Kleider machen Leute – Wenn der Volksmund plötzlich Recht hat, aber anders als erwartet

Foto , by Tom Sodoge

[Inhaltshinweis: Armut, Beschreibung rassistischer Äußerungen/Bezeichnungen, Mobbing]

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Tobias.

Einen früheren Gastbeitrag über das Leben in der Provinz könnt ihr hier nachlesen.

Tobias Betzin jongliert mit Informatik, Politik- und Sprachwissenschaft. Besonders interessiert ihn die Tragweite des scheinbar Banalen. Gerade dann, wenn es um Sprachgebrauch oder Musik geht. Zuletzt erschien sein Buch „Tief in der Grauzone. Der Fall Goitzsche Front und das Identitätsangebot ‚Ossi'“ bei Schwarz Druck, Leipzig.


Webseite von Tobias @Herr_Samsa

Wie wir selbst mit uns umgehen, hat Auswirkungen auf unser Selbstwertgefühl. Dieser Umgang zeigt sich in vielen kleinen Dingen, die oft banal sind und im Laufe der Zeit zu Selbstverständlichkeiten werden. Wie zum Beispiel die Kleidung, die wir am Leib tragen. Das kann Nachteile haben. Zum Beispiel wenn Armut dazu führt, dass sich nicht die Kleidung uns, sondern wir uns der Kleidung anpassen müssen. Gewöhnen wir uns über Jahre hinweg daran als den Normalzustand, prägt uns das und es stellt etwas mit unserem Selbstwert an (und zwar nichts Gutes).

Entwicklungen, die sich langsam vollziehen, fallen häufig nicht auf, während sie passieren. Aber plötzlich ist doch irgendwie etwas anders, ohne dass sich eins auf den ersten Blick erklären könnte, warum oder seit wann überhaupt. So ging es mir, als ich neulich meinen Kleiderschrank aufgeräumt habe und dabei ins Grübeln geraten bin.

Die Ausgangslage: Ich habe einen freien Tag und weiß nicht so recht, was ich damit oder mit mir anfangen soll. Auf der Suche nach einer Beschäftigung beschleicht mich das Gefühl, dass sich derzeit in meinem Leben nichts allzu Spannendes ereignet.

Ich lasse meinen Blick vom Schreibtisch durch das Zimmer schweifen und finde tausend kleine und große Dinge, die diesen Eindruck bestätigen. Die Anordnung der Möbel, deren Inhalt, die Möbel selbst – alles so oder so ähnlich schon völlig unhinterfragt ganz viele Jahre Bestandteil meiner jeweiligen Wohnung. Da in solchen Momenten nur Aktionismus hilft, beschließe ich, meinen Kleiderschrank auszumisten. Oder, für den gar nicht so unwahrscheinlichen Fall des Misserfolgs, zumindest eine Bestandsaufnahme zu machen. Ich gehe zum Schrank und öffne sämtliche Türen und Schubladen.

Wert? Stoffe? Wertstoffe?

Durch welche Klamotten genau ich mich da nun wie lange gewühlt habe, verrate ich nicht und tut auch nichts zur Sache (unter Umständen könnten eventuell ganz vielleicht Hawaii-Hemden möglicherweise beteiligt gewesen sein). Wichtiger ist dabei, wie ich es getan habe. Da ich unbedingt ein Ergebnis herbeiführen wollte, ging ich anhand von zwei Fragen vor:

1. Ist das Kleidungsstück irreparabel kaputt?
2. Habe ich es in den letzten 24 Monaten bewusst getragen?

Wenn die erste Frage bejaht oder die zweite verneint werden musste, habe ich das betreffende Kleidungsstück aussortiert. Anfangs hat es mich ziemlich viel Überwindung gekostet, etwas auf den „Dann tu ich das weg“-Stapel zu legen, aber nach und nach konnte ich mich in eine Sortier-Flow fallen lassen und habe gar nicht mehr mitbekommen, dass ich Entscheidungen treffe.

Als ich damit fertig war, hat mich das Ergebnis erstaunt. Vor mir lag ein ansehnlicher Haufen alter Textilien, mein Kleiderschrank war praktisch leer.

