Where is your line? – Interview mit der Aktivistin Nancy Schwartzman
Nancy Schwartzman ist Filmemacherin und eine der umtriebigsten feministischen Aktivistinnen, die ich bisher kennenlernen durfte. Sonst in Brooklyn, New York zu Hause, besuchte sie vor kurzem das winterliche Berlin für die Berlinale. Grund genug, um sie mir für ein Interview zu schnappen und zu zwei ihrer größten Projekte, „Where is your line?“ und „Circle of 6“, zu befragen.
kleinerdrei (Anne): Du bist ja eine vielbeschäftigte Frau. Wie würdest du denn am ehesten beschreiben, was du so machst?
Nancy Schwartzman: Ich arbeite interdisziplinär. Konkret heißt das: Ich bin Filmemacherin und Menschenrechtsaktivistin. Ich nutze vor allem digitale Medien für meine Projekte, berate auch andere dazu und habe vor kurzem die App „Circle of 6“ entwickelt. Bei meiner Arbeit konzentriere ich mich darauf, wie sich sexualisierte Gewalt verhindern lässt und ich möchte insbesondere jungen Mädchen durch sexuelle Aufklärung dabei helfen, gesunde Beziehungen zu führen. Meine Filme drehen sich um moderne zwischenmenschliche Verhältnisse und wie das Internet diese zum Beispiel beeinflusst, aber auch um sexualisierte Gewalt und wie wichtig Kommunikation innerhalb von Beziehungen ist.
kleinerdrei: Wie ist das denn damals mit deiner Kampagne „Where is your line?“ losgegangen?
Nancy Schwartzman: Ich habe zunächst 5 Jahre an meinem Film „The Line“ gearbeitet. Dabei handelt es sich um eine 30minütige Dokumentation zu den Themen Sex, Grenzüberschreitungen und was gegenseitiges Einverständnis bedeutet. Ich schildere darin meine ganz persönliche Geschichte einer Vergewaltigung und setze mich damit auseinander, wie dieser Übergriff von der Gesellschaft in einer Art Grauzone gesehen wird, weil es sich beim Täter nicht um einen Fremden handelte der nachts aus dem Gebüsch sprang, sondern um einen One-Night-Stand. Es geht um die Schwarz-Weiß-Wahrnehmung im Zusammenhang mit Vergewaltigungen – das „gute“ und das „schlechte“ Opfer. Im Film gehe ich der Frage nach, wie wir sexualisierte Übergriffe definieren und wo eben diese Grenze verläuft, die zwischen dem Einverständnis und einem Übergriff steht.
Noch während ich den Film fertigstellte, organisierte ich Filmvorführungen und Workshops, um zu sehen wie Leute auf das Thema reagieren. Da merkte ich bereits, dass es eine ganze Kampagne zum Film geben muss, denn die Zuschauerinnen und Zuschauer sehnten sich im Anschluss immer förmlich danach, darüber zu reden. Ich wollte ihnen eine einfache Möglichkeit geben, um ihre Gedanken zu formulieren und ihre eigene Erfahrungen zu überprüfen. Daher entstand die simple Frage auf Kärtchen: „Where is your line?“ – Wo ist denn deine persönliche Grenze? Was willst du beim Sex und was willst du nicht?
Die Antworten darauf geben einen guten Einblick darin, wie junge Menschen Sex bereits erfahren und zeigen: Es wird leider wenig miteinander geredet, es fehlt oft am eigentlichen Vergnügen und an einem gelassenen Umgang mit dem Thema. Die Kampagne soll ihnen verdeutlichen, was sie selbst wollen und sie dazu animieren, sich auch mitzuteilen. Es geht vor allem darum, Worte hierfür zu finden, denn da wir in den USA keinen Aufklärungsunterricht haben, fehlt diese Sprache den meisten Jugendlichen komplett. Wenn doch mal darüber gesprochen wird, geht es nicht um Beziehungen, Gefühle und sexuelle Bedürfnisse, sondern sehr einseitig um Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und sogar Abstinenz als „Lösung“.
Mädchen und Frauen wird eingeredet, dass sie Schlampen sind, wenn sie sexuelles Verlangen zeigen. Jungen und Männer werden in ihrer Männlichkeit angezweifelt, wenn sie nicht direkt wissen, was die Partnerin oder der Partner möchte.
kleinerdrei: Was kriegst du denn so für Rückmeldungen von Leuten, die deinen Film gesehen haben und im Anschluss über ihre eigenen Erlebnisse sprechen? Hast du das Gefühl, dass es ihnen dann leichter fällt?
