nahezu einzig oder zumindest überwiegend vom „shock value“ – und genau so fühlte sich das Buch für mich an). Aber diese positive review hat zumindest dafür gesorgt, daß es die Verfilmung von der einen Liste („auf keinen Fall ansehen“) auf eine andere („möglicherweise mal ansehen“) geschafft hat. hahaha.

  2. Anna-Katharina sagt:

    Klingt gut, die Kritik. Das Buch hab ich genau so gesehen, fand es frech und erfrischend (hab die Ekelgeschichten auch eher ironisch oder experimentierfreudig gesehen) und rührend, was die Elterngeschichte angeht.

  3. Sehr schön geschrieben, Kompliment. Ein kleiner Blick über den Tellerrand und nur nicht aus der festgefahrenen <3-Einstellung hätte ich interessant gefunden. Aber auch so ist es eine spannende Sicht auf den Film.

    • Auto_focus sagt:

      Jetzt würde mich allerdings interessieren, was du mit „festgefahren“ meinst. Eine Meinung ist ja nicht gleich festgefahren, nur weil du vielleicht noch eine andere hast. Zudem ist das keine Kleinerdrei Einstellung, sondern meine.

  4. mauerunkraut sagt:

    Sehr gute Kritik, vor allem weil er einem auch mal einen anderen Blick auf die Geschichte wirft.
    Als ich den Roman damals gelesen habe (man will ja schließlich wissen, was daran jetzt so skandalös war) war ich einmal erstaunt darüber, dass man sich an den „Ekelszenen“ so aufgehangen hatte, wo doch Helen´s Konflikte doch sehr viel interessanter waren. Und hatte auch ein wenig den Gedanken: „Warum sollte man darüber nicht reden/schreiben dürfen?“ Und möglicherweise wären diese skandalösen Szenen auch anders betrachtet werde, würde sie von einem Mann handeln? Ich weiß es nicht.
    Schade nur, dass es bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte, sowohl beim Buch, als auch beim Film, überwiegend beim Ekel-Voyeurismus bleiben wird.

  5. dieKadda sagt:

    danke für die super Kritik. hilft mir mehr, als jede andere, die ich bislang irgendwo las.
    vielleicht guckte ich den Film nun doch (ich hatte Angst davor bekommen, weil ich überraschender Weise zart besaitet bin…)