Natürlich nicht wirklich leer, ich hatte schon noch von allem etwas. Nur war das etwas eben nicht besonders viel. Vor allem nicht gemessen am vorherigen Füllstand des Kleiderschranks. Wie war das denn passiert?

Altkleider und Altlasten

Dann habe ich mir den Stapel der aussortierten Klamotten angeschaut und bin alles noch einmal durchgegangen. Das meiste davon war wirklich kaputt. Ich muss hier wohl dazu sagen, dass ich mich üblicherweise nicht davon abhalten lasse etwas zu tragen, nur weil es ein Loch hat, der ein oder andere Knopf fehlt oder der Reißverschluss defekt ist. Aber bei den aussortierten Sachen musste ich wirklich zugeben, dass sie kaputt-kaputt waren. Wollte ich sie flicken, hätte ich sämtliche Bestandteile austauschen müssen.

Nur ein kleiner Teil dessen, was dort auf dem Boden vor mir lag, war „einwandfrei“ erhalten. Dort gelandet ist er, weil ich ihn mindestens zwei Jahre lang nicht mehr getragen hatte. Diese Altkleider hätte ich wenigstens guten Gewissens an Menschen geben können, die dafür mehr Verwendung haben als ich. Aber wieso bloß hatte ich sie denn nicht getragen?

Von vielen dieser Stücke wusste ich schon gar nicht mehr, wie sie in meinen Besitz gekommen sind und wie lange sie schon dort waren.

Ich musste sogar davon ausgehen, dass ich mehrmals mit ihnen umgezogen war, ohne sie danach auch nur ein einziges Mal anzuziehen. Altlasten, die ich nur mit mir herumschleppte. Als ich versuchsweise alle einmal anprobierte, wusste ich sofort, weshalb. Nichts davon passte. Und das, was passte, war mindestens unbequem, meistens aber unbequem und hässlich. Es fühlte sich einfach nicht gut an und ich fand auch nicht, dass es gut aussah. Das brachte mich auf eine Idee, über die ich erst einmal nachdenken musste.

More than a feeling

In einer übertrieben schlabberigen, mehrfach umgenähten hellblauen Jeans und einem über 10 Jahre alten, orangefarbenen Polohemd schlurfte ich in die Küche, um eine neue Kanne Tee aufzusetzen. Die Antwort auf meine Frage, wie ich diesen Haufen nur so lange mit mir rumschleppen konnte, liegt wohl im Fühlen. Die Kleidung fühlte sich nicht gut an.

Die Kleidung gab mir ein unangenehmes Gefühl. Die Kleidung umgab mich die ganze Zeit und ich spürte sie ständig, wenn auch unbewusst. Das heißt, das Gefühl begleitete mich ebenfalls ständig. So pausenlos lange, dass es sich einprägte, sich in mein Körperempfinden einschrieb und seine Spuren letztlich in meinem Selbstwert hinterließ.

Dass ich mich vor anderen für kaputte, hässliche Kleidung schäme und mich unwohl fühle ist die eine Sache. Dass ich aber mir selbst gegenüber einen Zustand aufrecht erhalte, in dem ich mich permanentem Unbehagen aussetze, eine andere.

Aber woher kommt das? Schließlich kaufe ich mir ja selbst meine Kleidung oder etwa nicht? Jein…

„Da wächst Du schon noch rein“

In meiner Kindheit hatte ich zuerst gelernt, dass Klamotten aus dem Kleiderschrank kommen. Das war für mich eine hinreichende Erklärung. Irgendwann wurde ich aber alt genug, um in die Kleidungsbeschaffung miteinbezogen zu werden. Zunächst nur als anwesendes Referenzobjekt („Zieh das mal an, ich will sehen, ob es Dir passt.“), wiederum später als Entscheidungsinstanz mit Veto-Recht („Gefällt Dir das?“). Ich reagierte auf eine Vorauswahl, die mir als Kind und auch noch als Jugendlichem präsentiert wurde.

