Ich bin schwul – und was soll das jetzt eigentlich heißen?

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Was bedeutet es eigentlich, wenn man sagt, man sei schwul? Ist diese Kategorie nicht eigentlich längst schon veraltet? Müsste man nicht eher von nicht-heterosexuell und von LGBTIQ sprechen? Und was passiert, wenn man nicht mehr von „schwul“ spricht? Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Eine Standortbestimmung mit hohem Theorieanteil.

Als ich angesprochen wurde, ob ich nicht für »kleinerdrei« schreiben wollte, war ich erst einmal unsicher, ob ich überhaupt etwas beizutragen habe, was interessiert. Bei meinem wirren Portfolio dachte ich mir dann aber, dass sich sicherlich das eine oder andere finden lässt, zwischen Glitter, Feminismus, Penissen, Literaturtheorie und Gedichten. Ich dachte mir: Juchu, das wird lustig, ein selbstbewusst Schwuler (damit meine ich nicht unbedingt, dass ich selbstbewusst bin, sondern, dass ich selbstbewusst schwul bin) schreibt für »kleinerdrei« und ich malte die Gesichter meiner Kollegen vor dem inneren Auge mit Regenbögen an und streute Glitzer drauf. Ich wollte daraus also auch so ein schwules Ding machen. Dazu musste ich mir jedoch erst einmal Gedanken machen und eine Standortbestimmung durchführen und das ist dabei rausgekommen. Aber seid gewarnt: Bereits im dritten Satz des nächsten Absatzes fällt der Name Judith Butler. Nicht dass noch jemand mit Schnappatmung und Schaum vor dem Mund vom Stühlchen fällt.

Ich bin also schwul. Aber ich weiß gar nicht, ob das stimmt und was das überhaupt heißen soll. Nachdem ich Judith Butlers »Gender Trouble« gelesen hatte, dachte ich mir: Na, irgendwie auch doof von sich zu sagen, man sei irgendwas, ob jetzt nun asexuell, lesbisch, bi, trans, inter, queer, schwul oder heterosexuell. Es gibt so viele Sexualitäten wie es Individuen gibt – so! Ich finde es manchmal deswegen sogar problematisch zu sagen, dass ich schwul sei. Ich war mit Menschen zusammen, die ich mochte und ich hatte Sex mit ihnen, weil ich auf sie stand und zufällig waren diese Menschen männlich. Wie könnte ich also jemals ausschließen, dass ich nicht irgendwann auf eine Frau stoße, die ich anziehend finde? Ich kann das doch aus meiner gegenwärtigen Position nur für unwahrscheinlich halten, ganz ausschließen kann ich das jedoch nicht. So wie kein heterosexueller Mann es ausschließen kann, jemals irgendetwas mit einem Mann zu haben (Stichwort: MSM), kann kein Schwuler ausschließen, etwas mit einer Frau zu haben. Wir sind schließlich keine Hellseher. Andererseits wird einem diese Gleichung erst bewusst, wenn man Interesse (und sei es sexuelles Interesse) an den Menschen bindet und nicht an sein Geschlecht dahinter – denn das ist sexistisch.

Doch so einfach ist das ja leider nicht. Dass diese Kategorien als Konstrukte durchschaut werden, macht sie nicht weniger bindend. Es zeigt uns lediglich die Möglichkeit, dass wir sie verändern können, wenn wir uns – mal mehr, mal weniger – anstrengen. Die Gesellschaft operiert nun einmal mit diesen Kategorien und wenn ein Schwuler Sex mit einer Frau hat, wird er zu hören bekommen: »Also bist du ja gar nicht schwul?«, was soviel heißt wie: Entscheide dich doch mal, du kannst nicht auf beiden Seiten stehen. Die Norm ist heterosexuell und jemand, der von ihr abweicht, genießt nicht mehr ihre Privilegien. Das ist schon schlimm genug. Wagt es jedoch jemand die Grenze zwischen Norm und Abweichung dauernd zu überschreiten und zu überschreiben, bringt er diese Norm ins Wanken, weil das starre System angegriffen wird: Ist er jetzt hetero- oder homosexuell? Er sagt, er sei schwul, hat aber mit Frauen Sex? Zu welcher Seite gehört er jetzt? Ist das überhaupt wichtig? Zackbumm: Die Dekonstruktion ist da.

