Forever Lost

Foto , by finding_dan

„In ewiger Erinnerung an die Leiden unserer Vorfahren. Mögen die, die gestorben sind ihren Frieden finden. Mögen die, die zurückkehren ihre Wurzeln finden. Möge die Menschheit nie wieder solch Verbrechen gegen die Menschheit begehen. Wir, die Lebenden, versprechen dies aufrecht zu erhalten.“

Das steht auf einer Kachel geschrieben, an der Wand einer ehemaligen Sklavenburg in Cape Coast, in Ghana.

Ich stehe da, zwischen Tourguide, afrikanischen und europäischen Tourist_innen und weine. In den dunklen, fensterlosen Kerkern, in denen vor 150 Jahren noch Sklav_innen gehalten wurden, überkommt mich ein Schmerz. Anders als die anderen Tourist_innen kann ich diesen Ort nicht mit distanzierter Betroffenheit anschauen. Dieser Kerker ist Teil meiner Herkunftsgeschichte.

Dies war das Schicksal meiner Vorfahr_innen. Sie standen irgendwann einmal in solchen Kerkern. Vielleicht sogar in diesem hier. Bevor sie auf Schiffen nach Amerika transportiert wurden. In Cape Coast trägt das Tor zum Hafen, an dem die Schiffe warteten, den Namen „Door of no return“. An solchen Hafentoren brach die Verbindung der Menschen mit ihrer Heimat ab. Auf den Schiffen im Hafen wurden die Afrikaner_innen von ihren Wurzeln abgeschnitten –  Von ihren Familien getrennt, durften ihre Sprachen nicht sprechen, bekamen neue Namen. Und sie kehrten nie wieder zurück.

Dennoch steht da dieser Satz an der Wand, den ich anschaue: „Mögen die, die zurückkehren, ihre Wurzeln finden.“ Er ist an mich gerichtet und an alle, die Nachfahr_innen der Menschen sind, die von hier in die Sklaverei geschickt wurden. Der Satz bricht mir das Herz. Denn ich kann meine Wurzeln nicht wiederfinden. Ich kann nur Orte besuchen, an denen sie verloren gingen. Warum ist es so wichtig, diese Wurzeln zu finden, wenn es schon mehr als einhundert Jahre her ist? Zum einen, weil die USA für viele Afroamerikaner_innen bis heute eine kaltherzige Heimat ist. Afroamerikaner_innen sind immer noch strukturell benachteiligt.  Die USA – das Land, in dem meine Mutter geboren wurde – rühmt sich damit „the land of the free“ zu sein. Für Afroamerikaner_innen war und ist es das lange nicht, wie beispielsweise die Black Lives Matter-Bewegung immer wieder aufzeigt.

Außerdem ist es ein wichtiger Teil der Identität hauptsächlich vieler weißer US-Amerikaner_innen die eigene Herkunft zu kennen. Sie erzählen Geschichten von europäischen Vorfahr_innen, die per Schiff in die USA kamen und höllischen Regimen entflohen. Afroamerikaner_innen können nur raten. Konkreter als „Afrika“, wird es meist nicht. Doch Entziehen können sich Schwarze Menschen in den USA davon auch nicht. Alleine die Bezeichnung “Afroamerikaner_in” weist immer wieder auf die verlorene Herkunft hin.

Malcolm X oder Marthin Luther King

Ich bin nicht in den USA geboren oder aufgewachsen. Die oben beschriebenen Umstände waren also nicht primär meine Probleme. Als ich mit 16 ein Schuljahr bei meiner Familie in Philadelphia verbrachte, merkte ich allerdings dass Afroamerikaner_innen bis heute die Frage und das Verlangen nach Zugehörigkeit umtreibt. Um eine sehr komplexe Sache einmal vereinfacht darzustellen, gibt es grob zwei Richtungen: Die einen Afroamerikaner_innen lehnen die ständige Verknüpfung zu Afrika ab. Ihre Argumente: Es ist hunderte Jahre her und die afroamerikanische Kultur ist eine eigene, die sowohl afrikanische als auch weiße Einflüsse in sich trägt. Die anderen sehen die afroamerikanische Kultur zu sehr vom Rassismus der Weißen geprägt. Die Stärkung der afrikanischen Identität ist für sie eine Art und Weise sich von der Unterdrückung durch Weiße zu lösen. Diese beiden Sichten kamen unter anderem in den Prinzipien von Martin Luther King und Malcolm X zum Tragen.

Ich habe das Problem der Zugehörigkeit von Afroamerikaner_innen eher anders erlebt als wie oben beschrieben. Ich sah es eher in verwirrten Nachfragen oder enttäuschten Gesichtern, die mir hierzulande begegnet sind, wenn ich auf die Frage “Wo kommst du her?” geantwortet habe. Auch wenn Afroamerikaner_innen wahrscheinlich die Gruppe Schwarzer ist, die am häufigsten in den internationalen Medien auftaucht, scheint es die Menschen doch oft zu verwirren, fast zu enttäuschen, wenn sie dann mal eine vor sich haben. Von den unzähligen Malen, an denen Menschen versucht haben, meine Herkunft zu erraten, kann ich mich an genau einmal erinnern, dass jemand USA getippt hat. Ganz oben auf der Liste: Brasilien.

Kurzer Off-Topic-Rant: Bei weitem haben nicht alle Brasilianer_innen braune Haut und lockige Haare. Mehr als 40 Prozent aller Brasilianer_innen sind weiß. Und die meisten Schwarzen Brasilianer_innen sind genauso nach Brasilien gekommen, wie Afroamerikaner_innen in die USA. Auf Sklavenschiffen. Warum also denken so viele direkt an Brasilien und nicht an die USA, wenn sie mich sehen? Warum???

