Wenn ich dich vergäße, Jerusalem

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Wie viele Generationen lang ist man, bleibt man Migrant? Wird noch in zehn Generationen ein muslimischer Deutscher mit dem Nahen Osten oder dem Balkan assoziiert werden? Wird in zwanzig Generationen ein Deutscher mit türkischem Vornamen für viele andere Deutsche immer noch ein eigentlicher Türke sein, der bloß in Deutschland wohnt?
Wie viele der Ahnen müssen schon in einem Land geboren worden sein, damit die, die sich hier heimischer wähnen, einen als den ihren akzeptieren? Kann nicht der, der vor dir – will sagen: dessen Ahnen vor deinen Ahnen – da war, wenn er will, wenn es ihm nutzt, wenn er verärgert ist, kann er dann nicht trotzdem aus dir den Migrant machen, den Zugereisten, den Gast, den Fremden, ganz egal, wie viele Generationen lang du schon hier bist? Wird er nicht stets anhand deines Namens, deines Aussehens oder deiner Religion dich deiner vermeintlich wahren Heimat zuordnen?

Ich bin jüdisch.

Von Geschichte erzählen

Juden gibt es in Europa seit der Antike. Es gibt sie länger auf diesem Kontinent als Christen oder das Christentum. In Köln waren Juden wohl mindestens seit dem 4. Jahrhundert ansässig, zu einer Zeit, als die meisten Kölner noch nicht christianisiert waren. Doch ihre lang andauernde Existenz in Europa half ihnen in der Geschichte wenig; die Zahl der Vertreibungen von Juden aus diversen größeren oder kleineren europäischen Staaten ist eklatant; Herrscher nutzten sie als politischen Spielball, die Mehrheitsgesellschaften machten Juden immer wieder zu Fremden. In Köln konnte es Juden vor dem Dom, vor den ersten Katholiken geben, sogar vor den ersten Personen, die sich als „deutsch“ begriffen, doch kommende Generationen konnten aus den Juden trotzdem die Fremden, die Zugewanderten machen, die nicht ihre diffusen germanischen Ursprünge teilen würden.

Die Ursprünge des jüdischen Volkes sind jenseits historischer, archäologischer Forschung als literarischer Narrativ für jeden Mensch mit einer Bibel nachzulesen. Dieser Narrativ ist für das Judentum bedeutender als wissenschaftliche Forschungsergebnisse, sind es doch die Heilserzählungen, die als Selbstverständnis der Gruppe tradiert wurden und werden.

Die Torah, die fünf Bücher Moses, ist als religiöses Schriftwerk zugleich auch Nationalepos des Volkes Israel. Und dieses Epos ist ein Epos der Migration. Es erzählt von der Wanderung Abrahams, der als erster Jude seine Heimatstadt Ur gen Kanaan, das ihm von G’tt verheißene Land, verlässt. Es erzählt davon, wie Josef, ein Urenkel Abrahams, später von seinen Brüdern aus eben jenem verheißenen Land nach Ägypten verkauft wird und er – nach erfolgter Versöhnung – seine ganze Familie, da eine Hungersnot in Kanaan herrscht, zu sich holt. Die Torah berichtet weiter davon, wie die Nachkommen der Kinder Israels (so der neue Name von Josefs Vater Jakob) sodann in Ägypten der Knechtschaft anheim fallen und sie den ägyptischen Herrschern als Sklaven dienen müssen, bis G’tt sie aus Elend und Exil befreit und unter Moses’ Führung ins gelobte Land Israel (zurück-)bringt.

Israel und die Diaspora

Einerseits haben wir in der Torah also eine Heimat, das Land Israel. Es ist die Heimat, die Abraham für sich und seine Nachfahren erwählen soll. Es ist der Sehnsuchtsort, zu dem er sich aufmacht. Es wird auch der Sehnsuchtsort der hebräischen Sklaven sein. Die Heimat muss immer wieder erreicht, dann verteidigt werden und droht immer wieder verloren zu gehen. Der Tanach, das Erste oder Alte Testament, ist voll von Ermahnungen, dass das Land die Israeliten ausspeien werde, sollten sich diese nicht an G’ttes Gebote halten. Die Knechtschaft in Ägypten, die Wüstenwanderung und später dann das Babylonische Exil im 6. Jahrhundert vor der Zeitenwende sollten nur Episoden in der Fremde bleiben. Die Heimat bleibt in der Bibel stets Israel mit seiner Hauptstadt Jerusalem.