Aber was ist dann mit der verloren geglaubten gay culture, gab es die also nie wirklich bzw. hätte die es nie geben sollen? Haben die Schwulen, indem sie als solche für ihre Rechte eingetreten sind, das System eigentlich nur subtil verstärkt, anstatt das Problem an der Wurzel zu packen? Und warum schreibe ich dann hier aus einer dezidiert schwulen Perspektive? Nun, ich lese seit kurzem Gayatri Chakravorty Spivak, die u. a. von einem »strategischen Essentialismus« spricht – also noch mehr Theoriegeschwurbel. Es ist aber gar nicht so schwierig: Wenn man, wie ich oben andeutete, die Kategorien als Konstrukte auffasst (wie, ist gerade egal), die uns beeinflussen und prägen, die aber veränderbar sind, weil sie in gewisser Weise zufällig sind: Dann kann man von Konstruktivismus sprechen. Wenn ich aber sage: Diese oder jene Gruppe ist soundso, also, z. B., „Alle Schwulen sind femininer als heterosexuelle Männer.“, dann ist das essentialistisch, da der Essentialismus von einer Essenz ausgeht, etwas, das alle gemein haben und das unveränderlich ist. Das sind zwei beliebig abstrahierbare Prinzipien, die sich in der Regel gegenseitig ausschließen und ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Essentialismus mittlerweile ziemlich passé ist. Zumindest unter vernünftigen Menschen.

Wenn wir, die es anscheinend besser wissen, diese Kategorien nicht mehr verwenden, um sie nicht zu stärken, entsteht ein ernstes Problem, weil die Gesellschaft diese weiterhin verwendet. Ich werde zu einem Schwulen, weil die Gesellschaft mich so nennt. Benutze ich diese Bezeichnung nicht, habe ich keine Möglichkeit mehr, diese Kategorie aufrecht zu erhalten, sie zu benennen und auf sie aufmerksam zu machen. Konkret: Benutze ich die Begriffspaare homo-/heterosexuell und auch weiblich/männlich nicht mehr, wie kann ich dann darauf aufmerksam machen, dass z. B. nicht-weiße Lesben unter signifikant schlechteren Lebensbedingungen leben als weiße Schwule? Man darf niemals vergessen, dass solche Aspekte wie Gender sich immer mit anderen wie Hautfarbe oder Klasse koppeln und oft neue Gruppen und Kategorien bilden. Dabei sind es doch gerade diese Aspekte, die wir so gerne aufweichen und entkräften möchten. Tun wir dies jedoch dadurch, dass wir diese Kategorien aus unserem Sprechen und unserem Denken streichen, machen wir diese gekoppelten Gruppen unsichtbar und nehmen damit wahrscheinlich gerade diejenigen nicht mehr wahr, die unter dieser Zuordnung am meisten leiden. Kurz gesagt: Solange die Gesellschaft diesen Unterschied macht, müssen wir ihn zumindest theoretisch nachvollziehen, damit keiner der Betroffenen von der Bildfläche und aus der Wahrnehmung verschwinden muss. Übrigens ist genau das auch eine Kritik am Konzept queer und an solchen Disziplinen wie der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die in ihrer selbstausgestellten Kategorienlosigkeit politisch relevante Gruppen verschwinden lassen.

