Neuland

CC BY-NC-SA 4.0 , by Nicole von Horst

Ein Paar ist mit dem Taxi auf den Weg ins Krankenhaus. Sie mit Wehen, er supernervös. Später: der erste Schrei des neugeborenen Säuglings. Die Hebamme reicht der erschöpften Mutter das Kind, ihr erstes Kind, die Eltern staunen, gerührt. Und dann? Geht alles erst los – Neuland.

Wie es bei mir losging? Ganz schön durcheinander. Ohne Überblick und trotzdem das Gefühl, das klappt schon irgendwie, zum Beispiel mit dem Stillen, intuitiv und so, aber dann klappte es nicht einfach so, und da hatte ich den Salat. Hätte ich nur dieses Buch gehabt!

Neuland – so heißt der Sachcomic, den Kati Rickenbach gezeichnet hat, in Zusammenarbeit mit Verena Marchand, und herausgegeben von der Schweizerischen Stiftung zur Förderung des Stillens. Tom und Louise wohnen in einer Schweizer Stadt, haben ein Baby bekommen und bewegen sich von der Geburt durch das Wochenbett hin zum Wiedereinstieg in Arbeit und Alltag. Diese Zeit wird erzählt auf 116 Seiten, dazu gibt es eine 56-seitige Broschüre mit Fragen und Antworten, in der alles rund ums Stillen, das im Comic gestreift wird, noch mal sachlich aufbereitet ist. Beide Hefte wohnen in einem gemeinsamen Schutzumschlag aus Karton.

the good, the bad, the not quite ugly

Ich muss zugeben, wenn ich an den Titel Neuland denke, kann ich das nicht, ohne Angela Merkel im Kopf zu haben; dabei passt der Begriff so viel besser auf die erste Zeit mit Kind als aufs Internet. Wenn alles neu ist, und nichts, so viel man auch las oder hörte, darauf vorbereiten kann, wie es wirklich ist. Keine Hochglanzwerbung, die die Zeit nach der Geburt mittels monatealter Wonneproppen und Müttern in weißen Oberteilen weichgezeichnet romantisiert. Keine launischen Elternblogbeiträge (ohai!), keine noch so sachlichen Ratgebebücher können das vermitteln. Aber dieser Comic kommt ganz schön nah ran und schafft die Balance, Idealsituationen und fiesen Schwierigkeiten ausgewogen Raum zu geben.

Ideal, das ist, wie die Fürsorge von Mutter und Kind dargestellt wird, von den ersten Tagen im Krankenhaus, über die Hebammen- und Stillberatung. Immer freundliche Pflegekräfte, die die frischgebackenen Eltern nach Getränkewünschen fragen und Tee einschenken, im Hintergrund eine Hand, die Blumen in eine Vase stellt. Die Zeit haben und sofort kommen, und dann alles ausführlich erklären. Die den Eltern nach der Geburt Ruhe geben, aber sie nicht allein lassen. Und nicht aufgerieben sind vom Zeitdruck, der heute Standard ist für Leute, die in der Pflege arbeiten. Ich frage mich, ob das in der Schweiz anders ist, doch selbst wenn nicht: wie schön, das alles so gezeichnet zu sehen, es macht Mut, für das was sein könnte. Und klar, ideal ist auch, dass alle Beteiligten heil und gesund aus der Geburt kommen.

Die Schwierigkeiten wiederum, das sind vor allem Stillprobleme, und wie sie, genau beschrieben und gezeichnet, gelöst werden, vom Milcheinschuss bis zum Milchstau, von der angeschwollenen Brust bis zur entzündeten Brust. Sympathisch dabei, dass auch gezeigt wird, wie weh Stillen am Anfang tun kann (und dass das auch wieder weggeht, mit der Zeit, trotzdem, aua!) Sympathisch auch die ständig offengelegten Brüste von Louise. Während es mich die erste Hälfte des Buches noch irritierte, dass Louise zum Stillen meist gleich ihr komplettes Oberteil auszieht, statt es nur aufzuknöpfen und eine Brust rauszuholen, weil mich fror, wenn ich sie so halbnackt da sitzen sah, fand ich die Vorstellung zum Ende hin immer angenehmer. Gesetzt, die Zimmer sind gut geheizt, ist es bestimmt sehr gemütlich, ständig oberkörperfrei abzuhängen.

