Verbündete: Wie ich mich dafür entschied, festzuhalten
Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Johanna.
Johanna Montanari, 1987 in Berlin-Kreuzberg geboren, ist freie Autorin und Doktorandin und schreibt hier über ihr Lieblingsthema: Verbündete finden.
2017 hat sie gemeinsam mit Sina Holst den Essayband „Wege zum Nein“ herausgegeben, in dem antirassistische und queerfeministische Texte die Reform des Sexualstrafrechts 2016, sexuelle Gewalt und Visionen von Sexualität und Konsens verhandeln.
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Als ich einmal auf der Suche nach einem Therapeuten war, stellte mir einer verschiedene Fragen, um mich besser einschätzen zu können. Eine davon lautete, „Haben Sie Freunde?“ Ich: „Ja.“ Er darauf: „Eher so Hobby-Freunde oder so richtige?“ Seitdem geht mir diese Unterscheidung nicht mehr aus dem Kopf. Ich fand sie sehr präzise. Mit Hobby-Freund*innen bin ich nämlich verbunden, weil wir ein Hobby teilen und wenn ich aber das Hobby wechsle, wechseln in der Regel auch die Freundschaften. Sie sind ersetzbar. „Richtige“ Freundschaften gehen darüber hinaus.
Ich wünsche mir, ich hätte damals antworten können: „Ich habe Verbündete.“
Ich benutze den Begriff Verbündete als einen politisierten Freundschaftsbegriff.
Es ist ein Begriff, der sich bewusst der Einordnung in „wichtigere Liebesbeziehungen“ und „weniger wichtige platonische Freundschaftsbeziehungen“ versperrt. Verbündete, das ist ein kämpferischer Begriff.
Verbündete sind so etwas wie Mitstreiter*innen. Anders als bei Genoss*innen, bei denen eine Partei unsere Gemeinsamkeit ist, unterstützen wir einander als Verbündete mit unseren persönlichen Anliegen, die sich auch unterscheiden können. Es geht um die Annahme, sich wohlwollend zu begegnen und eine gemeinsame Vision zu teilen. In den heutigen kapitalistischen, neoliberalen Verhältnissen erscheint uns das Leben oftmals als Einzelkampf. Ich glaube, wir brauchen in diesen Verhältnissen Verbündete, um ein widerständiges Leben zu führen.
Nur gemeinsam können wir unserem Tun und Handeln Sinn geben, insbesondere wenn es aus der Norm fällt und wir eigene Maßstäbe entwickeln wollen.
Zum Beispiel wenn wir unseren Wert nicht an unserem beruflichem Erfolg messen oder nicht das heterosexuelle Liebes- oder Familienideal leben, wenn wir daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist.
Als Verbündete stärken wir nicht nur unsere jeweils individuelle Handlungsfähigkeit. Auch jede größere Gruppe lebt von den einzelnen Beziehungen. Ich glaube, dass wir unsere kollektive Handlungsfähigkeit erweitern können, wenn wir unsere nahen Beziehungen wertschätzen und uns als Verbündete verstehen.
Arbeit oder Liebe?
Der Kapitalismus lebt vom System der Lohnarbeit. Feminist*innen haben darauf aufmerksam gemacht, dass Fürsorge- und Haushaltstätigkeiten notwendig sind, um dieses System aufrecht zu erhalten. Da Fürsorge- und Haushaltstätigkeiten meist unbezahlt im Privaten gemacht werden, gelten sie jedoch nicht als Arbeit, sondern als „Liebe“. Seit den 70er Jahren kämpfen Feminist*innen wie zum Beispiel die italienisch-amerikanische Marxistin Silvia Federici dafür, diese weiblich konnotierten Tätigkeiten als echte Arbeit anzuerkennen und sie umzuverteilen.