Andererseits beginnt im Jahre 70 nach der Zeitenwende mit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem die Diaspora, also die Zerstreuung der Juden in der Welt. Fast 2000 Jahre lang wird es keine jüdische Heimstätte mehr geben; das Land Israel bleibt von anderen beherrscht. Einige Juden lebten schon vor dem Zeitalter der Diaspora freiwillig etwa im Alten Griechenland, im Römischen Reich oder in Persien, doch sind fortan alle Juden darauf angewiesen, in zunächst fremden Ländern zu leben, deren Minderheit sie werden. Das Diasporadasein wird kennzeichnend für das Judentum. Juden werden Bewohner, dann Bürger anderer Länder und mit den Generationen haben sie verschiedene Staaten, die ihnen Heimat geworden sind. Doch Ausweisungen und Vertreibungen, Ungleichheit und Entrechtung sowie blutige Pogrome stellen die Zukunft in den Heimatländern infrage – oder beenden sie gar. Heimat erweist sich in der Geschichte leider allzu oft als etwas, das Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft nicht zugestanden wird.

Israel bleibt in der jüdischen Religion über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg der schlechthinnige Sehnsuchtsort – bis heute. Man gedenkt der Zerstörung Jerusalems am Fasttag Tischa beAv, man ruft einander „nächstes Jahr in Jerusalem!“ am Ende des Sederabends an Pessach zu und das dreimal täglich gesprochene Gebet Schmone Essre erbittet von G’tt auch die Rückkehr aller Juden nach Israel.

Der Zionismus reagiert auf das den Juden Europas angetane Unrecht und sucht als politische, hauptsächlich säkulare Bewegung vor allem ab dem 19. Jahrhundert nach einer jüdischen Heimstätte. Viele Zionisten wollen jene auf dem Boden des biblischen Landes Israel errichten, wo noch zu ihrer Zeit das britische Mandatsgebiet Palästina besteht.

Der Zweite Weltkrieg und die beginnende Shoah führen zu nie dagewesenen Fluchtbemühungen und -bewegungen; oft für europäische Juden gänzlich raus aus Europa, um Zuflucht etwa in Nord- oder Lateinamerika, Palästina, Südafrika oder Australien zu suchen.
Zwei Drittel aller Juden Europas, das sind sechs Millionen Menschen, werden in der Shoah ermordet.
Der Zweite Weltkrieg zerstört Europa, macht Millionen Menschen heimatlos. In der Nachkriegszeit wandern zig Shoah-Überlebende in den 1948 gegründeten Staat Israel, aber auch in die Neue Welt aus.

Dieser historische Abriss wird der Geschichte jüdischer Migration natürlich nicht gerecht; er ist vereinfachend und lediglich auf die Juden Europas fokussiert. Aber es ist wichtig, diesen fragmentarischen Weg einmal lesend nachzuverfolgen, bevor es nun um die schwierige Frage geht, wie es heute aussieht mit verschiedenen jüdischen Identitäten in Bezug auf Migration und der Frage nach einer Heimat.

Migration im Jüdischsein heute

Viele Juden in diesem Land haben heute einen unmittelbaren Migrationshintergrund. Sie sind selbst als Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen UdSSR eingewandert oder sind deren Kinder oder Enkel. Die Eltern oder Großeltern anderer Juden in Deutschland stammen aus Polen, Ungarn, Rumänien. Manche aus dem Iran, andere aus Frankreich, den USA oder Israel. Doch bei einigen wenigen jüdischen Familien ist es der Fall, dass ein solcher, leicht nachzuvollziehender Migrationshintergrund fehlt. Egal, wie viele Generationen man es zurückverfolgt, ihre Ahnen hatten bereits in Deutschland gelebt. Vielleicht schon seit dem frühesten Mittelalter. Oder, wer weiß, noch länger. Jedenfalls derart lang, dass es abwegig wäre, im Selbstverständnis zu tragen, dass die eigene Familie weniger im Land angestammt wäre als eine nichtjüdische deutsche Familie, die im eigenen Bewusstsein seit Alters her, seit jeher, ja immer schon deutsch war und ist.