Die Betroffenen, die oft – wenn ich Spivak richtig verstanden habe – keine Stimme haben und nicht für sich selbst sprechen können, sondern für die gesprochen wird, können sich in einem strategischen Essentialismus zusammenschließen, um sich politisch zu emanzipieren und um eine Stimme zu erhalten. Darunter verstehe ich solche Bewegungen wie, natürlich, die Schwulenbewegung oder die Négritude, aber auch den Feminismus. Letztendlich rechtfertigt der politische Einsatz für Gleichberechtigung einen temporären Essentialismus, der wieder abgebaut gehört, wenn diese erreicht ist. Gleichzeitig erschwert er uns die o. g. Attributkopplung sichtbar zu machen, indem wir uns nur auf eine Eigenschaft konzentrieren. Beides muss also gleichzeitig mitgedacht werden. Was, das muss ich zugeben, reichlich schwer ist. In dieser Hinsicht erklärt das jedoch meine schwule Perspektive: Ich kann und ich will nicht für andere sprechen. Ich habe keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit der Lesben, Inter- und Bisexuellen und Transmenschen und habe mich deshalb dafür entschieden aus meiner schwulen Lebenswirklichkeit heraus zu schreiben und dies auch kenntlich zu machen. Das heißt aber jedoch noch lange nicht, dass ich die gerade genannten Gruppen nicht in meine Überlegungen mit einbeziehe. Nein, ich maße mir nicht an für sie zu sprechen, »als einer von ihnen«, sondern höchstens mit ihnen, soweit das möglich ist und sie eine Stimme haben. Zumindest habe ich mir vorgenommen das stets zu versuchen – ob das immer funktioniert, ist eine andere Sache. Ich bin ja schließlich noch immer weiß und männlich und entspreche damit noch immer zu großen Teilen der gesellschaftlichen Norm. Ich bin also letztendlich nicht wirklich schwul, ich ordne mich aber politisch dieser Gruppe zu, um eine Stimme zu haben und um über meine Lebenswirklichkeit zu berichten.

Auch wenn das jetzt viele offene Theoriefässer waren und ich vielleicht in die eine oder andere theoretische Tretmine getappt bin – das ist der Ort, von dem ich starte, hier bei »kleinerdrei«. Meine Unterlage, auf der ich schreibe. Und die wird sich natürlich im Laufe der Zeit verändern, aber ich dachte mir, ich sage euch im Voraus schon einmal: Hallo, ich bin Daniel, ich bin schwul, ich schreibe für »kleinerdrei« und das nächste Mal gibt es mehr Glitter, Drag und Penisse. Versprochen.

18 Antworten zu “Ich bin schwul – und was soll das jetzt eigentlich heißen?”

  1. naitaoni sagt:

    Klasse Einstand, Daniel! Sehr schöner Artikel, hab mich in vielem von dem was du schreibst wiedergefunden! Gerne mehr von dir in Zukunft…

  2. J.P. sagt:

    Ein sehr schöner Artikel!

    Eine Frage: Du schreibst „Ich bin also letztendlich nicht wirklich schwul, ich ordne mich aber politisch dieser Gruppe zu“ – möchtest du damit sagen, dass es andere gibt / geben könnte, die „wirklich schwul“ sind, zu denen du aber nicht gehörst, oder dass niemand „wirklich schwul“ ist sondern alle sich nur „politisch dieser Gruppe zuordnen“? Das wird nicht ganz klar.

    • daniel doublevé sagt:

      danke für das lob! :)
      ich meinte letzteres. du hast recht, die formulierung ist etwas unglücklich und lässt mehrere interpretationen zu. ich werde in zukunft besser darauf achten & danke für den hinweis!

  3. Samya sagt:

    Mich nervt dieses „wir dürfen keine Schubladen kreieren“ ehrlich gesagt langsam. Irgendwie braucht man schließlich auch eine Identität und die Begriffe, die uns die Gesellschaft dafür gibt, sind eigentlich schon ganz sinnvoll. Es gibt viele verschiedene Begriffe für die verschiedenen Weisen, seine Sexualität auszuleben (siehe dazu zum Beispiel hier: http://www.sexintheair.de/sex/homo-bisexualitaet/zwischenformen/ oder noch besser hier: http://www.sexintheair.de/sex-und-masturbation/mann-frau-oder-beides-von-androgynie-crossdressing-und-transsexualitat/) und jeder findet meistens irgendeine Kategorie, in die er passt. Vielleicht ist es ein „in die politische Gruppe einordnen“, wie du schreibst, vielleicht auch einfach ein natürlicher Schritt in der Identitätsfindung.