Fürsorge- und Haushaltstätigkeiten als Arbeit zu verstehen ist strategisch und analytisch sinnvoll, um sich gegen Ausbeutung zu wehren. Dennoch bestehen Unterschiede zu klassischen Arbeitsverhältnissen, wo Arbeitnehmer*innen sich gegen ihre Arbeitgeber*innen zusammen schließen können, zum Beispiel in einer Gewerkschaft.
Putzen, Kinder betreuen, kochen – diese vormals privaten Tätigkeiten werden immer mehr abgegeben, häufig an Frauen aus ärmeren Ländern: Wenn ich es mir leisten kann, bezahle ich andere, damit sie diese Tätigkeiten für mich tun. Gänzlich lassen sie sich jedoch nicht auslagern. Denn für die Fürsorge untereinander sind spezifische Beziehungen relevant. Diese Beziehungen, die spezifischen Menschen und ihre Verbindungen, sind nicht so einfach austauschbar. Wenn ich zum Beispiel gar keine Zeit mit meinem Kind verbringe, wird unsere Beziehung dementsprechend sein. Wenn ich meine Wohnung noch nie selbst geputzt habe, wie sehr fühle ich mich dann zu Hause?
Wenn wir über unsere Beziehungen als Arbeit sprechen, werten wir sie in gewissem Sinne auch als lästig ab. Wer muss Zeit mit dem Kind verbringen? Wer muss die Schwester ansprechen, wenn sie schräg drauf wirkt? Wer das Abendessen kochen, wer mit dem Opa spazieren gehen? Diese Diskussionen sind notwendig, doch was dabei möglicherweise aus dem Blick gerät, sind die qualitativ unterschiedlichen Beziehungen, die aus diesen Tätigkeiten entstehen und die nur durch zwischenmenschliche Interaktion lebendig bleiben.
Aus jeder Beziehung entsteht etwas Neues, etwas Unvorhergesehenes. Jede Beziehung heißt, eine Welt zu bauen. Eine Welt, die gerade erst entsteht. Ich glaube an das antikapitalistische Potenzial von Beziehungen.
Unendliche Fernen überbrücken
In einem Brief von 1901 tröstet der in Prag (damals Österreich-Ungarn) geborene Dichter Rainer Maria Rilke einen Freund, der im Begriff war, sich zu trennen. Rilke beschreibt ihm, dass der größte Vertrauensbeweis zweier Menschen ist, füreinander Wächter*in der Einsamkeit der anderen Person zu sein.
Er schreibt:
„Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welchen einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt. Aber, das Bewußtsein vorausgesetzt, daß auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen! Deshalb muß also auch dieses als Maßstab gelten bei Verwerfung oder Wahl: ob man an der Einsamkeit eines Menschen Wache halten mag, und ob man geneigt ist, diesen selben Menschen an die Tore der eigenen Tiefe zu stellen, von der er nur erfährt durch das, was, festlich gekleidet, heraustritt aus dem großen Dunkel.“
Rilkes Worte, die er auf die Ehe bezog, lassen sich auch auf Beziehungen mit Verbündeten übertragen. Das bedeutet, dass wir einander Raum geben, auch wenn der andere Mensch für eine*n nicht immer direkt verständlich ist – und es heißt, davon auszugehen, dass wir gute Gründe für unser jeweiliges Tun haben.
Verbündete werden zu Verbündeten, indem sie einander Raum geben und sich gerade deswegen nah kommen. Das bedeutet nicht, dass wir Konflikte vermeiden. Wir hinterfragen uns vielmehr ständig, indem wir uns vorstellen wollen, was die andere Person antreibt.
Machtbewusstsein
Wir müssen nicht gleich sein, um Verbündete sein zu können – das wäre ein unmögliches Unterfangen. Viel wichtiger ist es, dass wir gemeinsame Wünsche und Forderungen für diese Welt und unsere Gesellschaft jetzt teilen.
Um uns einander irgendwie begreifbar zu machen, übersetzen wir diese aus sehr unterschiedlichen Positionen – auch unterschiedlichen Machtpositionen – heraus und entwickeln aus der Übersetzung gemeinsame Visionen.
