Nach dem Abschied der Heimweg, Januar ’13

Foto , by bealor

Da gehe ich also die Straße entlang auf dem Bürgersteig und muss immer wieder die Seite wechseln, weil sich hier und dort in dieser Stadt Baustellen, aufgerissene Asphaltflächen auftun. Es ist dunkel und ich gehe von der Altstadt zu Fuß in Richtung Zuhause. Und es ist kalt. Es ist kalt an den Händen und ich trage keine Handschuhe, weil ich dieses Gefühl gerade mag. Und ich gehe immer geradeaus und gehe und gehe und komme mir ganz seltsam dabei vor. Ich schaue nicht nach oben oder zur Seite. Ich schaue einfach auf meine Schuhe und sehe zu, wie sie versuchen, sich gegenseitig selbst zu überholen. Und ich würde mich gern selbst einfach überholen und mich da in der Kälte zurücklassen. Mich noch einmal umdrehen, aber beherzt voranschreiten. Und ich starre immerzu auf meine Füße und schaue mir selbst beim Gehen zu.

Ich gehe schnell, beinahe eile ich. Mal sieht es so aus, als würde ich auf einer geraden Linie balancieren, mal sieht es eher wackelig aus, so als fände ich keinen rechten Tritt. Ich eile immer mehr und frage mich, was ich eigentlich gerade denke und fühle. Und nur darüber denke ich nach. Ich denke nur über. Ich denke nicht echt. Ich schaue mir immer noch zu und frage mich, was meine Eile wohl für einen Eindruck auf Passanten machen würde, würde von ihnen auch nur einer wach sein. Ich fasse doch einen Gedanken und denke: ich verstehe nicht. Manchmal verstehe ich dieses ganze gefasste Menschsein nicht. Dann fühle ich mich seltsam und scheußlich, weiß nicht, was Andere von mir wollen oder was ich wollen soll oder will. Dann verstehe ich gar nichts mehr.

Das ist dann wohl, wenn es wackelig aussieht. Da denke ich: ich verstehe nichts. Ich verstehe nicht, was ich hier gerade eigentlich mache. Und was ich wollte. Ich verstehe nicht, warum es mir gerade gut tut, dass ich friere. In meinem Kopf tauchen Bücher und Filme auf, die ich immer schon verstanden hatte und nun nicht mehr verstehe. Ich verstehe keine Figur mehr und ich verstehe nicht einmal mehr, warum Disneyfilme eigentlich so enden wie sie enden. Ich verstehe eigentlich nur noch die auf der Klippe zum Abschied starr stehende Pocahontas, aber auch nur, weil ich den Film als Kind nie begriffen hatte. Und ich verstehe noch Mrs. Dalloway, weil sie schwierig ist und eigentlich die einzige Romanfigur ist, die so anstrengend schwierig ist, dass sich jeder Leser fragt, wie man nur so sein könne. So sei doch niemand. Und auf dem Bürgersteig verstehe ich sie wieder.

Dann ist der Gedanke wieder weg und ich frage mich, warum ich heute Nachmittag eigentlich noch diese Zahnbürste gekauft hatte. Ich denke plötzlich: Ich ging die Treppe rauf und sah dort einen Mann, der war nicht da. / Er war auch heute nicht mehr dort. / Ich wollt, ich wollt, er ginge fort. – Das war ein anderer Film und auf dem Heimweg kommen mir die Verse noch vier weitere Male in den Sinn. Ich stehe wieder an einer Kreuzung und mir ist schwindelig. Ich bleibe stehen, obwohl es grün ist. Warte noch eine Ampelphase. Gehe dann und weiß noch immer nicht, was eigentlich los ist mit mir und wann ich endlich eine Eingebung bekomme. Wann ich endlich zu reagieren weiß. Aber ich denke nur wieder, dass ich dieses Gefasstsein manchmal eben nicht begreife. Fürderhin nicht begreifen werde. (Was ist fürderhin nur für ein seltsames Wort?) Ich frage und zweifle einfach nur ins Leere hinein und schaue mir dabei immer noch auf die verdammten Schuhe.
Ich denke an ein Gedicht, das ich schreiben könnte. Es wird von toten Tauben handeln. Das klingt absurd, wird aber eine gute Essenz haben. Denke ich mir zumindest. Ich huste, weil es kalt ist und ich immer noch nicht meine Handschuhe trage. Ich bleibe stehen, fühle meine Stirn, fühle, ob ich Kopfschmerzen habe. Nichts. Das kann man wohl auch nicht an der Stirn erfühlen und so ärgere ich mich. Ich lasse eine Straßenbahn nach der anderen an mir vorbeiziehen und weiß nicht, warum ich nicht einsteige.

