Wir finden schon einen Weg
„Vor und nach einem Stau ist es eigentlich sehr lustig“, sage ich zu Nico, „aber die Phase dazwischen, das ist die Hölle.“
Am gleichen Morgen, 300 km weiter nordöstlich, in Secovce, ein kleines Dorf in der Slowakei: Nico, Philipp, Julius und ich schultern Stative und Kamera-Rucksäcke, packen unseren Kombi voll, schütteln dem Bürgermeister die Hand und fahren ein letztes Mal nach Habes. Dort leben geschätzt 1600 Roma, nö, leben ist übertrieben, sie hausen, vegetieren, verstecken sich vor dem Schneeregen und dem eisigen Wind in ihren baufälligen Häusern, deren Wände teilweise aus Pappe sind. Der Brunnen spendet nur stundenweise Wasser, statt einer asphaltierten Straße gibt es huckelige Pfade aus Matsch, es riecht nach verbranntem Plastik und Müll. Wir packen die Kamera aus und filmen, lassen uns das alles erklären, L. übersetzt die Fragen und Antworten.
Drehen, Händeschütteln, Auto vollladen, Smartphone einschalten und den Zielort eintippen. 13 Uhr 30. Fahrtdauer nach München: Neun-zehn Stunden für 1000 km (üppiges Essen mit eingeplant). „Die Autobahnen in Ungarn sind gesperrt“, sagt L., „heute morgen haben sie das im Radio gesagt.“
Massenkarambolagen auf der Autobahn, verspätete Züge, unpassierbare Straßen: Ein Wintereinbruch hat in Ungarn den Verkehr weitgehend zum Erliegen gebracht. Staus erreichten teilweise eine Länge von fast hundert Kilometern. (Quelle: Spiegel Online)
„Ach, bis wir in Ungarn sind, das‘ ja noch Stunden hin“, sage ich. Wichtiger ist erst mal, dass wir über den nächsten Berg kommen. Vier Leute, Kameras, Stative, Gepäck, ein Auto mit Sommerreifen, das über die weißgeschneite Landstraße schlittert, kurz: vermutlich schalten wir gleich die Warnblinker an und fahren rechts ran. Aber der Wagen rollt die Berglandschaft hoch, runter, mühsam wieder hoch. Philipp fährt, ich wische mein beschlagenes Seitenfenster frei, Nico starrt aus dem Fenster, in seinem Kopf brechen wir die Fahrt bereits ab und warten auf Sonnenschein: „Jungs, sorry, aber ich habe gerade Lebensangst. Vielleicht sogar Lebenspanik.“ Er meint Todesangst, aber bis wir das checken, sind wir schon längst in der nächstgelegenen Stadt und die Straße ist nicht mehr rutschig.
Kurz vor Budapest, 17 Uhr, es schneit. „Kommt ihr noch vorbei oder seid ihr schon an uns vorbei?“ schreibt Charlotte Lisa. Die drei Klassenkolleginnen (Charlotte, Lisa, Magdalena) von uns sind in der Stadt, weil sie eine Demonstration begleiten wollen. Letzte Woche hat die Regierung von Orban die Rechte des Verfassungsgerichts beschnitten. Jetzt zu essen hieße, eine Stunde länger zu fahren. Aber direkt weiterfahren ist auch dämlich, wir haben Hunger und keine ungarischen Forinth, wenn wir jetzt weiterfahren, und es kommt etwas dazwischen, was dann? Die Warnung von heute Mittag haben wir uns längst zurecht geredet, da sind ja schließlich fünf Stunden vergangen, da werden sie es ja wohl schaffen, die Autobahnen zu streuen und den Verkehr zu regeln, aber komm, geben wir denen halt eine Stunde mehr. Wir parken das Auto.
Umarmen, reden, essen, verabschieden, losfahren.