Nancy Schwartzman: Ich finde schon. Es ist, als ob ihnen eine Last abgenommen wurde. Der Film ist natürlich sehr intensiv und zeigt auch, dass es keine einfache Lösung à la „unterschreib hier und rette die Delphine“ gibt. Mit der Kampagne wird daran erinnert, dass es auch bei Körperlichkeiten um Kommunikation geht und wie viel mehr Spaß die machen können, wenn man darüber redet und sich einig ist. Wir besitzen ja sonst keine telepathischen Fähigkeiten, aber wenn es um Sex geht, wird bizzarerweise plötzlich davon ausgegangen.
Viele Mädchen die ich treffe, sprechen zum allerersten Mal darüber, was sie erlebt haben. Wie sie zum Beispiel sexuell belästigt wurden und dann stellen sie in der Gesprächsrunde fest, dass sie sich eben nicht einfach damit abfinden müssen, dass es nicht ihre Schuld war.
kleinerdrei: Der Film wurde ja schon überall auf der Welt gezeigt. Inwiefern unterscheiden sich da die Redaktionen auf „The Line“?
Nancy Schwartzman: Die unterscheiden sich schon innerhalb der USA. Was ich in den Staaten aber am häufigsten beobachten konnte und mich sehr bestärkte ist, dass Männer nach dem Film meine Perspektive verstehen und zu Verbündeten werden.
Im Film stelle ich meinen Vergewaltiger [Anmerkung: Er ist verfremdet.] zur Rede. Wenn Männer seine Rechtfertigung hören, sind sie geschockt und wütend. Der Täter ist dann keine abstrakte Figur mehr. Es wird deutlich, dass natürlich nicht alle Männer Vergewaltiger sind, aber eben auch wie Vergewaltiger ticken. Dass wir sie schützen, wenn wir nicht über ihr Verhalten sprechen oder es gar verharmlosen.
Die Screenings haben allerdings auch gezeigt, dass egal, ob in der Türkei, Liberia, Taiwan oder Nairobi und unabhängig vom kulturellen Kontext meiner eigenen Geschichte – wie ich als junge Amerikanerin ausgehe und Party mache – Frauen weltweit immer wieder dieselbe Situation erleben: dass ihnen die Schuld gegeben wird, wenn ihnen sexualisierte Gewalt widerfährt.
kleinerdrei: Du hast erwähnt, dass Männer sich, nachdem sie den Film gesehen haben, sehr stark mit Betroffenen sexualisierter Gewalt solidarisieren. Wie sieht das dann genau aus?
Nancy Schwartzman: Ich sehe, dass sie sich im Privaten viel deutlicher engagieren, würde mir aber wünschen, dass sie sich auch zentraler organisieren. Dass es irgendeine Dachorganisation gäbe, zum Beispiel, damit diese Männer sich gegenseitig leichter finden können und auch besser für andere sichtbar werden. Rollenvorbilder und Mentoren sind hier sehr wichtig und fürs Verständnis hilft es natürlich, wenn sich der eine Typ, von dem du eh schon Freund oder Fan bist, entsprechend zum Thema äußert.
kleinerdrei: Du hast auch eine App entwickelt, die sich „Circle of 6“ nennt. Was hat es damit im Kontext deiner Arbeit auf sich?
Nancy Schwartzman: Es ist eine sehr simple mobile App und die Idee dazu entstand in Gesprächen mit Studentinnen und Studenten. Die Überlegung dahinter ist, wie man junge Menschen die gerade abends und nachts viel unterwegs sind, unterstützen kann, um für sie unangenehme oder gar gefährliche Situationen zu entschärfen. „Circle of 6“ ist quasi ein Werkzeug, um Gewalt entgegenwirken zu können, bevor es überhaupt erst dazu kommt. Dabei basiert es auf der Idee, dass deine Freundinnen und Freunde wie eine eigene kleine Familie sind. Vor allem wenn du weit weg von zu Hause bist, zum Beispiel weil du fürs Studium umziehen musstest. Die App wurde mittlerweile über 50.000mal heruntergeladen und ist für 26 Länder verfügbar [Anmerkung: Eine deutsche Version gibt es bisher nicht, ist aber in Planung.].