Ich weiß nicht weiter und will Rat. Also schreibe ich Freunde an, teile mich mit und will sehen, was sie denken und fühlen. Beinahe wie Vorschläge, bei denen man nur noch entscheiden muss, ob man sie teilt. Und es hilft. Sie reden mir gut zu, während ich weiter eile. Da ist mir weniger wackelig zumute, weniger scheußlich. Ich verstehe meinen Tag und meinen Weg zwar weiterhin nicht, aber ich bekomme dieses schwierige Menschseinmüssen wieder etwas besser zu fassen. Denn ich finde diesen Gedanken wieder, dass das ja nur dazu gehört: nicht wissen, was man denken soll. Nicht wissen, was man fühlen soll. Dieses Grübeln und Zweifeln. Und das Weitergehen und Frieren. Dass ich mich wirklich über eine vergeblich gekaufte Zahnbürste ärgere. Und dass ich mich eigentlich nur über mich ärgere, weil ich mitmachen muss, was ich nicht verstehe.

Pocahontas muss ihren Film auch mitmachen, auch wenn sie eigentlich nicht versteht, warum die Dinge geschehen wie sie es tun. Warum dann ein Schiff ohne sie fährt. Und warum das so weh tut. Und ich denke an Jeff Goldblum in Jurassic Park: Das Leben findet einen Weg. Und ich denke: Wie dumm und wie wahr. Und ich fühle: wie gut, dass ich diese lieben Menschen habe, die einfach da sind und mit mir in der Kälte gehen und mich zu sich einladen, damit ich mich aufwärme und ankomme und erzähle. Vielleicht ist dann ja unter den vielen erzählten Gedanken der richtige mit dabei. Der erklärt, was ich eigentlich sagen will. Ich habe ihn vage in meinem Kopf. Er enthält: Ich wusste. Auch: Ich wusste nicht.
Aber vor allem: Wirklich schade. Und: hatte noch gehofft.

Zwei Tauben

Eines Morgens lagen auf dem Balkon
(Und ich wollt es zuerst nicht glauben)
Dicht beieinander und ganz friedlich
Zwei tote graue Turteltauben.

Ich blickte sie an und fragte mich still
– Denn ich sah weder Wunden noch Narben –:
Wie kann es sein, dass diese beiden
So völlig unbemerkt verstarben?

Vielleicht waren sie vom Himmel gestürzt
In kalter und sturmumtoster Nacht.
Oder sie hatten nur Augen füreinander
Und waren blind gegen mein Fenster gekracht.

Ich grübelte über den Tathergang nach,
Noch als ich die toten Tauben nahm,
Um sie in einen Müllbeutel zu legen,
Der einem allerletzten Nest gleichkam.

Ich begrub sie in schlichtem Schwarz,
Will sagen: in einer großen Abfalltonne.
Auf das dunkle Plastik schien warm und hell
Zum Abschied noch die Morgensonne.

Um jede Spur von den Tauben zu tilgen,
Machte ich mich an die Arbeit und putzte.
Bald war alles sauber und ich trat zur Tür.
Da drehte ich mich um. – Und ich stutzte.

Ich beschaute den Balkon und es schien mir,
Als wär da was, was von den Tauben bliebe:
Nicht Federn, nicht Blut und auch nicht Geruch;
Es war wohl, so denke ich, Liebe.

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