Völlig vernetzt und völlig alleine – „The Circle“ von Dave Eggers

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Als ich The Circle geschenkt bekam, betrachtete ich es als eine Spitze, eine kleine Provokation in meine Richtung. Der Schenkende wusste, dass ich für ein US-Start Up arbeite. Nicht genug: Nur aufgrund dieser Tatsache waren wir in Kontakt gekommen.


The Circle, das neueste Werk des US-Autors Dave Eggers, erhielt ich als Dankeschön für eine Fragestunde mit Studierenden einer Hochschule, denen ich über mein Arbeiten in einem Medienunternehmen berichtete, das es nicht seit 50 Jahren gibt, nicht einmal seit zehn, sondern seit neun. Das Unternehmen, für das ich arbeite, macht vieles anders als andere, ältere Medienunternehmen. Die Leute, die dort arbeiten, interessieren sich dafür, wie sie Artikel schreiben und Videos drehen können, die andere Leute besonders gern in sozialen Netzwerken teilen. Genau dies ist ein Kernaspekt in Dave Eggers The Circle. Doch das Teilen und Posten von Status Updates mit den Mitteln des fiktiven Mega-Unternehmens “The Circle” ist dort im Grunde die Wurzel einer Dystopie, einer katastrophalen Zukunft, in der wir unmittelbaren menschlichen Kontakt nur noch über technische Instrumente herstellen können und Gefühle in speicherbare Daten übertragen müssen, um mit ihnen umzugehen.

Vernetzt, vermessen und völlig alleine

Im Zentrum dieser Entwicklung steht Mae. Als wir sie treffen, hat sie ihren ersten Tag bei The Circle, dem Traumarbeitgeber für sie und sogar ihre Eltern. The Circle ist eine Art Super-Start Up. Wir erfahren, dass es Facebook und Google geschluckt hat und richtig groß wurde durch die Erfindung eines sehr einfachen und sicheren Bezahlsystems. Doch The Circle betreibt auch ein soziales Netzwerk und glänzt überhaupt mit bahnbrechenden Innovationen quasi im Wochen- und Monatstakt. Maes Job dort ist ihr zweiter nach dem College und wir sehen durch Maes Augen die fantastische Welt, die The Circle für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschaffen hat. Ein riesiger Campus mit endlosen Möglichkeiten zu kommunizieren, modernsten Arbeitsplätzen und allgegenwärtigen Unterhaltungsangeboten. The Circle bietet seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sogar Wohnraum auf dem Campus, ein Angebot, auf das Mae irgendwann im Laufe der Geschichte dauerhaft zurückkommt. Zu chaotisch, ungeordnet und sinnlos kommt ihr da schon das Leben außerhalb der Campusmauern vor.

Schon vorher übernimmt das Unternehmen für sie eine Rolle, die mit einer begrenzten Arbeitgeber-Arbeitnehmerin-Beziehung nicht mehr viel zu tun hat. Doch das passiert auch auf Maes Wunsch hin. Als sie ihren schwerkranken Vater in die hervorragende Krankenfürsorge des Unternehmens aufnehmen lassen kann und so wirksame Medizin nicht mehr aus Kostengründen verweigert wird, sind ihre Familie und sie überglücklich.

Das Gleiche gilt anfangs noch für die Momente, in denen sie mit einem Kanu in die Einsamkeit paddelt, wenn ihr die neuen Aufgaben in The Circle über den Kopf wachsen oder ihr Ex-Freund Mercer wieder einmal damit nervt, wie kindisch The Circle und die Welt der sozialen Medien sei. Diese beiden Situationen sind im Grunde die einzigen Momente von Glück, die Eggers Mae zugesteht. Und sogar diese Spärlichkeit wird noch weniger, denn auf das Kanufahren verzichtet Mae nach einem folgenschweren Zwischenfall gänzlich.

Secrets are Lies, Sharing is Caring, Privacy is Theft

Was wir mit Mae erleben, ist aber ihr totales Eintauchen in die Welt der absoluten Transparenz. Mae wird zur (fast) 24 Stunden am Tag sendenden Ich-Maschine, die die drei Grundfeste von The Circle prägt: Secrets are Lies, Sharing is Caring, Privacy is Theft

Geheimnisse sind Lügen; Wer teilt, nimmt Anteil; Privatsphäre ist Diebstahl.