Doch jenseits des Umstands, ob eine Jüdin, ein Jude heute einen Migrationshintergrund hat oder nicht, gibt es noch den großen tradierten biblischen Narrativ über die Herkunft des jüdischen Volkes und über seine Heimat Israel. Jeder Synagogenbesuch, jeder gefeierte Festtag, zahllose Gebete erinnern an diese Herkunft. Meist ist in besagten Gebeten auf Hebräisch von den Vorvätern die Rede und was diese einst erlebt hatten. Aber vieles ist sogar in der wir-Form verfasst: „wir waren Sklaven“ und „Du, unser G’tt, hast uns aus Ägypten befreit“. In der Mischna, einem bedeutenden Schriftwerk der jüdischen Tradition, heißt es im zehnten Kapitel des Traktats Pessachim gar, dass jeder einzelne Jude in jeder Generation sich selbst so betrachten möge, als sei er persönlich aus Ägypten hinausgezogen – und gen Israel aufgebrochen. Die Geschichte der eigenen Herkunft wird also nicht nur weitererzählt, sie wird auch nicht einfach nur vergegenwärtigt, vielmehr wird das eigene Selbst in die Geschichte hineingestellt. Nicht nur unsere Ahnen waren dabei. Wir waren dabei. Ich war dabei.

Bin ich ein Sohn der Wüste? Ein befreiter Sklave? Soll ich mich so betrachten?
Ist Israel meine Heimat?

Wo ist Heimat?

Schon oft haben israelische Politiker, insbesondere Ministerpräsidenten, die Juden der Welt, die auch seit der Staatsgründung Israels weiterhin in der Diaspora leben, dazu ermuntert oder aufgefordert, in den jüdischen Staat einzuwandern, um „nach Hause“ zu kommen, wie ich schon einige Male hörte. Dieses Sprachbild folgt der Tradition, von Israel als Heim oder Haus zu sprechen; zwei konkretere Worte als der Begriff der Heimat und ungleich intimere Wendungen als die überhöhte Patria, das Vaterland.

Ich habe irgendwann aufgehört, mich zu fragen, wo ich eigentlich beheimatet, wo ich zu Hause bin. Vielleicht ist Israel meine spirituelle Heimat und Deutschland mein Zuhause, weil ich hier wohne und lebe und arbeite, weil meine Familie und Freunde hier sind. Und zöge ich einmal fort von hier, dann würde ich eben ein neues Zuhause aufbauen.

Ich war schon einige Male im belgischen Antwerpen. Es ist eine wunderschöne Stadt mit einem großen jüdischen Viertel. Ich erinnere mich noch ganz genau an meinen ersten Besuch dort. Es war ein Sommertag und in der schwülen Hitze zwischen Beton, Asphalt und Ziegel kaum auszuhalten. Ich schaute den vielen chassidischen Herren in schwarzer Kleidung, mit langen Bärten und breitkrempigen Hüten zu, wie sie die Straßen entlang gingen. Ich hörte, wie einige von ihnen einen südöstlichen Dialekt des Jiddischen miteinander sprachen; eine jüdische Sprache, die sie genau wie ihre traditionelle Kleidung aus Osteuropa mit nach Antwerpen gebracht hatten. Sie trugen Tallitot, Gebetsmäntel, bei sich; sie kamen womöglich gerade aus einer Synagoge und hatten vor Minuten noch in aschkenasischem Dialekt hebräische Gebete gesprochen, gesungen. Ihre Ahnen hatten ihren Glauben aus dem Lande Israel, ihrer ältesten Heimat, mit nach Europa, mit nach Osteuropa gebracht. Und von dort weiter nach Flandern, mit Kleidung und Bräuchen aus der alten Heimat, die da vielleicht das russische Zarenreich oder die Bukowina gewesen sein mag. Sie tragen noch immer hebräische Vornamen, ihre chassidischen Dynastien tragen noch immer die Namen der osteuropäischen Städte, denen sie entstammen, und ihre Nachnamen sind allzu oft deutsch; zurückgehend auf die Juden, die im Mittelalter von deutschsprachigen Städten gen Polen aufgebrochen waren, um dort ein besseres Leben zu haben.

Ich schaute die chassidischen Herren an, deren Religion – obgleich nicht Strömung – ich teile, und staunte über die Vielfalt, die Vielschichtigkeit unserer jüdischen Identität, Identitäten. Ich sah die Unterschiedlichkeit, musste aber immer wieder an unseren gemeinsamen Ursprung nachdenken, den wir im biblischen Narrativ haben. Hätte ich meine Kippa nicht getragen, die Herren hätten wohl nicht einmal bemerkt, dass ich auch jüdisch bin. Auch mit ihnen aus Ägypten ausgezogen war.