Die US-amerikanische Aktivistin und Dichterin Audre Lorde betonte immer wieder, dass es nicht unsere Unterschiede sind, die uns trennen, sondern unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede anzuerkennen und wertzuschätzen. In einer Rede von 1981 über den Nutzen der Wut, eine Wut, die ihre Reaktion auf Rassismus ist, sagt sie:
„Unsere Stärke besteht jedoch darin, daß wir Unterschiede zwischen uns Frauen als fruchtbar begreifen und aufrecht zu den Einstellungen stehen, die unser unschuldiges Erbe sind, aber die nun von uns berichtigt werden müssen. Wenn wir durch unseren Ärger aufeinander zu wirklicher Einsicht in unsere Unterschiede gelangen, kann sich unser Bewußtsein dieser Unterschiede in Machtbewußtsein verwandeln. Denn Ärger unter Gleichgesinnten bewirkt Veränderung, nicht Zerstörung.“
Verbündete bleiben Verbündete, halten aneinander fest, gerade indem sie füreinander das Unvorhergesehene sein können, gerade indem sie zulassen, sich durch die Beziehung zu verändern.
Sinn geben
Wie können Verbündete uns das Gefühl geben, dass das, was wir tun, sinnvoll ist? Wir tun das, indem wir uns gegenseitig in unserem Wollen unterstützen. Wir ermutigen uns gegenseitig, jeweils für uns einzustehen und erlauben uns das gegenseitig immer wieder. Wir bestärken uns, Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie nicht den Erwartungen von Arbeitgeber*innen, Familie oder anderen entsprechen.
Wir brauchen Verbündete, um ein Verständnis der Welt zu entwickeln und uns selbst darin zu positionieren. Wir brauchen einander, um uns in Relation zu setzen.
Viele politische Kämpfe werden momentan über Identität geführt, doch auch Identität funktioniert nicht, ohne sich in Beziehung zu setzen, ohne Verhältnisse zu sehen.
Es kommt immer darauf an, wovon ich mich abgrenze und was das gemeinsame Kriterium ist, um zu wissen, wer ich bin. Als Verbündete geben wir uns hierbei eine notwendige Orientierung.
Tatsächliche Fürsorge
Wir leben in einer Welt einer sich ausbreitenden Marktlogik. Innerhalb der Marktlogik gilt alles, was wir tun, als „Investition, die sich lohnen muss“. Unsere Beziehungen scheinen austauschbare Waren, wie auch wir nur eine Ware sind, die wir selbst vermarkten, und der Markt bestimmt den Wert. Innerhalb der Marktlogik werden systemische Faktoren, durch die wir extrem unterschiedliche Voraussetzungen haben und auf die wir nicht als Einzelne einwirken können, negiert und stattdessen von „Eigenverantwortung“ gesprochen. Das heißt, wenn du in diesem System nicht erfolgreich bist, bist du selbst Schuld.
Als Verbündete können wir tatsächliche Fürsorge statt Marktlogik leben. Das neoliberale Diktat der Eigenverantwortung wird nur solange gepredigt, wie es sich in Marktlogik umsetzt, also solange das kapitalistische System davon profitiert.
Als Verbündete geben wir uns Erlaubnis für Eigenverantwortung, die sich nicht in die Marktlogik einpasst. Denn wir haben eigene Kriterien.
Ich tröste mich gerne damit, dass es überall, in allen Kontexten, mögliche Verbündete gibt. Bei meinen Hobbys fällt es mir weniger schwer, das zu sehen, als in Kontexten, die ich als einschüchternd empfinde, wie zum Beispiel in meinem Berufsleben.
Ich habe nicht viele Verbündete, aber die Wenigen, die ich so bezeichne, sind die Menschen, die für mich nicht ersetzbar sind und bei denen ich trotzdem keine Angst vor den unendlichen Weiten zwischen uns habe.