    Natürlich wird man zu dem, wie die Gesellschaft einen nennt – aber vor allem ist man etwas, das man für sich selbst definiert. Und dann kann einem die Gesellschaft einfach mal egal sein. Freunde werden einen akzeptieren, egal wie man sich bezeichnet. Und wenn man gar keine Schublade will – gut, dann lässt man sich eben in keine Schublade stecken. Auch das werden Freunde unterstützen.

    Letztendlich geht es nur um Begriffe, die man sich entweder als Identität aufpressen lässt oder die man sich selbst sucht, um seine Identität zu finden. Wer unter dem Druck der Gesellschaft zusammen bricht, wird unglücklich mit dem Begriff sein, wer stark genug ist, seinen eigenen Weg zu gehen, wird wahrscheinlich damit glücklich (auch wenn es natürlich nicht immer leicht ist).

    Es kommt also einfach darauf an, wie man diese Schublade sieht: Als Möglichkeit, sich auszudrücken oder als Gefängnis.

    • daniel doublevé sagt:

      also meiner meinung nach vermischst du gerade sehr viele dinge, vor allem auch sachen, die ich in meinem artikel gar nicht anspreche.

      zum beispiel spreche ich nicht von »wir dürfen keine schubladen kreieren«, sondern davon, dass wir uns bewusst machen müssen, dass wir uns diese schubladen in einer weise ausdenken, die es erlaubt, sie zu verändern, wenn wir das wollen. andererseits gibt es gesellschaftliche kategorien, die aufrecht erhalten werden und die menschen diskriminieren können (z. b. die kategorie männlich/weiblich, die transmenschen und intersexuelle diskriminieren kann). gleichzeitig ist es eine illusion zu glauben, dass es ohne »schubladen« geht. »sich nicht in eine schublade stecken lassen« ist zwar eine schöne redewendung, in der realität aber völlig unbrauchbar. des weiteren ging es bei mir auch nicht darum, seine verschiedenen arten von sexualität auszuleben.

      jedenfalls ist es so, dass ich die begriffe, die uns die gesellschaft gibt, oft ganz und gar schrecklich finde. ich bin aber gezwungen sie ebenfalls zu benutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass ich sie nicht mag. der gesellschaft ist es im übrigen scheißegal, wie ich mich definiere, weil sie mich für sich mit ihren kategorien überschreibt.

      ob meine politische zuordnung ein »natürlicher schritt meiner identitätsfindung« ist – keine ahnung. ich weiß weder, was du mit »natürlich«, noch mit »identität« meinst. es scheint mir aber ein recht traditionelles verständnis zu sein, mit lebensweg, schubladen und starken und schwachen menschen und einer menge irreführender metaphern. ich denke nicht, dass einem die gesellschaft »einfach mal egal« sein kann und ich weiß, dass es genug menschen gibt, die auf der strecke bleiben »auf ihrem weg«. und das ist schon grund genug für mich diesen umgang mit begriffen zu kritisieren – jeden umgang, bei dem irgendjemand ausgeschlossen oder zurückgelassen wird.

  4. Anne Wizorek sagt:

    Auch von mir noch mal ein dickes Merci für diesen tollen Beitrag! :)

  5. SL sagt:

    Joho, danke für deinen Artikel! Bin ebenfalls gespannt, was noch kommt. Habe mir aus meiner (cis-weiblichen, pansexuellen) Perspektive ebenfalls viele Gedanken dazu gemacht und komme hoffentlich bald dazu, sie in einem eigenen blog zu verbreiten.