Diese totalitär anmutenden Phrasen entwickeln sich bei Mae aus dem Druck, auch während der Arbeitszeit ständig auf die Status Updates anderer zu reagieren, ständig eine Meinung zum Weltgeschehen nicht nur haben, sondern auch mitteilen zu müssen und sich zu vernetzen – ob ihr danach tatsächlich ist, oder nicht. Sinnbildlich steht dafür ein Personalgespräch, zu dem sie zitiert wird und bei dem sie fürchtet, etwas im Job wahnsinnig falsch gemacht zu haben. Doch sie hat nur die Einladung eines Kollegen zu einem Portugal-Abend ignoriert, obwohl in ihrem Social Media-Profil zu sehen ist, dass sie schon einmal da war, sie also ja theoretisch Interesse haben könnte. Diese nebensächliche Lächerlichkeit wird in The Circle zum Staatsakt. So ist es wenig verwunderlich, dass Mae irgendwann zur 24 Stunden sendenden Ich-Maschine wird, die kein Bewusstsein mehr für Privatsphäre hat – weder ihre eigene, noch die ihrer Freunde, Freundinnen und Familie – und für die jede soziale Beziehung veröffentlicht werden muss, um zu existieren. Denn nur, was Rückmeldung erhält, nur was bewertet wird, ist es Wert, gelebt zu werden.

Quantified Self und Arabischer Frühling:
Alle kriegen ihr Fett weg

Eggers nimmt dabei nicht nur soziale Netzwerke aufs Korn, auch die Quantified Self-Bewegung oder Transparenz-Apologetinnen und Apologeten werden in Gestalt von Maes Handlungen indirekt kritisiert und seziert. So müssen Maes Eltern beispielsweise, um in den Genuss der Krankenversicherung zu kommen, mit der permanenten Überwachung ihrer Wohnung einverstanden sein. Nur so können die Ärztinnen und Ärzte schließlich sicher gehen, dass sie sich so verhalten, wie es empfohlen wurde. Ihre Kontrolle wird mit Schutz gleichgesetzt. Als sie sich nicht mehr zu helfen wissen und die im Haus aufgestellten Kameras, die ihr Leben 24 Stunden ins Netz streamen, verhängen, kann Mae dieses Verhalten überhaupt nicht verstehen. Zum endgültigen Bruch mit ihren Eltern kommt es später nach einem folgenschweren Unfall, den ihr Bedürfnis, alles zu wissen, verursacht. Ein weiteres Beispiel der obskuren Auswüchse, die Eggers beschreibt, ist Maes Flirt mit Francis, der sich nach jedem Sex eine dedizierte Bewertung seiner Leistung erbittet. Sie gibt sie ihm, ohne auch nur eine Sekunde zu hinterfragen, ob das seltsam ist.

Und genau hier ist in meinen Augen die Schwachstelle von Dave Eggers Roman. Es ist nicht die Tatsache, dass einige der Technologien, die er entwirft und von The Circle zur Marktreife treiben lässt, nicht existieren oder durch Gerichte aufgehalten werden können – ein Schicksal, das Facebook 2012 drohte, woraufhin es seine Gesichtserkennungssoftware zumindest in der EU nicht in dem Maße wie in den USA auf den Markt bringen konnte. Es liegt auch nicht an der US-Zentriertheit der Geschichte, die die Frage von Sprachgrenzen sozialer Netzwerke, politischer Zensur oder der digitalen Kluft nicht berücksichtigt. In Eggers Welt gibt es eine gute Nachricht: die Menschheit hat keine armutsbedingten Defizite im weltweiten Netzzugang. Wobei das in Eggers Welt natürlich eine fürchterlich schlechte Nachricht ist, denn das Internet bringt ja das Leid. Mit den LANs kamen die Tränen, oder so ähnlich.

Wollt ihr die totale Transparenz?