Jöööh!

Ein großes Herz für die Zeichnungen von Kati Rickenbach. Die Farben sind hell und pastellig, aber ohne Babykitsch. Auch das Baby ohne Babykitsch, sondern, und das sieht schon ein wenig überraschend aus, in den richtigen Neugeborenengrößenverhältnissen, nämlich vor allem klein. Groß ist dafür, wie gesagt, der Raum, den Brüste einnehmen. Und, für den schlägt mein Herz besonders: Louises Postpartum-Bauch – weich, faltig, nicht grotesk überzeichnet sondern einfach ein authentischer Bauch, der sich seinen selbstverständlichen Platz nimmt. Wunderbar! Apropos Authentizität: Props auch für Krümel und unaufgeräumte Zimmer. Oder Realität: nicht alle (sprechenden/handelnden) Figuren sind weiß.
Es gibt noch so viel mehr schöne oder witzige Details, die ich an dieser Stelle aber nicht alle ausplaudern will.

Was mir auch ganz gut gefiel, ist der Vater, und wie er seine neue Rolle umsetzt. Er unterstützt, vor allem mit seinen Händen, kocht, bringt Kissen, ist aufmerksam und beteiligt. Ich rollte jedoch erst mit den Augen, als ich las, dass er sich nach der Geburt nur zwei Wochen freigenommen hat, und fragte mich dann, he Schweiz, Elternzeit? Und dann fragte ich Google und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Also, für alle, die es ebenfalls noch nicht wussten: Schweizer Mütter haben ein Recht auf 98 Tage Mutterschaftsurlaub. 14 Wochen. Und dass das Ding Urlaub heißt, war ja schon ein Witz, als es in Deutschland noch so hieß. Wie viel Zeit Schweizer Männer freibekommen, das liegt an der Kulanz ihrer Arbeitgeber_innen. Ich glaube mittlerweile, dass Tom mit seinen zwei Wochen da richtig viel für sich rausgeholt hat. Und Initiativen, die Situation in der Schweiz zu verändern, gibt es mittlerweile auch.

Apropos Schweizer Spezifika: Es gibt einige Idiome, die aber ganz gut zu verstehen oder nur zuckersüß sind (“jöööö” oder “Görpsli” <3), und klar, alles Rechtliche oder das, was Versicherungen an Leistungen übernehmen und wie das Gesundheitssystem funktioniert, ist auf die Schweiz angewandt; für deutsche Leser_innen ist das Buch da keine zuverlässige Quelle. Die Lebensumstände in der Stadt und die Sorgen von Louise und Tom, die sind dafür ziemlich gut übertragbar. Wenngleich die meisten Mütter wahrscheinlich nicht vier Monate nach der Geburt vollzeit arbeiten gehen. (Gut, ich habe versucht, einen Monat nach der Geburt vollzeit studieren zu gehen, aber das ging auch voll in die Hose.)

Es fließen lassen

Eins ist offensichtlich. Das ist ein Buch für Menschen, die Lust darauf haben, zu stillen. Es ist insofern undogmatisch, dass Louises Freundinnen, die selbst Mütter sind, unterschiedliche Meinungen zum Stillen haben, dazu stehen und letztendlich jede für ihre Entscheidung respektiert wird, also alles eine Möglichkeit ist. Und auch in der Sachbroschüre steht: “Auch wenn Sie zufüttern oder abstillen müssen, Sie sind für ihr Kind die perfekte Mutter und können ihm durch viel liebevolle Zuwendung und Körperkontankt das vermitteln, was es am meisten braucht: Nähe, Liebe und Geborgenheit.” Was das Buch sicher nicht will, ist Druck zu machen, sondern zeigen, wie es geht, vorausgesetzt Lesende wollen wissen wie es geht.
Andererseits sind es Sätze wie die, dass Stillen unter anderem Übergewicht bei Kindern vorbeugen soll, die mich gruseln und übers Ziel hinausschießen. Und zur eingeschränkten Aussagefähigkeit von Stillstudien, naja, dazu gibt es auch Studien.
Da finde ich den Comic, also die Erfahrung von Louise, viel überzeugender als die Fakten von Antikörpern, Milchzusammensetzung, Allergie-, Brustkrebs- und Bluthochdruckvorbeugung etc. Sie genießt es nämlich zu stillen, weil es sie zu einer Pause zwingt, dazu, auszuruhen. Und sie genießt es! Wenn jemand hasst, die Brust gesaugt zu bekommen, wenn es nur unbefriedigend oder frustrierend ist, zu stillen, dann helfen auch die Fakten von der Nützlichkeit der Muttermilch nicht, selbst wenn man sie währenddessen als Mantra still für sich aufsagt. Ausgerechnet an den Stellen, an denen es um die Vorteile des Stillens geht, klingt auch der Text im Comic ein wenig … didaktisch. Aber gut, es ist ein Sachcomic, und die Infos müssen alle untergebracht werden.