  6. Christian sagt:

    Es spricht vieles dafür, dass man nicht nur zufällig mit Menschen Sex hat, die männlich oder weiblich sind, sondern dem ganzen ein biologischer Mechanismus zugrunde liegt.
    Fraternal birth order, Zwillingsstudien, Digit Ratio, Tierstudien, Häufigere Homosexualität bei CAH-Frauen, Diethylstilbestrol (DES), cloacal exstrophy, all diese Umstände legen es zumindest sehr nahe

    • daniel doublevé sagt:

      hast du dazu irgendwelche weiterführenden links? würde mich sehr interessieren!

      ich würde dem spontan entgegenhalten, dass solche aspekte der bildung des »sex«, des biologischen geschlechts, zugrunde liegen, das genauso konstruiert wird wie »gender« – das ist zumindest judith butlers meinung mit der ich überein stimme.

      ich will damit nicht sagen, dass bei sexueller identität biologische aspekte keinerlei rolle spielen. ich gebe aber zu bedenken, dass auch diese ein teil der kategorien und konstruktionen sind. gerade scheinbar naturwissenschaftlich-biologische argumente werden gerne so platziert, dass sie als unumstößliche fakten über allem schweben. sie sind aber ein teil des netzes, da sie auch von menschen produziert werden und in der regel die stellung der dominanten norm stärken (butler würde sagen: die heterosexuelle matrix).

  7. Fantastische Einführung. Es war zwar für mich nicht zwingend Neues dabei, aber so schön leicht zugänglich und mit fließend eingebundener, eigener Stellungnahme habe ich lange nichts zu diesen wichtigen Theorien gelesen. Danke.

    • daniel doublevé sagt:

      danke! finde es interessant wie der artikel ankommt und wie die kommentare manchmal das gegenteil voneinander behaupten. :)

  8. daniel doublevé sagt:

    um die meisten dinge, die du ansprichst, ging es mir gar nicht, deswegen wurden sie auch nur angerissen – die bedürfen eigentlich eigener artikel. und vielleicht werde ich darüber auch noch schreiben.

    stattdessen geht es mir tatsächlich um den »ganzen critical-whiteness-diskurs« und wie man schlicht mit solchen theorien wie butlers noch politisch für »seine« gruppe eintreten kann. so ein »komischer neo-essentialismus« (wobei ich spivaks terminus »strategischer essentialismus« bevorzuge) ist für mich darauf eine antwort, da er zunächst einmal ein schwules subjekt konstituiert, dass es in dieser form wahrscheinlich gar nicht gibt, das aber nötig ist, um als politische gruppe aufzutreten.

    eine schwule lebenswirklichkeit ist für mich alles, bei dem ich merke, dass ich nicht der norm entspreche und das merke ich jeden tag. alles, weil ich schwul bin. »glitter, drag und penisse« ist natürlich hierbei auch als rhetorische überspitzung zu lesen, aber nicht nur.

    zu deiner forderung des mitdenkens: genau das fordere ich in meinem artikel doch auch. allerdings positionierst du dich leider nicht zu meinem und spivaks vorwurf: dass signifikante unterschiede unsichtbar und gruppen stumm gemacht werden, wenn kategorien im jetzigen zustand der ungleichheit weggewischt werden.

    zuletzt: weitere artikel werden sicherlich kommen. ob sie aber – nach deinem verständnis – konsequenter sein werden, wage ich zu bezweifeln. ;)

    • Janus sagt:

