Vine: Fingerspitzenfilme

Das Bild zeigt abgerolltes Filmmaterial.
Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Techy2610

Ich gehöre ja – trotz Freude am Bloggen und Tweeten – eigentlich eher zu den Bewegtbild-Menschen. Öfter sind von mir Sätze zu hören wie “Ach, ich warte auf die Verfilmung…” oder “Nein, aber ich habe den Film gesehen!”. (Dann ist es auch eher unwahrscheinlich, dass ich das Buch noch lese – sorry, J.R.R. Tolkien). Text ist schon fein, aber Bilder sind noch ein bißchen besser. Und am besten bewegt. So verwundert es mich auch nicht sehr, dass ich für meine Begriffe ungewöhnlich schnell die neue Video-App “Vine” ausprobiert habe – “early adopten” muss ich nicht um jeden Preis, und gerade bei Social-Media-Plattformen macht es ja eh erst Spaß, wenn schon ein paar Leute dabei sind. Aber bei Vine war ich schnell Feuer und Flamme.

Kurze Erklärung: “Vine – Make a Scene” ist eine Ende Januar 2013 gelaunchte, kostenlose App für iPhone und iPod Touch, die ähnlich wie die Foto-Plattform Instagram funktioniert – nur, dass die User bei Vine keine quadratischen Fotos, sondern 6-sekündige Videoclips posten, die im Loop abgespielt werden. Mittlerweile gängige Social-Media-Features – asynchrones Follower-Prinzip, Kommentar- und Like-Funktion, Ortsangabe – sind natürlich integriert. Das Erstellen der Videos ist denkbar einfach: in der App wird über einen Button die Kamera aktiviert, dann per Tippen auf den Bildschirm die Aufnahme gestartet. Diese läuft aber nur so lange, wie der Finger den Bildschirm berührt. Durch erneutes Antippen wird weiter aufgenommen – so lange, bis 3-6 Sekunden erreicht sind. Fertig ist der Clip.

Auf den Digital-Netz-Apple-Gadget-usw.-Blogs und in den entsprechenden Zeitungs-Ressorts wurde die App zu ihrem Launch natürlich vorgestellt – und unter anderem hinsichtlich ihres Social-Media-Strategischen Wertes besprichen: schon bevor Vine überhaupt fertig war, wurde die Firma bereits durch der Kurznachrichtendienst Twitter aufgekauft, der damit, so scheint es, Punkte im Multimediasegment gegen Facebook und Instagram sammeln will usw. usw. Soweit, so gähn. Dies sind Dinge, die Social-Media-Menschen zwar natürlich interessieren oder zu interessieren haben, aber dabei wird mir, wie so oft, zu wenig nach dem “Was?” gefragt. Was ist das Potential dieser App jenseits der Strategien, der Unternehmen und der Vernetzung?
Was kann sie?

Videos machen, das können ja nun mittlerweile schon viele Smartphones, mitsamt der Möglichkeit, sie direkt auf der Social-Media-Plattform der Wahl zu posten – zumindest als Link. Ich behaupte aber, Vine macht mit seiner Technik hier einen großen Unterschied. Einen wichtigen! Was dort fasziniert und begeistert, ist die unmittelbare Einsatzmöglichkeit und die simple Präzision, mit der “Schnitte” entstehen – denn das Video wird, wie gesagt, immer nur exakt so lange aufgenommen, wie der Finger auf dem Bildschirm ist. Wird er wieder berührt, geht es weiter – wer eine ruhige Hand hat, schafft dies in Schritten vom Bruchteil einer Sekunde. Ich lehne mich jetzt vielleicht etwas aus dem Fenster, habe aber noch einen guten Stand dabei, wenn ich sage: Mit dieser simplen App ist es schlicht möglich, zu erleben und auszuprobieren, wie Film gemacht wird. Ein Grundkurs Film sozusagen, im Finger-Tip-Mikro-Studio. Es ist möglich zu erleben, wie sich ein Schnitt zum anderen verhält. Wie die Dinge in Bewegung geraten, wenn ich sie aneinanderreihe. Wie ich mit dem spielen kann, was die anderen nicht sehen, indem ich Ausschnitt und Zeitsprung wähle. Nicht umsonst entstehen gerade sehr viele Vine-Videos darüber, wie Gläser sich von alleine leeren, Obst sich magisch selbst vom Teller verputzt oder Spielzeuge sich in die Kiste räumen. Das ist nicht nur die Fortführung von Instagram mit anderen Mitteln: es ist die Erschließung des Alltags mit den Grundelementen des Films. Es mag die Naivität der ehemaligen Filmwissenschafts-Studentin sein, die hier aus mir spricht, aber in meinem Kopf jubeln gerade etliche Filmtheoretiker_innen auf ihren Wolken und ich muss etwa an die Animationsexperimente von Oskar Fischinger oder Mary Ellen Bute denken. Denn, was bei Vine nicht übersehen werden darf, bei all der moderner Technik, die uns eine solche Möglichkeit einfach so in die Hand gibt: wir wissen zwar, dass dies kleine digitale Videofiles sind, irgendwo auf Server gespeichert. Aber was wir sehen, das hat einen ganz und gar analogen Ursprung. Keine Computeranimation, keine Tricks, keine Filter. Es sind Bilder, die quasi genauso eingefangen werden, wie dies auch schon vor 100 Jahren der Fall war. In dem wir Bildausschnitte wählen, Zeiten bestimmen, Kameraeinstellungen und -winkel. Bestes Beispiel für die “analoge” Qualität der Filmchen sind die vielen Stop-Motion-Animationen, die auf Vine entstehen – gänzlich ohne Computer, sondern mit Knete, Stiften, Papier, Spielzeugautos, Zeug. Natürlich gibt es auch auf etwa Youtube viel tolle handgemachte Stop-Motion zu sehen. Bei Vine sind aber demgegenüber sowohl Erstellung als auch Rezeption ultimativ vereinfacht – hier posten nicht nur kreative Design-Studenten mit zu viel Zeit und Youtube-Kanal, sondern alle möglichen Leute, bei denen ich das Gefühl bekomme: die wollten das schon immer mal ausprobieren. Von der Kürze der Clips darf man sich bei der Einschätzung der App nicht täuschen lassen –  limitierte Mittel fordern und begünstigt im Zweifelsfall die Kreativität eher, als dass sie behindern. Und auch in sechs Sekunden kann eine Geschichte erzählt werden.