Infos, die mir dafür etwas fehlen: Ein paar Worte (und Zeichnungen!) zum Wochenfluss, der ja nicht wenige Leute nach der Geburt in Form und Menge überrascht. (Mehr oder weniger eine wochenlange Superperiode, gelegentlich auch mit so witzigen Dingen wie Koageln) Oder Verdauung nach der Geburt. Das ist auch eine Challenge.

Wo Neuland hingehört

Das Buch ist schnell gelesen, zum Beispiel während der Wartezeit in einer gynäkologischen Praxis, und sollte deshalb in allen solchen Praxen ausliegen, besonders denen mit langen Wartezeiten. In Hebammmenpraxen natürlich auch, wobei ich in meiner Hebammenpraxis (im Gegensatz zu den Stunden bei allen Gynäkologinnen) nie mehr als Minuten warten musste.

Oder verschenken, und das meine ich sehr ernst. Schenkt das Buch Leuten, die ein Kind bekommen, und noch nie mit Kind durch ein Wochenbett gegangen sind. (Und lest es vorher.) Ab einem gewissen Alter kommt man ja häufiger in die Gelegenheit, etwas zu Geburten verschenken zu dürfen. Bringt Essen mit und dieses Buch. Schenkt es euch gegebenenfalls selbst.

Neuland ist im Careum Verlag erschienen und kann direkt hier bei der Schweizer Stiftung zur Stillförderung bestellt werden. Eine ausführliche Leseprobe findet sich hier.

2 Antworten zu “Neuland”

  1. Bob sagt:

    Die Leseprobe ist nicht schlecht. Scheint wirklich ein geeignetes Geschenk für frischgebackene Eltern zu sein.

    In unserem engeren und weiteren Umfeld wurde das Thema „Stillen“ ebenfalls quasireligiös behandelt. Eine Freundschaft ist daran zerbrochen und schon bald hatten meine Freundin und ich überhaupt keine Lust mehr auf das Thema.

  2. Pinguinlöwe sagt:

    Das Thema Geburt wird in Bekanntenkreisen und leider auch in meiner Verwandtschaft beinahe religilös diskutiert. Mir ist ganz anders geworden als ich mich für meine schwangere Schwester stark gemacht habe:“Es ist deine Entscheidung ob du stillen willst, eine natürliche Geburt oder einen Kaiserschnitt haben möchtest.“ als dann auch schon harpyenhaft von Verwandten gekeift wurde: „Wie kannst du nur: Sie muss stillen, sonst wird das Kind krank und überhaupt kommt nur diese oder jene Art von Geburt und Kindererziehung in Frage!“

    Meine Schwester hatte nach der Geburt wegen Komplikationen noch recht lange sehr starke Schmerzen, die erste Frage aus der Verwandtschaft galt aber immer nur dem Kind. Das Wohlergehen der Mutter war kaum von interesse.

    Statt in den Chor einzustimmen und auch Ratschläge zu geben, ist mir vor allem wichtig, dass es ihr gut geht und ich finde es furchtbar wenn so viel Druck auf junge Eltern gemacht wird, dass sie total verunsichert werden.

    Gute Bücher können sicher ihren Teil dazu beitragen, dass ein Teil dieser Unsicherheit genommen wird. Noch wichtiger allerdings ist es, das die Politik die Hebammen besser stellt. Diese sind nämlich in der Zeit nach der Geburt oft eine große Hilfe.