Bildet Banden! – Girlhood / Bande des filles

© 2014 , by Hold Up Films / Lilies Films / Arte France Cinéma

Die Beklemmung: Nach einem Abend mit Freundinnen auf der letzten Wegstrecke nach Hause allein unterwegs zu sein. Gruppen von jungen Männern am Wegrand, die starren, vielleicht was hinterherrufen. Aber selbst bloß nicht hingucken, nicht antworten. Ja keine Schwäche zeigen. Und das an einem Ort, der eigentlich deine Hood, dein Zuhause ist. Ein Ort, an dem du nicht sein sollst, nicht um diese Zeit oder zu anderen Zeiten, weil dir der öffentliche Raum nicht zusteht. Als Mädchen.

Die 16-jährige Marieme (gespielt von Karidja Touré) lebt mit ihren zwei kleinen Schwestern, einem älteren Bruder und ihrer Mutter in den Banlieues von Paris. Die Großwohnsiedlungen, die sich in den Banlieues (übersetzt: Bannmeilen), also in den Randgebieten von Paris befinden, sind abgeschnitten von der Infrastruktur der Großstadt und de facto segregiert. Das ist das Umfeld, in dem der französische Film Bandes des filles (übersetzt: Mädchenbande) von Céline Sciamma (bekannt durch Filme wie Tomboy oder Water Lilies spielt.

I want to be like others. Normal.

Mariemes Mutter putzt nachts Hotelzimmer, ob ihr Bruder Geld verdient, ist unklar. Klar ist hingegen, dass er Marieme kontrolliert, darüber wacht, mit wem sie abhängt, wie lang sie abends unterwegs ist. Sie wiederum ist für die kleineren Schwestern verantwortlich. Als ihre Noten nicht fürs Lycée reichen, geht Marieme nicht auf die Berufsschule, sondern schließt sich einer Gruppe von drei jugendlichen Mädchen an, die älter sind als sie und definitiv selbstbewusster und dominanter. Lady (Assa Sylla), Fily (Marietou Touré) und Adiatou (Lindsay Karamoh). In dieser Freundschaft erlebt Marieme eine Transformation. Gibt ihre Braids für geglättete Haare auf, passt sich dem Style und Verhalten ihrer neuen Freundinnen an. Wird zu Vic.
“Vic comme victoire.” („Vic wie in Sieg.“)

Der Film, der für vier Césars nominiert wurde, ist nicht nur eine innige und harte Coming-of-Age-Story, sondern stellt auch die Geschichte eines Schwarzen Mädchens, die Geschichte einer Freundschaft zwischen Schwarzen Mädchen aus der französischen Unterschicht in den Vordergrund. Und in den Mittelpunkt. Erzählt diese Geschichte des Heranwachsens so, dass Zuschauer_innen merken, dass sie es mit einer universellen Erfahrung zu tun haben. Die Erfahrung, ein Mädchen zu sein und als Frau erwachsen zu werden, in einer Welt, die ihre Bedürfnisse missachtet. Und der Film erzählt diese Geschichte eben nicht nur als spezifische Story sondern mit dem Allgemeinheitsanspruch von anderen Coming-of-Age-Filmen oder Emanzipationsromanen.

Der (weißen) Regisseurin Sciamma fiel auf, dass in französischem Film und Fernsehen keine Schwarzen Frauen oder Mädchen zu sehen sind, es keine berühmten Schwarzen französischen Schauspielerinnen gebe. Ihr war ein Anliegen, das zu ändern, auch damit dieser Film in fünf Jahren nur einer von vielen mit diesem Fokus sei. Chris Rock kann noch ein bisschen mehr sagen zur Repräsentation von Schwarzen Frauen auf der Kinoleinwand:

“And there are almost no black women in film. You can go to whole movies and not see one black woman. They’ll throw a black guy a bone. OK, here’s a black guy. But is there a single black woman in Interstellar? Or Gone Girl? Birdman? The Purge? Neighbors? I’m not sure there are. I don’t remember them. I go to the movies almost every week, and I can go a month and not see a black woman having an actual speaking part in a movie. That’s the truth.”

“Es gibt fast keine Schwarzen Frauen in Filmen. Du kannst dir komplette Filme anschauen und darin nicht eine einzige Schwarze Frau sehen. Schwarzen Männern wird schon mal ein Knochen hingeworfen. Ok, hier haben wir einen Schwarzen Typen. Aber gibt es eine einzige Schwarze Frau in Interstellar? Oder in Gone Girl? Birdman? The Purge? Neighbors? Ich bin nicht so sicher, dass es sie gibt. Ich erinnere mich nicht daran, sie gesehen zu haben. Ich gehe so gut wie jede Woche ins Kino und ein Monat geht rum und ich habe keine Schwarze Frau gesehen, die tatsächlich eine Sprechrolle in einem Film hat. Das ist die Wahrheit.”

What About Ze Boyhood?