Ich wohnte damals mit meiner Familie in einer recht entlegenen Gegend. Es war die Zeit der Versandhauskataloge, da wir zwar einen Briefkasten, aber kein Internet hatten. Wenn wir Kinder Klamotten brauchten und wir gerade nichts mehr hatten, was wir von älteren Kindern unserer Verwandtschaft oder Freund*innen unserer Eltern hätten aufgetragen können, musste etwas neues her.

Die wenigen Bekleidungsläden, die es in der nächstgrößeren Stadt gab, wurden von uns nie besucht. „Zu teuer“ war das schlichte Argument, das uns dafür genannt wurde.

Über die Menschen, die dort tatsächlich einkaufen gingen, äußerten sich meine Eltern höchstens abfällig. So als würden diese Leute dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich für etwas Besseres halten. Das einzige Modehaus in unserer 5000-Seelen-Gemeinde wurde daher auch geringschätzig „Der Todschick“ genannt.

Die Läden, in die wir gingen, das waren die Filialen großer Ketten im Niedrigpreissegment. Diese waren aber in alle Himmelsrichtungen nicht unter einer guten Autostunde Entfernung zu erreichen. Um den großen Aufwand zu rechtfertigen, wurde aus den Fahrten dorthin immer ein Familienausflug. Immerhin ging es in die nächstgelegene Großstadt (die hat sogar ein eigenes Nummernschild!). Meine Mutter machte die Bestandsaufnahme, wer was bräuchte. Wenn genügend Bedarfsfälle zusammengekommen waren, fand sie mit meinem Vater einen Termin, an dem wir einkaufen fahren konnten. Vater steuerte den Wagen zuverlässig durch Pampa und enge Innenstadtgassen in eines der Parkhäuser, Mutter machte derweil Pläne, in welcher Reihenfolge welche Geschäfte abgeklappert werden sollten.

Nacheinander wurden dann alle Bedarfsfälle bearbeitet: Vater, meine Schwester, ich. Wenn ich so darüber nachdenke, war wohl meine Mutter die einzige in unserem Haushalt, die sich wirklich völlig eigenständig um ihr Outfit gekümmert hat. Den Rest der Familie versorgte sie mit. Ich frage mich, wie freiwillig das war. Auch ärgert es mich, dass ich keine Erinnerung mehr daran habe, wie aktiv z.B. mein Vater bei seiner eigenen Versorgung mit Kleidung mitgeholfen hat. Ich weiß nicht mehr, ob er sich selbst Klamotten ausgesucht hat oder ob er das meiner Mutter überließ.

Wenn ich an der Reihe war, ging ich mit meiner Mutter durch die vielen Reihen der Kleiderstangen. Oft trottete ich lustlos hinterher und blieb empfangsbereit eine Armlänge entfernt stehen, für den Fall, dass meine Mutter fündig wurde. Häufig reichte sie mir etwas mit der Frage: „Willst Du das nicht mal anprobieren?“ Am Anfang konnte ich immer mal wieder ein „Nein“ wagen, musste dann aber gegen die Beschwichtigungsversuche meiner Mutter argumentieren. Auch ein „Gefällt mir nicht“ wurde nicht einfach so stehen gelassen, sondern ich musste mich ganz genau erklären, was genau mich stört, nur um mir dann anzuhören, dass meine Mutter da anderer Meinung war. Wenn ich bemängelte, dass die Sachen nicht richtig sitzen, wurden meine Bedenken abgeschmettert: „Da wächst Du schon noch rein.“ Wenn ich mich der Anprobe zu oft verweigerte oder mir zwischendurch langweilig war, ging ich auf eigene Faust los und stöberte durch die Reihen.

Oft kam ich mit etwas zurück, das meiner Mutter nicht gefiel („Das ist aber nicht schön.“) oder eben wieder „zu teuer“ war. Also brachte ich es wieder zurück.

Dieses ganze Hin und Her konnte sich über Stunden ziehen, sodass ich mich dann einfach für das aus meiner Sicht geringste Übel entschied, nur um die Situation zu beenden und hoffentlich möglichst lange Zeit bis zum nächsten Familieneinkauf zu haben.