Du wählst aus 6 Freundinnen und Freunden deinen eigenen Kreis vertrauter Menschen. In der App gibt es dann 3 Grundbefehle, die in jeweils zwei simplen Schritten ausgelöst werden: 1. „Hol mich ab“, womit eine SMS an deinen Circle verschickt wird, in der per GPS dein Standort vermerkt ist und die aussagt, dass du Hilfe brauchst, um sicher nach Hause zu kommen. 2. „Ruf mich an“ – Hier wird wieder eine SMS an alle verschickt, die besagt, dass du angerufen werden möchtest, weil du gerade eine „exit strategy“ aus einer Situation brauchst. 3. „Ich brauche Rat“ – Diese automatische SMS-Nachricht bedarf zwar keiner direkten Reaktion durch den Vertrauenskreis, setzt aber darüber in Kenntnis, dass du dir Informationen dazu einholst, wie man über eigene (sexuelle) Bedürfnisse reden kann – etwas, das dann eventuell beim nächsten persönlichen Treffen thematisiert werden kann, ohne lange herumzudrucksen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit neben 2 festen Notfallnummern zu speichern, die ebenfalls durch einmal antippen angerufen werden können.
Ich wollte, dass die App vollkommen wertfrei an das Thema herangeht. Denn wenn du jung bist und ausgehst, hast du vielleicht was getrunken, weißt nicht immer genau, wo du bist und willst dich aber auch nicht ewig erklären müssen, wenn du einfach wieder sicher nach Hause kommen möchtest. Und vor allem willst du in solchen Situationen nicht erst lang überlegen müssen, wen du eigentlich um Hilfe bitten kannst. „Hol mich ab“ ist einfach praktisch durch die integrierte Standortfunktion, „Ruf mich an“ brauchst du zum Beispiel wenn du auf einer Party bist und der eine Typ einfach nicht checkt, dass du nichts von ihm willst, du also eine schnelle und unkomplizierte Ablenkung von der Situation brauchst. „Ich brauche Rat“ setzt sich mit der Realität auseinander, dass Dating und Sex nicht immer nur Schmetterlinge im Bauch bedeuten, sondern eben auch ungesund und gewaltvoll aussehen können – es aber leider nicht immer so leicht ist, das direkt anzusprechen. Mir war außerdem sehr wichtig, dass man eine Notfallnummer selbst festlegen kann, da ich zum Beispiel niemandem vorschreiben würde, in Gefahrensituationen immer zur Polizei zu gehen.
Es geht auch darum, zu schauen, mit welchen Personen du dich sicher fühlst und wie man Veranwortung für einander übernehmen kann. Männer freuen sich zum Beispiel oft sehr, wenn sie im Vertrauenskreis einer Freundin landen und somit wirklich auf praktische Weise helfen können.
kleinerdrei: Der Anwendungsfall bezieht sich ja vor allem auf den klassischen College Campus. Hast du das Gefühl, dass die App für die Großstadt vielleicht weniger geeignet ist, weil man da nicht so nah aneinander wohnt?
Nancy Schwartzman: Ich finde sogar, dass es für eine Stadt wie New York gut funktioniert. Natürlich ist es besser, Personen zu haben, die nicht so weit entfernt von dir sind und damit schneller helfen können, aber am Ende geht es vor allem darum, wem du vertraust. Sie wissen, wo du steckst und du weißt, dass du dich im Zweifelsfall auf sie verlassen kannst. Ich weiß von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, die die App nutzen oder von Journalistinnen und Journalisten, die sie bei verdeckter Recherche einsetzen. Eltern lieben die App, weil ihre Kinder sie schnell und unkompliziert um Hilfe bitten können. So eine App ist natürlich immer noch kein Ersatz für Aufklärungsarbeit oder rechtliche Schritte, aber sie ist eben eine Möglichkeit, um etwas mehr Sicherheit zu schaffen.
kleinerdrei: Was ist denn dein nächstes Projekt?
Nancy Schwartzman: Nach meiner bisherigen Arbeit im Dokumentarfilmbereich entwickle ich gerade mein erstes fiktionales Drehbuch. Es wird darum gehen, wie vor allem Frauen das Internet nutzen, um intime Beziehungen herzustellen und an Sex zu kommen.
Alle Links auf einen Blick:
• Webseite von Nancy Schwartzman
• Nancy Schwartzman auf Twitter
• „Where is your line“-Kampagne
• „The Line“-Trailer und Link zur Preview
• Webseite zu „Circle of 6“
• TED Talk über „Circle of 6“
• Nancys Kurzdoku „xoxosms“ online gucken