Nach meinem ersten Eindruck vom jüdischen Viertel Antwerpen hatte ich damals ein Gedicht geschrieben als Reflexion meiner eigenen jüdischen Identität. Ich würde es heute sicher etwas anders verfassen, doch möchte ich es an dieser Stelle nicht verfälscht wiedergeben:

Antwerpen

Stätte meines Geistes auf blutleerem Boden. Nur du bist noch geblieben.
Es wandert ein Meer schwarzer Vettern durch dich.
Sie sind mir Fremdeigene. Lebende Vorfahren ohne Familienzug.
Sie sehen mich gar nicht. Und ich mich.

Zwischen ihren langen Bärten
Und tief ins Gesicht gezogenen Hüten
Blicken mich fordernde Augen an.
Sind es meine?

Ihre Lippen sprechen unsere heilige Wüstensprache,
Umgeformt von eisigen Winden eines Zarenreichs, das lang schon begraben.
Die Fellhüte, ihnen zum Mahnmal schwerer Zeiten,
Gehen auf und nieder in der brennenden Sonne.

Zwischen Schreien und Säuseln immerfort heimelnde Klänge
Als verklingendes Echo eines fahlgrauen Landes,
Das mich zeugte und mir seine Sprache lieh.

Ich bin hier so falsch wie ich hier richtig bin.
Bin ihnen näher als ich mir selbst bin.
Und stehe still aus Ehrfurcht vor ihrer ununterbrochenen Treue,
Vor dem Versuch, ein Stiftszelt auf Sand zu bauen.

Ich aber streife noch immer durch die Wüste in der Art der Fremden
Und halte Treue nur in Gedanken. Ein Rudiment mein Stiftszelt, das mit mir wandert!
Ich bin einsam in mir selbst. In ihren Gassen und in meinen.

Doch blickt einer von ihnen in der Nacht gen Himmel,
Tut er es vielleicht mit meinen Augen.
Und zählt die Sterne, die Er gebildet, mir zum letzten Kompass.

Stätte meines Geistes auf blutleerem Boden. Nur du bist noch geblieben.
Es wandert ein Meer schwarzer Vettern durch dich.
Und ich, ich wandere mit.

Das Jerusalem des Herzens

„Wenn ich dich vergäße, Jerusalem, so verdorre meine Rechte“, sagt ein Psalmspruch, der sich u.a. auf Wandschmuck verewigt sieht, der an die Ostseite von Wohnungen und Häusern praktizierender Juden angebracht wird, damit den Gläubigen präsent bleibt, in welche Richtung sie ihre Gebete verrichten mögen – gen Jerusalem, der Heimat der Vorväter Herz. Auch ich habe einen solchen Wandschmuck. Er hängt direkt über meinem Schreibtisch. Wenn ich an jenem sitze und über einen Text nachsinne, einem Gedicht etwa, schaue ich auf zu den hebräischen Worten, die auf Stoff gestickt wurden. Ich habe die Worte schon oft lang angestarrt. Was geschähe denn, wenn ich dich, Jerusalem, vergäße? Wäre ich dann heimatlos?

Wie viele Menschen schrieben schon davon, wie prägend für die Juden dieser Welt die Staatenlosigkeit (im Sinne eines fehlenden jüdischen Nationalstaats) gewesen sei. Eine Staatenlosigkeit, die durch den modernen Staat Israel jederzeit für einen Juden der Diaspora beendet werden könnte und für etwa die Hälfte aller Juden, nämlich den israelischen Staatsbürgern, bereits beendet ist. Doch für die jüdische Identität war Israel stets nicht nur als tatsächliche Wohnstätte und verwirklichte Heimat wichtig, sondern auch als noch nicht erreichter Sehnsuchtsort; und bedeutsam war nie nur der Zustand von Staatenlosigkeit, sondern vielmehr auch das Bewusstsein, einst eine Heimat gehabt zu haben, die verloren wurde. Mit dem Blick zurück zum Verlust und nach vorn zum erneut Ersehnten geht ein Gefühl einher: Heimweh.

Heimweh empfinden nach einem konkreten historischen Land, das viele Generationen von Juden selbst nie betreten, nie gesehen hatten? Vielleicht empfanden sie ein abstrakteres Heimweh. Heimweh nach einem ideellen Land, das ihnen Schutz und Gleichheit und Verwirklichung und Normalität und spirituelle Heimat böte.

Dieses Heimweh fühle ich auch.

 

 

Dieser Essay erscheint im September 2016 auch im Transcript Verlag in „Tausend Bilder und eins.
Comic als ästhetische Praxis (Angela Weber, Katharina Moritzen, Hrsg.)“, ein Band, der sich mit Transkulturalität
in künstlerischer und erzählerischer Auseinandersetzung befasst.

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