Gefährlich war es auch, wenn meine Mutter in der Küche saß und Kataloge wälzte. Natürlich nicht die der großen (damals) namhaften (und existenten) Versandhäuser. Es waren kleine auf Kleidungsstücke spezialisierte Anbieter, die die besten Preise versprachen. Irgendwann fand sie etwas, bat mich zu sich und fragte mich, ob mir dies oder jenes denn nicht gefallen würde. Da ich dieser Situation besser entkommen konnte als einem Innenstadtladen einer Großstadt, war es hier einfacher, mit Nein zu antworten. Das war natürlich nicht immer nötig, rein optisch sagten mir ja auch einige Dinge zu. Und mehr geht mit Katalogware aus der Ferne ohnehin nicht. Oder?

Ganz neue Möglichkeiten:
Der „Tschechenmarkt“

Es muss um die Jahrtausendwende herum gewesen sein (Ich spielte auf meinem GameBoy die rote Edition von Pokémon), da wurde die Bedarfsgemeinschaft unserer Familie in Sachen Kleidung erweitert. Ein Bekannter unserer Familie machte regelmäßig Solo-Expeditionen ins europäische Ausland, von denen er immer wieder einiges an Erzählungen und kulinarischen Spezialitäten mitbrachte. Von einer seiner Reisen ins Böhmische erzählte er, dass es dort große Märkte gebe, an denen für wenig Geld (D-Mark) Klamotten namhafter Hersteller zu haben sei. Zumindest Klamotten mit dem Logo namhafter Hersteller drauf.

Nachdem er einige der Preise genannt hatte, die dort für angesagte Marken verlangt wurden, stand für meine Mutter fest, dass wir dort hinfahren müssten. Und mit besagtem Bekannten hatte sie gleich einen Ortskundigen mit geeignetem Gefährt (ein großer Transporter mit 3 Sitzreihen) zur Hand. Um die Transportkapazität auszuschöpfen, lud sie noch einen meiner Schulfreunde und dessen Mutter ein, um uns zu begleiten.

Die Fahrt dorthin dauerte damals – trotz GameBoy – ewig und heute weiß ich dank Onlinekarte, dass es ca. 350km waren.

Der Markt vor Ort bestand aus unzähligen, über zwei Meter hohen Bretterbuden, die allesamt bis in den letzten Winkel mit Waren vollgestopft waren. Die Verkäufer*innen versuchten sich gegenseitig in Lautstärke zu über- und in den Preisen zu unterbieten.

Da es den Erwachsenen aber immer noch nicht billig genug war, handelten sie die Verkäufer*innen oft noch deutlich runter.

Im Laufe eines Tages sammelten wir enorme Mengen von Einkaufstüten voll vermeintlicher Markenschnäppchen an. So viele, dass wir mehrmals zum Transporter zurückgehen und „abladen“ mussten. Ich erinnere mich auch noch, dass die Erwachsenen die dort arbeitenden Verkäufer*innen in Kolonialherrenmanier als „Die Chinesen“ bezeichneten. Für sie war das kein Rassismus, sondern Tatsachenbeschreibung. So als hätten sie es mit „Wilden“ zu tun, redeten sie fast schon belustigt darüber, wie bereitwillig sie sich auf häufig noch nicht einmal die Hälfte des ursprünglich verlangten Preises einließen. „Die wissen halt, dass unsere D-Mark was wert ist“, hieß es dann. Die Rückfahrt traten wir dann bereits im Dunkeln an, eingekeilt zwischen unzähligen Tüten und Taschen, voll mit den Klamotten der damals angesagtesten Marken. Die mitgereisten Mütter schienen sehr zufrieden.

Doch diese Zufriedenheit wollte nicht so recht auf mich überschwappen. Als es dann daran ging, Teile der Beute das erste Mal in die Schule anzuziehen, hatte ich ein komisches Gefühl. Wie sich herausstellte, nicht zu Unrecht. An diesem Tag hatten wir Schwimmunterricht (das tut für die Erzählung nichts zur Sache, aber ich erinnere mich daran). Nachdem der Bus uns zum städtischen Hallenbad gebracht hatte und wir auf unsere Lehrer*innen warteten, bemerkten einige Jungs aus meiner Klasse meinen neuen Pullover.