      Danke für die Antwort!
      Zu dem Vorwurf: dass signifikante unterschiede unsichtbar und gruppen stumm
      gemacht werden, wenn kategorien im jetzigen zustand der ungleichheit
      weggewischt werden positioniere ich mich gerne noch. Ich würde sagen, es kommt auf den Kontext der Benennung an; geht es um Feststellungen über Ungleichheiten und um politische Forderungen, so macht es Sinn, sich auf die Kategorien zu beziehen, die fremd-zugewiesen werden. Ob dies allerdings in Form eines strategischen Essentialismus sein sollte (das hieße, wenn ich das richtig verstehe, man nimmt sich diese Kategorie an und behauptet ein politisches Subjekt, was mit dieser Fremdzuweisung identisch ist), ist eine ganz andere Frage. Nehmen wir beispielsweise die Feststellung, dass Frauen in vielfacher Weise gegenüber Männern benachteiligt werden. Indem man dies festellt, bezieht man sich auf die Kategorien „Männer“ und „Frauen“, egal ob man das Bestehen dieser Kategorien sonst für wünschenswert erachtet. Etwas anderes ist es aber, sich als „Frauenbewegung“ zu deklarieren, oder analog meinetwegen als „Schwulenbewegung“, weil das meist einhergeht mit viel komplexeren Essentialisierungen als der bloßen Feststellung, eine Gruppe sei diskriminiert. Eine „Gruppe“ wird behauptet (Zugehörigkeit aufgrund der Tatsache, dass man ein zugeschriebenes Merkmal teilt), viele einzelne Personen fangen dann an, im Namen dieser Gruppe oder einer sozialen Position zu sprechen, gefolgt von Auseinandersetzungen, die um eine Wahrheit der Kategorie ringen. (mögliche Effekte: Differenzfeminismus, Spaltung von „Schwulen- und Lesbenbewegung“ zu zwei seperaten Bewegungen, usw.)

      Diese Essentialismen, die da hervorgebracht werden haben in meinen Augen nichts mit einem „strategischen“ Essentialismus zu tun, (der ja intendiert und nur zur Erreichung bestimmter Zielsetzungen wäre, wenn ich das richtig verstehe), sondern gehen mit so eines seltsamen neuen Gläubigkeit an die Kategorien einher – das meine ich mit „komischen Neo-Essentialismus“. Auch was da grad im Zusammenhang mit Critical Whiteness passiert, finde ich wirklich gruselig: dieser Bekenntnisdrang, was die eigene soziale Position angeht, die Pauschalisierungen, was eine bestimmte Position angeblich automatisch „ist“ und „bedeutet“, die 1:1-Übertragungen von Kollektivebene auf Individualebene.

      Ich frage mich allerdings auch, wie du den „strategischen Essentialismus“ auf die Frage der Selbstbenennung als „schwul“ überträgst. Ich kann trotz großer Anstrengung, wenn ich mich umblicke, keine Schwulenbewegung mehr erkennen, und die Selbstbenennung als „schwul“ dient in der Regel keinen politischen Zwecken (mehr), sondern meint eine Idenitätsbeschreibung. Wie mit einer solchen geholfen ist, sehe ich nicht, denn grob gesagt geht es doch darum, dass verschiedene Formen des Begehrens und der Beziehungen anders behandelt und bewertet werden, und nicht darum, dass ich aufgrund meines „Schwulseins“ mich in meiner Identität von anderen unterscheide. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass der Begriff „schwul“ sogar eher hinderlich ist, weil man sich damit Typisierungen ins Boot holt, die mit der eigentlichen Ungleichbehandlung von Beziehungen je nach geschlechtlicher Zusammensetzung überhaupt nichts zu tun haben.
      Sich einen Begriff als Identitätsbezeichnung anzunehmen, der historisch dazu diente, „den Homosexuellen“ als andersartigen Typus zu beschreiben, war vielleicht in den 60ern historisch sinnvoll, als bewusste Rückaneignung herabsetzender Begriffe; nun sind die Gegebenheiten aber inzwischen historisch andere und der Begriff hat sich verselbständigt, in einer Form, die mich zumindest dazu bringt zu überlegen, in wiefern ich diesen Begriff noch für mich verwenden will.

      Ich freue mich über Antwort von dir!

  9. daniel doublevé sagt:

    da magst du durchaus recht haben! mein beschriebener gedankengang dient aber durchaus als erklärung der weitverbreiteten biphobie vor allem in der schwulen- und lesbenszene, die bisexuelle oftmals als »nicht konsequente« oder »feige« homosexuelle betiteln, die nicht zu sich selbst stehen können. die vorgetäuschte kategorienlosigkeit der kategorie »bisexuell« wirkt durch den oben beschriebenen mechanismus auf viele er- und abschreckend, da die entweder-oder-binarität angegriffen wird.