Die Schwäche von Eggers Buch und der Grund, warum ich es zwar aufmerksam las, aber am Ende unbefriedigt weglegte, ist, dass niemand der tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Millionen Nutzerinnen und Nutzer von The Circle, am wenigsten die an einer Hochschule ausgebildete Mae, erkennen, wie wahnsinnig und tyrannisch die Pläne von The Circle wirklich sind. Es gibt keine kritische Öffentlichkeit, keine Studierenden, die sich ihre Nutzerdaten in jahrelanger mühevoller Klagearbeit zusenden lassen. Keine Datenschutzbeauftragten, die mit Klagen drohen. Keine Boykott-Bewegung, die den Datenhunger und die Verknüpfung von Diensten großer Internetunternehmen kritisiert.

Das wäre okay, wenn der Rest von Eggers Roman sich nicht so verdammt nah an der Realität geben würde. Da ist der Circle-Campus, der so klingt, als habe Eggers in Palo Alto oder Cupertino recherchiert. Die Strategie, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit freien Mahlzeiten und Freizeitbeschäftigungen so lange wie möglich an den Arbeitsplatz oder das Denken an Arbeit zu binden. Da sind Wearables und Gesundheitsfürsorge, die darauf basiert.

Genau diese Parallelen zur Gegenwart sind so aber jenseits meiner Kritik wirklich interessante Aspekte des Buchs, weil sie für kritische Momente der Selbstbesinnung bei Social Media-wohlgesonnen Leserinnen und Lesern sorgen. So war es zumindest bei mir. Ich entsinne mich, dass ich die neue Geschäftsidee von The Circle – winzig kleine, wetterfeste, permanent ins Netz live streamende Kameras, die unbemerkt an allen möglichen Ecken der Welt alles mögliche filmen können – als lächerlich abtun wollte, als ich meinen Twitterstream aufmachte, und dort Hinweise auf Periscope  sah – eine App, die seinen Benutzerinnen und Benutzern ermöglicht, was auch immer sie möchten zu filmen und in ihr Netzwerk zu senden. Da schluckte ich kurz trocken.

Natürlich haben Werkzeuge wie Periscope im Hier und Jetzt ihre rechtlichen und moralischen Grenzen. “The Circle” zeichnet eine Welt, in der diese aus teils verbrecherischen Gründen nicht mehr existieren. Ich verzeihe “The Circle” durchaus, dass es dieses Szenario denkt und durchspielt. Was ich dem Buch nicht verzeihe, ist eine Protagonistin, die zwar in der Diegese immer mehr von sich Preis gibt und zum transparenten Menschen wird, deren Handeln aber mir als Leserin überhaupt nicht erklärt wird. Natürlich bekomme ich gespiegelt, welcher Rausch Mae durchläuft, wenn Abertausende jeden ihrer Schritte verfolgen und kommentieren. Aber ihr Abgleiten in die Welt, in der nur noch dieser Art der Kommunikation gilt und sie willens ist, all ihre familiären und freundschaftlichen Bande aufs Brutalste zu opfern, wird nicht auserzählt. Mich hat das ratlos gemacht, weil es mich mit meinem Ekel und meiner Wut auf Mae alleine lässt.

In der Mitte liegt der Weg

Was außerdem zurückbleibt, ist trotz aller Kritik ein Zweifel an unserem Umgang mit dem sozialen Netz. Unsere Hirne, so heißt es einmal im Buch, sind gar nicht dafür geschaffen, alles zu sehen und zu wissen. Einige der wissenschaftlichen Hintergründe erörtert meine Freundin, Aktivistin und Unternehmerin Deanna Zandt. Sie sagt: Kommunikation, bei der wir unser Gegenüber nicht sehen und seine Stimme und Mimik nicht deuten können, kann der direkte Weg sein, uns zu stressen. Das gilt vor allem, wenn wir mit den Aussagen unseres Gegenübers nicht einverstanden sind.

Was also bleibt? Für mich der bewusstere Umgang mit dem, was ich online teile. Ein größerer Anteil von Dingen, die ich nicht in sozialen Netzen teile. Weil nicht alles, was wir veröffentlichen, dem Vernetzen dient. Manchmal erschweren uns genau die Instrumente, die uns die Kommunikation erleichtern sollen und uns “unsere Anderen” finden lassen wollen dieses Vorhaben. Es bleibt aber auch die unendliche Neugier darauf, was die Menschen bewegt.  Und die Entschlossenheit, darüber ins Gespräch zu kommen. Natürlich offline. Aber eben auch trotzdem und immer gerne wieder online.

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