Dass über die gesamte Brustpartie riesengroß das Logo einer gefragten Marke prangte, war der Anlass dafür, sich an mich zu wenden:

A: „Ey, [Nachname], seit wann kannst Du Dir denn [Markenname] leisten?“
Ich: „Hm? Wieso?“
B: „Na, auf einmal rennst Du hier in diesem Teil rum, wo Du doch sonst immer den letzten Scheiß an hast.“
A: „Das ist niemals Original. Guckt euch mal das beschissene Logo an.“
B: „[Nachname], wo hast Du das denn her?“
Ich [lügt]: „Aus [Großstadt] von [Markenladen].“
A: „Ja, klar, das Ding ist doch garantiert vom Tschechenmarkt!“ *lacht*
B: *ruft in die Klasse* „Guckt euch mal den getschechten Pulli vom [Nachname] an!“ *Gruppengelächter*

Es half kein Stück, dass just an diesem Tag besagter Schulfreund ebenfalls mit einer seinen neuen „Errungenschaften“ in der Schwimmhalle stand und damit ähnlichen Verdacht erregte. Anders als ich hatte er von Anfang an die Wahrheit über die Herkunft der Kleidung gesagt.

Wehe, wenn sie losgelassen…

Zeitsprung. Ich bin mittlerweile alt genug, um die lange, beschwerliche Reise in die nächste Großstadt zum Klamottenkauf alleine (zumindest ohne Begleitung meiner Eltern) per ÖPNV anzutreten. Zu dieser Zeit stecke ich in meiner ersten Partnerschaft. Einerseits ist meine Mutter ganz froh, dass sie zumindest mich weitestgehend aus dem kollektiven Kleidungsanschaffungsplan der Familie streichen konnte. Andererseits bedeutet das aber auch, dass ich ihrer Kontrolle entzogen bin. Als ich vorschlage, doch bei einem unserer nächsten Großstadtausflüge gleich noch den Klamottenkauf abzufrühstücken, zeigt sich meine Mutter einverstanden. Sie sagt mir, was ich brauche und drückt mir Geld in die Hand.

Der partnerschaftliche Klamottenkauf gestaltete sich wesentlich anders als der, den ich im Rahmen des familiären Kleidungsbeschaffungsplans kennengelernt hatte. Instinktiv schaute ich mir immer zuerst das Preisschild an, ehe ich ggf. das Kleidungsstück selbst unter die Lupe nahm. Auf einmal aber geht es um Modelle, um Schnitte, um Stoffe und Farben. Plötzlich tut sich mir eine zuvor ungeahnte Vielfalt auf und ich habe sogar Spaß daran, unterschiedliche Kombinationen verschiedener Sachen anzuprobieren, um so mein Aussehen immer wieder in eine andere Richtung gehen zu lassen. Schließlich finden wir etwas, das mir unheimlich gut steht und in dem ich mich wohl fühle. Wir bezahlen und treten den Rückweg an.

Zu Hause lauert meine Mutter natürlich schon auf die Ergebnisse meiner Bemühungen. Während ich stolz meinen Fang (es war eine Hose) präsentiere, fragte sie mich nur, wo denn der Rest geblieben sei.

Es setzte ein ganz schönes Donnerwetter, als ihr klar wird, dass ich für die mir überlassenen 80 Euro nur eine Hose anstelle von einer Hose und zwei Oberteilen gekauft hatte und ohne Restgeld nach Hause gekommen bin.

Entsprechend kurz war meine Freude über diesen Eigenständigkeitsbeweis und mein gutes Gefühl der Klamotte wurde abgelöst von dem Gefühl der Schuld.

Aus dem Off flüstert Marx:
„Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“

Früher war das für mich Normalität, die ich nicht hinterfragt habe. Heute sehe ich aber einen Zusammenhang zwischen diesen Episoden. Ich hatte in jungen Jahren gelernt, dass ich jenseits des Preises keinerlei Ansprüche an meine Kleidung stellen durfte. Ich hatte mich mit dem zu begnügen, was wir uns leisten konnten.

Es stand mir nicht zu, mich in den Klamotten, die ich tragen sollte, wohl zu fühlen oder gar schön zu finden.