Zum Abschied fragt Charlotte: „Wollt ihr nicht doch lieber hier bleiben anstatt die ganze Nacht durchzufahren?“ Philipp winkt ab: „Ach, in sechs Stunden sind wir doch in München.“
Julius schaut auf sein Smartphone. „Die Route über die M1 ist dunkelrot“, sagt er. Über die M1, das hieße, wir fahren über Budapest nach Györ, von dort aus nach Wien und dann nach München. So, wie das jetzt aussieht, verlängert sich unsere Fahrt um drei Stunden, also fünfzehn insgesamt. Alternativ könnten wir auch über die M7 fahren, also von Budapest in Richtung Balaton, durch Slowenien nach Graz und dann nach München. Ohne Staus, bei perfektem Durchkommen dauert die Fahrt eine Stunde weniger, laut Smartphone.
Drei Wege von Budapest nach München
Wir werden unruhig, ich telefoniere nach Deutschland und frage eine Freundin nach Informationen. Wir würden ja selbst surfen, aber unsere Datenvolumen sind alle aufgebraucht (100 Mb, my ass!). Nachricht aus Deutschland: „Hört sich nach viel Unfall an!“
An der Autobahn-Umfahrung von Györ, 100 Kilometer westlich von Budapest, zählte ein dpa-Reporter vier Unfallstellen, von denen zum Teil auch Verletzte weggebracht wurden. Die Polizei sperrte die Autobahn, die von Wien nach Budapest führt, westlich von Györ. Auch mehrere Landstraßen wurden in Westungarn wegen Unfällen und feststeckender Lkws gesperrt. (Quelle: Wiener Zeitung)
Was gebe es denn für Alternativen? Bei den drei in Budapest zu übernachten, kommt nicht in Frage. Sie wohnen zwar schön, aber für sieben Leute reicht der Platz niemals. Auf der M7 sind ebenfalls Autos ineinander gefahren, dieser Weg ist also nicht nur länger, sondern potentiell ebenfalls gesperrt. In ein Hotel einchecken? Ungern, was wäre das auch für eine Art, auf Hörensagen hin aufzugeben und zu kapitulieren? Wir wissen ja gar nicht, wie es vor Ort aussieht, vielleicht haben wir ja Glück und der Verkehr rollt, wenn wir angekommen sind. Wir fahren einfach, wird schon werden.
Das erste Stau-Warnsignal kommt nach zwei Minuten, es zeigt 17 Kilometer an. „Vor und nach einem Stau ist es eigentlich sehr lustig“, sage ich zu Nico, „aber die Phase dazwischen, das ist die Hölle.“
Bremslichter, stehende Autos, erst in der Ferne, dann viel zu schnell vor uns, wir verlangsamen die Geschwindigkeit, stehen jetzt selbst, die Strecke ist leicht steigend, Nico drückt das Bremspedal. Eine dünne Schneedecke liegt auf der Autobahn, kaum sichtbar. Warten, erster Gang, zwei Meter vorrollen, bremsen, Leerlauf, Handbremse. Warten. Warten. Nichts geht. Fünf, zehn, 15, 30 Minuten. Ich steige aus, vielleicht ist in Laufweite ja zu sehen, was genau das Problem ist, vielleicht liegt die Unfallstelle ja in Reichweite. Die Straße ist mittlerweile weiß vor Schnee. Ich laufe, laufe, friere, drehe um, setze mich in den Wagen. Wir diskutieren die Möglichkeiten. Müssen wir in Ungarn bleiben? Warum denn? Gleich geht’s weiter. Ich will nach München, das wird sich schon lichten. Warten.
50 Minuten. Ein Pickup-Truck mit orangem Warnlicht fährt den Standstreifen entlang. „Endlich“, denke ich mir, „gleich geht’s weiter“. 55 Minuten. Nichts. Eine Stunde. Weiterwarten. Nico steigt aus, raucht eine Kippe und redet mit den Autofahrern vor uns, zwei Linzer. „Die fahren zurück nach Budapest“, sagt Nico, als er wieder einsteigt und wir beobachten den Wagen, wie er sich erst auf den Standstreifen schlängelt und dann über eine Ausfahrt, die keine zehn Meter vor uns liegt, die Autobahn verlässt. Der Haken: Es ist keine Ausfahrt, die Linzer sind Geisterfahrer und verlassen die Autobahn über die Auffahrt.