Als Sciamma ihrem Film für die Ausstrahlung im englischsprachigen Raum den Namen Girlhood gab, wusste sie noch nichts von dem Filmprojekt Boyhood von Richard Linklater, das das Aufwachsen eines Jungen über eine Dekade in Echtzeit dokumentiert, und als Spielfilm mit fiktiver Geschichte (an der die Schauspieler_innen mitgeschrieben haben) erzählt. Im Nachhinein stellte Sciamma fest, dass diese Filme einander gut spiegeln, auch wenn sie einen sehr unterschiedlichen Ansatz haben.

“I felt the movies mirrored each other, though I didn’t know Boyhood existed at the time. It’s really interesting to compare them. They are both obsessed with the idea that watching somebody grow is engrossing and arresting, but they use totally different tools. That’s what’s beautiful about cinema.”

“Ich hatte den Eindruck, die Filme spiegelten einander, obwohl ich damals nichts von Boyhoods Existenz wusste. Es ist wirklich interessant, sie miteinander zu vergleichen. Sie sind beide auf die Idee versessen, dass es fesselnd und umwerfend ist, jemandem beim Aufwachsen zuzusehen, aber sie nutzen völlig unterschiedliche Werkzeuge. Das ist, was schön an Kino ist.“

Die Filme Boyhood und Girlhood sind aber nicht nur unterschiedlich, weil der eine einen weißen Mittelschichtsjungen aus den USA portraitiert und der andere eine Schwarzes Mädchen aus den Banlieues in Frankreich. Boyhood wurde über den Lauf von zwölf Jahren gedreht, bildet dieses Zeit ab, und macht das wenig subtil mit Verweisen auf Musik, technische Geräte oder Wahlen, und muss diese zwölf Jahre in 165 Minuten runtererzählten. Girlhood beschreibt nur einen sehr kurzen Zeitraum in der Entwicklung der Protagonistin, ist zwar, anders als Water Lilies und Tomboy, fester in einer spezifischen Gegenwart verwurzelt, aber die technischen Mittel, die darauf verweisen (Videospiele, Selfies), bleiben subtiler. Der Film kann, da er nicht Jahre, sondern nur einen Zeitraum von etwa 40 Tagen abbildet, viel dichter erzählen. Die Geschichte von Marieme/Vic wird vor allem in intimen und intensiven Momenten gezeigt, ist nah an der Protagonistin, die selbst nicht alles preisgibt. Aber es gibt auch überraschende Überschneidungen zwischen beiden Filmen (Vorsicht, Mini-Spoiler!): Väter, die Haareschneiden als Mittel zur Erziehung (und Demütigung) ihrer Kinder einsetzen. Bei Boyhood, um die Hauptfigur männlicher zu machen. Bei Girlhood, um eine Nebenfigur mit der Zerstörung eines Symbols für ihre Weiblichkeit und Stärke zu bestrafen.

Schön ist auch, wie zurückhaltend bei Girlhood / Bande des Filles mit Musik gearbeitet wird. Musik, die, wenn sie nicht zur Handlung gehört, weil die Mädchen dazu tanzen oder singen, die Handlung nicht untermalt oder kommentiert, sondern in intimen Szenen das Gefühl verstärkt, den eigenen Atem lauter zu hören. Oder der Song Diamonds von Rihanna, für den die vielleicht schönste Szene des Films gemacht wurde, sorgfältig choreographiert und voller <3 und #blackgirlmagic:

Dieser Film hat mich mehr berührt als Boyhood. Nicht nur, weil ich Boyhood oberflächlicher fand, mit seinem ständigen Anspruch, zeigen zu wollen, dass es sich gleichzeitig auch um ein historisches Dokument handelt. Obwohl ich von Brüchen der Familiensituation bei Boyhood und den demographischen Umständen der portraitierten Familie selbst mehr angesprochen war, hat Bandes des filles / Girlhood etwas getroffen, das so viel näher ist an meinem Gefühl von: Aufwachsen. Von: ein Mädchen sein. Verbundenheit und Vertrautheit mit Freundinnen, auch wenn man sich erst kurz kennt. Situationen, in denen vielleicht “nichts Schlimmes” passiert und die bedrohlich sind, weil was passieren könnte, weil man um Verletzlichkeit Bescheid weiß. Verletzlichkeit als ein ganz großes Sujet in diesem Film; sie abzuwehren, sie offen zu legen, sie zu verteidigen.

Je fais qu’est-ce que je veux

“Du musst das machen, was DU willst.” rät Lady Marieme, ehe sie ihr eine Kette mit ihrem neuen Namen, Vic, gibt. Und befiehlt: “Sag es: Ich mache was ich will”. Was sie auch macht. “Je fais qu’est-ce que je veux.” I do what I want. Sie macht, was sie will, in den engen Grenzen ihrer Umgebung. Sie nimmt sich, was sie braucht und will, seien es Geld, Sex, Anerkennung. Aber was sie wirklich will? Was sie mit ihrem Leben machen möchte? Das bleibt offener. Ungeklärter. Klarer dafür das, was sie nicht will. Wann nicht angefasst. Welchen Job nicht. Was für ein Lebensplan nicht passt. Und eine der großen Stärken für einen Film wie diesen, ist, wie das Thema sexualisierte Gewalt und Verwundbarkeit verhandelt wird. Wenn Vic nein sagt, dann gilt das oder wird durchgesetzt. Sciamma sagt:

“I think she’s a contemporary heroine, because she’s narrowing her refusals. It’s not what she says ‘Yes’ to, it’s what she says ‘No’ to. And I think that’s something quite different and profound from today.”