Mir wurde vermittelt, dass Kleidung etwas ausgesprochen wertvolles ist. Denn einerseits wurde sie nicht weggeschmissen, sondern immer weiter „vererbt“, andererseits wurde sie geflickt, umgenäht, instandgesetzt und ausgebessert, wenn sich Verschleiß zeigen sollte. Im Nachhinein scheint es für mich eine gedankliche Hürde gewesen zu sein, kaputte Kleidung wegzuwerfen. Das unbewusste Gefühl von „Ich darf das nicht“ hat mich stets begleitet. Ebenso verinnerlicht hatte ich die Maxime, dass im Zweifelsfall – also wenn dadurch Geld gespart werden kann – eher ich mich der Kleidung anzupassen hatte als umgekehrt.

Und so trug ich eben Hosen, die nur noch von einem Knopf und einigen Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurden. Ich gewöhnte mir an, keine allzu großen Schritte zu machen und immer ein langes T-Shirt zu tragen, um diesen Makel möglichst verborgen zu halten.

So trug ich eben Oberteile, die mir viel zu groß waren, die mich vermeiden ließen, mich aufrecht hinzustellen oder mit geradem Rücken zu sitzen, damit bloß nicht offensichtlich wurde, wie sehr doch meine Oberbekleidung einem Sack glich.

Bei Regen hatte ich eine Weile lang nur Stahlkappenstiefel, um draußen sein zu können, ohne nasse Füße zu kriegen. In denen konnte ich mich an der Uni allerdings nie wirklich leise und elegant über die Institutsflure bewegen, sondern polterte zwischen den Seminaren von Raum zu Raum.

Ein wirklich entspanntes Verhalten wollte sich so nicht einstellen. Mein ständiger Begleiter war die Scham und der Drang, mich klein und unsichtbar zu machen. Wenn wir davon ausgehen, dass die materielle Verfasstheit meiner Familie während meines Aufwachsens der Ursprung dieses Verhaltens meinerseits im Hier und Heute ist, dann hätte in Bezug auf meinen Selbstwert doch Marx recht gehabt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Epilog

Die Kanne Tee ist zwischenzeitlich fast ausgetrunken. Den Stapel mit den aussortierten Klamotten habe ich noch einmal unterteilt. Die Sachen, die mir nicht mehr passen oder gefallen, gebe ich in Umsonstläden, für den Fall, dass andere Menschen die Sachen anders bewerten als ich. Was kaputt ist, entsorge ich. Es fühlt sich gut an, den Kram loszuwerden und ihm nicht länger verpflichtet zu sein.

Dennoch ist es nicht nur Erleichterung, die ich spüre. Schließlich habe ich mir selbst vor Augen geführt, dass es eben nicht voraussetzungslos ist, sich in Kleidung wohlfühlen zu können. Es ist ein Privileg, sich einfach das leisten zu können, was eins gerne an sich sehen und fühlen würde. Dieses Privileg haben viele Menschen nicht. Ich hatte es nicht, viele meiner damaligen Freunde hatten es nicht und ich habe es heute nur, weil ich in anderen Dimensionen privilegiert (cis, weiß, hetero, männlich, akademisiert) bin.

Nicht wirklich ein Happy End. Aber ich habe das Gefühl, etwas verstanden zu haben: Kleider machen tatsächlich Leute. Ich hatte immer den Eindruck, dass diese Redewendung darauf hinweisen möchte, dass uns andere gemäß ihrer Wahrnehmung von uns behandeln. Mittlerweile glaube ich, dass es dabei aber viel mehr um die Eigen- statt um die Fremdwahrnehmung geht.

Meine Kleidung lässt mich dadurch “Leute” werden, dass ich mich selbst auf eine bestimmte Weise wahrnehme. Abhängig von dieser Eigenwahrnehmung lege ich für andere wahrnehmbares Verhalten an den Tag, das dann in deren Fremdwahrnehmung Eingang findet.

Das lässt die Redewendung zwar nicht falsch werden, aber der Volksmund hat so plötzlich anders als erwartet Recht.

Jetzt, wo ich diese veränderte Sichtweise auf Kleidung, ihre Bedeutung und meinen Umgang damit habe, liegt der Ball bei mir. Immerhin sagte das ja auch schon Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

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