Von Lazybearkhoa. (aufstrebender Vine-Star!)

Als Freundin des Stop-Motion-Tricks wie auch überhaupt der “stofflichen” Filmkunst geht mir da natürlich das Herz auf, und mir fallen viele tolle Möglichkeiten ein – etwa wie sich damit Kindern die Gundzüge des Filmemachens vermitteln und welche medienpädagogischen Ideen sich umsetzen ließen (“Animiere die Photosynthese in sechs Sekunden aus Smarties!”). Aber ach, das wird – zumindest über Vine – wohl eher ein Wunschtraum bleiben, vorerst jedenfalls. Denn, wie so oft ist der Zugang zu dieser tollen Plattformen bisher ein sehr sehr enger, was ihre ganze Niedrigschwelligkeit konterkariert. Erforderlich ist das richtige Gerät in der richtigen Aktualität, mit ausreichend GB im Internet-Tarif. Nicht zuletzt mal wieder eine Geldfrage also, und für manche, die das geschlossene Apple-System ablehnen, auch eine Überzeugungsfrage. Für andere mobile Betriebssysteme/Geräte ist Vine leider noch nicht verfügbar, und auch wenn die Videos auf der Twitter-Website ansehbar sind, so doch nur von Usern, die sie auch tatsächlich auf Twitter posten (Twitter ist auch bislang der einzige Zugang, um die Links auf die Videos abzugreifen – gerne hätte ich hier noch mehr gezeigt, aber eine Vine-Web-App gibt es leider bislang noch nicht). Wer seine Clips nur auf Vine postet, behält sie damit der Community dort und dem Anschauen auf dem kleinen Apple-Gerät vor. Alles andere als barrierefrei also, in jeder Hinsicht. Das ist sehr bedauerlich angesichts der kinderleichten Handhabung, die die Technik über Smartphones eigentlich bietet. Für Android-User gibt es eine kleine Hoffnung, denn vor kurzem suchte das Vine-Team nach einem entsprechendem Developer. Ein bißchen dauern wird es aber wohl noch.

Natürlich gibt es auch viel Banales, Langweiliges oder auch Geschmackloses auf Vine. Die Perlen springen einer nicht bei jedem 2. Post entgegenen. So bekam die App auch gleich nach dem Launch deutlich mehr Presse als erwünscht, nachdem sich Porno-Schnipsel unter den “Empfehlungen” für neue User fanden (wenig überraschend eigentlich). Nun muss für den Download der App ein Alter von 17 Jahren bestätigt werden. Das ist verständlich, aber ebenfalls ein bißchen schade, ist die Technik doch gerade auch schon für Kinder sehr faszinierend. Ein Glück wer Eltern hat, die den Nachwuchs in die eigenen “Vines” einbeziehen (oder zumindest ihr Spielzeug!):


Von dasnuf.


Von Pinot.

Wer also schon auf die App zugreifen kann, dem kann ich empfehlen: Stöbern lohnt sich (ganz abgesehen von Filmen!). Natürlich finden sich auch schon die ersten amerikanischen Comedians, die dort ihren Radius erweitern, und sogar ein Film wird dort seine “Vorab-Premiere” haben: die schwarze Komödie “It’s A Desaster” von Todd Berger, die in den USA Anfang April anläuft, kann seit dem 19.02. aus sporadischen Sechssekündern zusammengepuzzelt werden. Natürlich ist dies vor allem eine Marketing-Spielerei. Apps wie Vine können aber, da bin ich sicher, noch weitaus mehr sein.


Von Lazybearkhoa.

4 Antworten zu “Vine: Fingerspitzenfilme”

  1. gifboom | sagt:

    […] Vine hat übrigens @autofocus einen lesenswerten Beitrag […]

  2. plastikstuhl sagt:

    Ganz großartiger Post. … Wir haben tatsächlich vor zwei Wochen Vine im medienpädagogischen Seminareinsatz ausprobiert. Sehr empfehlenswert. Gerade kurz die Erfahrungen dazu verbloggt: http://woetzel-herber.de/2013/02/18/vine-in-der-politischen-medienbildungsarbeit/

  3. […] Lucie hat recht, wenn sie auf kleinerdrei.org schreibt, dass die App ein großes medienpädagogisches Potenzial birgt: […]

  4. […] #TheWolverine trailer premieres on Wed, March 27 on MTV and Apple Trailers. | Stand 4.2.2014 [3] Vine: Fingerspitzenfilme | Stand 4.2.2014 [4] Was ist Vine und wie man die 6 Sekunden Clips fürs Business nutzen kann […]