„Wir sollten überlegen, ob wir das nicht auch machen“ (Nico), „Das wird nix mehr hier!“ (Philipp, Julius), „Scheißeeeeee!“ (ich). Eine Stunde und zehn Minuten sind vergangen, wir stehen exakt auf derselben Stelle und spätestens jetzt wissen wir, dass es gelaufen ist. Wir müssen von der Autobahn runter und in das nächstgelegene Hotel, sonst stehen wir hier vielleicht die ganze Nacht. Philipp kurvt uns aus dem ruhenden Verkehr, wir rutschen die Einfahrt hinunter auf die Landstraße, blinken rechts, Hotel Soundso. Zwischen „Bestimmt können wir den Preis runterhandeln“ und „Okay, zwei Doppelzimmer, bitte“ liegt ein schüchternes „Preislich kann man nichts mehr machen, oder?“ Fuck you, wir übernachten hier nicht aus Nächstenliebe, wir sind steckengeblieben, das ist ja nicht meine Autobahn, wir sind die Opfer eines schlecht vorbereiteten Streudienstes, wo ist dein Mitgefühl, du Arsch, brülle ich in mich hinein.
Der ca. 40 Kilometer lange Stau auf der M7 bei Tata führte dazu, dass Hunderte die Nacht in ihren Fahrzeugen verbringen mussten. Das Katastrophenamt meldete, dass rund 8.000 Menschen die Nacht in Behelfsquartieren verbringen mussten und rät dringend davon ab, mit dem Auto zu fahren. (Quelle: Liveticker Pester Lloyd)
Aufstehen, auschecken, einsteigen, losschlittern.
Es gibt keine Straßen mehr, alles ist weiß. Wir schweigen, gelegentlich ein „Oh“ oder „Ah“, wenn der Wagen Richtung Straßenrand abdriftet. Langsam zur Autobahn vorarbeiten, der Wind weht Linien aus Schnee über Feld und Straße. Die Auffahrt, von der wir gestern abgefahren sind, liegt vor uns, ich kann sie sehen und will einbiegen, doch ein Polizeiwagen blockiert die Straße. Der Polizist kommt zu uns. „M1 kaputt“, sagt er. Er kann deutsch, zwar schlecht, aber vollkommen egal, immerhin kann ich ihn verstehen. Was tun?, frage ich. Da kann er nur noch ungarisch und Körpersprache. Seine Hand weist in die Ferne, wir reimen uns zusammen, dass er uns rät, die Landstraße zu benutzen, aber vermutlich will er uns nur weghaben. Ich will einen Berg hochfahren und umdrehen, aber die Reifen drehen durch und wir rollen rückwärts zurück, der Wagen wendet je nach Laune, mal links, mal rechts, vollkommen unabhängig von meinen Lenk-Bewegungen. Die Landstraße, zu der uns der Polizist geraten hat, ist blockiert. „Kaputt“, sagt der dortige Polizist, aber er weiß noch mehr: „M1, M7, alles kapuuuuutt“.
Update 10.08 Uhr: Der Landespolizeichef und der Leiter des Katastrophenamtes wollen um 11 Uhr eine Pressekonferenz zur Lage abgeben. (besagter Liveticker)
Um das noch einmal zusammenzufassen: Die M1 nach Wien: Kaputt. Die M7 nach Slowenien: Kapuutt. Die Landstraße, weg von Budapest: Kapuuutt. Befahrbar ist nur die Autobahn zurück in die Stadt und die Landstraße. Und weil wir Hunger haben und alle anderen Wege versperrt sind, machen wir das. Zurück nach Budapest. Aber als wir die Einfahrt hochfahren, bleibt der Wagen stehen, die Sommerreifen drehen durch, wir kommen einfach nicht auf die Autobahn. Anschieben ist zwecklos, wir putzen höchstens ein Stück grauen Asphalt zurück in die Sichtbarkeit. Wir rollen wieder runter.
Alter! Puh.
(Sorry, aber mir fehlen gerade die Worte. Bin sehr froh, dass ihr wieder heil zurückgekommen seid!)
Uff.
Ja, kann niemand damit rechnen, dass wir Winter haben. Auch jetzt in München, Schneeflocken, faustdick.