Glücksversprechen Gentest

Abgesehen von diesen seltsamen Zuordnungsschwierigkeiten mir gegenüber scheint es seit einigen Jahren eine Lösung für Schwarze Menschen zu geben, die sich auf die Suche nach ihrer Herkunft machen wollen: DNS-Tests. Das Versprechen:  wir tragen unsere Vorfahr_innen, unsere Wurzeln in jeder Zelle mit uns, verschlüsselt und verzwirbelt in Form von DNS-Strängen. Mittlerweile ist es laut Anbieterunternehmen dieser Tests ein Leichtes, unsere DNS zu entschlüsseln. Bis auf den Prozentpunkt genau könnten wir feststellen lassen, aus welchen Regionen oder Ländern unsere Vorfahr_innen kommen. Nur etwas Spucke an einen Anbieter geschickt – und tadaa – wenige Wochen später erfährt man alles über die eigene genetische Zusammensetzung – so das Versprechen.

Datenschutzrechtlich sind DNS-Tests problematisch. Die Anbieter speichern die Daten der Kund_innen und nutzen sie oftmals zu Forschungszwecken. Schließlich kann man in der DNS nicht nur die Herkunft erkennen, sondern auch vererbbare Krankheiten feststellen. Wird eine entdeckt, kann das zumindest in den USA zu einer teuren Krankenversicherung führen.

Doch das betonen die Anbieter in ihren Werbungen nicht. Sie fokussieren sich auf das Versprechen, neue Aspekte der eigenen Herkunft zu entdecken.

Meine Schwester hat so einen Test zum Geburtstag geschenkt bekommen. Das fand ich dann doch ganz spannend. Sie musste etwas Spucke in ein Röhrchen geben und per Post in ein Labor schicken. Dann hieß es Warten. Ich fragte sie immer wieder, ob sie die Ergebnisse schon bekommen hätte, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Als sie dann endlich da waren und ich danach fragte, winkte meine Schwester ab. Ist nicht wirklich befriedigend, sagte sie, ohne Genaueres zu erzählen. Nach einigem Nachhaken gab sie mir das Passwort zum Account, hinter dem die Ergebnisse ihres Tests schlummerten.

Mehr Fragen als Antworten und richtig schlechte Musik

Ich loggte mich ein und wurde mit einem Video begrüßt. Eine Weltkugel begann sich zu drehen, dazu spielte klassische Musik. Eine Fläche zwischen Großbritannien und Deutschland färbte sich ein: 51,2 Prozent Nord- und Westeuropäerin. Die Kugel drehte sich weiter nach Afrika, die Musik wechselte zu schnellem Trommeln, nur ein Land im Westen des Kontinents wurde makiert: 30,8 Prozent Nigeria. Zurück nach Europa: 11 Prozent Balkanbewohnerin, dazu ertönte, wer hätte es gedacht, Balkanmusik. Danach Spanien, Portugal, Nordafrika: 6 Prozent Ibererin. Am Ende erklang eine Art Panflötenmusik, Kanada, Nord-USA und Grönland färbten sich ein: 1 Prozent Eskimo-Frau. Boom. Fertig. Das ist die genetische Herkunft meiner Schwester. Und die ist meiner vermutlich sehr ähnlich.*

Ich starrte auf den Bildschirm, voller Fragen und unglaublich irritiert von der – nennen wir es mal klischeehaften – Präsentationsweise unserer Herkunft. Von dem problematischen Wort “Eskimo-Frau” mal ganz abgesehen – Die Frage, die mir am meisten auf der Seele brannte, war die unserer afrikanischen Herkunft. Und die soll auf nur ein Land zurückzuführen sein? Wohingegen meine weiße Seite in drei Kategorien unterteilt ist? Und überhaupt: Was machen Gene denn überhaupt Nigerianisch? Die Kategorisierung an sich finde ich fragwürdig. Ich habe das Gefühl, dass der Test und die, die ihn entwickelt haben, einiges grob vereinfachen.

Auch interessant, wenn auch angesichts meiner Familiengeschichte nicht überraschend, ist, dass wir anscheinend genetisch gesehen viel weißer sind als Schwarz. Doch niemals würde ich mich als weiß identifizieren oder so identifiziert werden. Ein Hinweis darauf, wie stark sich die “One-drop-Rule” immer noch auf unsere Identität auswirkt – die, die ich selbst fühle und die, die andere in mir sehen. Die “One-Drop-Rule” in den USA  besagte, dass Menschen, die auch nur einen Tropfen “Schwarzes Blut” in sich tragen, nicht weiß sind und somit kein Recht auf weiße Privilegien haben. Später ließen sie sich manche US-Bundesstaaten auf ein Achtel, andere auf ein Viertel Anteil Schwarzer Vorfahren “runterhandeln”, um Menschen als weiß zu klassifizieren – sehr „großzügig“.

Für manche kann so ein DNS-Test bestimmt lang ersehnte Antworten geben. Zum Beispiel, wenn man seine leiblichen Eltern nicht kennt. Jedoch ist er selten Allheilmittel. Auch durch so einen Test wirst du in Schubladen gesteckt  – nur halt anders als bisher. Am Ende sind es wir Menschen selbst, die etwas in die Kategorien dieser Tests hinein interpretieren.

Heute steht fest: für mich trägt das Lernen aus der Geschichte wesentlich mehr zur Identitätsbildung bei, als ein Gentest. Wenn ich Orte besuche, die etwas über meine Vorfahren erzählen. So wie in Cape Coast.

 

*Eine frühere Version des Artikels berücksichtigte die Unterschiede zwischen geschwisterlichen DNA-Tests noch nicht angemessen. Das hat die Autorin geändert.

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