Ich denke, sie eine moderne Heldin, weil sie ihre Verweigerungen absteckt. Es geht nicht darum, zu was sie ‚Ja‘ sagt, es ist, zu was sie ‚Nein‘ sagt. Und ich denke, das ist etwas sehr Ungewöhnliches und Tiefgreifendes für heutzutage.

Dass wir als Zuschauer_innen trotz konstanter, auch sexualisierter Aggressivität  keine Vergewaltigung vorgeführt bekommen, um die Story auszuschmücken, ist eine große Erleichterung. Dass ich darüber dankbar bin spricht vor allem gegen viele andere Filme/Serien. (I’m lookig at you, GoT) Und so wie die Erinnerung an die eingangs beschriebene Angst oder Unsicherheit, alleine durch die Stadt zu laufen, so begleitete mich während des Films die Angst, einem der Mädchen könnte doch noch was zustoßen. Wünschte mir, ausgerechnet, dass sie, die sich mit geklautem Geld ein Hotelzimmer mieteten und sich darin schick machten, dort bleiben und nicht raus in den öffentlichen Raum gehen würden, weil ich nicht sehen wollte, dass sie angemacht oder verletzt werden. Die beschissene Ironie. Aber wieder wettgemacht durch die schönen Bilder ihrer Freundschaft und Momente von Sorglosigkeit und Sorge für einander. They got each other’s back.

I wasted her

Die Hierachien sind geklärt und damit auch die Richtungen, in die Agressionen verlaufen dürfen. Die Jungs gegen die Mädchen. Die Mädchen gegeneinander, aber nicht gegen die Jungs. Mädchen, die sich in einer Gruppe mithilfe von Gewalt oder Dominanzgehabe den öffentlichen Raum nehmen, haben sich die Form der Gewalt, die das ermöglicht, mutmaßlich abgeguckt bei denen, die sonst über den öffentlichen Raum verfüge – es wird nach den Regeln der Jungs gespielt, aber nicht gegen sie. Das tut manchmal beim Zusehen weh, wenn andere Mädchen zu Opfern werden. Ich bin aus erwachsener Perspektive oft besorgt. Will nicht nur, dass den Protagonistinnen nichts passiert. Sondern auch, dass sie keinen Scheiß bauen. Und so sehr ich verstehe, wenn Vic und ihre Freundinnen Gewalt als Mittel ergreifen, weil es im Angebot ist, weil Gewalt ihren Alltag strukturiert, und dass es sich nicht nur um Not sondern auch um Empowerment handelt, so sehr will ich, dass sie das nicht brauchen. Oder checken, dass man als Teenager auf der Suche nach Anschluss nicht alles machen und gut finden muss, was die Freundinnen machen. Dass man, wenn man sich nicht wohl fühlt damit, nicht „groß“ spielen muss, sondern genauso richtig ist, wie man ist. Naja, dass man für so Erkenntnisse und das dazugehörende Selbstvertrauen meist erst erwachsen werden muss, ist schon ein Abfuck. Und diesen Weg zu finden, ist Teil der Geschichte.

SHINE BRIGHT LIKE A DIAMOND

Marieme macht in diesem Film mehr als eine Transformation durch. Es gibt Dinge, die diese besondere Freundschaft zwischen ihr, Fily, Lady und Adiatou nicht aushalten kann, weil sie nicht mitwächst, individuelle Entwicklungen nicht tragen kann; Schwangerschaft oder bestimmte Jobs. Und so findet Marieme andere Wege, passt sich Jungs an, mit denen sie arbeitet, von Frisur und Binder bis hin dazu, bei Belästigung mitzumachen. Wie gesagt, das tut weh. Ist aber eine nachvollziehbare Strategie als Mädchen in einer Welt, die nichts für eine übrig hat. Sich so anpassen, an die Mächtigeren, dass man nicht selbst verletzt wird. Trotzdem macht Marieme nicht alles mit. Auch wenn es Dinge sicherer oder leichter machen würde. Sie weiß, was sie nicht will und schlägt Möglichkeiten aus, die nicht für sie passen. Das ist schwer. Und groß.

Ein Film, der bitter nachklingt, mit einem offenen Ende, das sich als blauer, trauriger Duft festsetzt. Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Und so sehr zu empfehlen.

Bechdeltest mit Sternchen bestanden. Den “Racial Bechdel Test” übrigens auch.

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