Eine Liebeserklärung an Xavier Dolan

Es fällt mir oft schwer, mich so richtig doll für eine Serie oder einen Film zu begeistern. Meistens finde ich alles eher so mittelgut, irgendwas habe ich immer auszusetzen. Wenn dann aber der seltene Fall eintritt und ich etwas wirklich großartig finde, dann höre ich nicht mehr auf, davon zu schwärmen und schaue mir die betreffenden Filme auch gern mehrmals wöchentlich an.

Sehr weit vorn auf meiner Liste solcher lebensqualitätssteigernden Lieblingsfilme stehen sämtliche Werke des Frankokanadiers Xavier Dolan. Die Bezeichnung »Wunderkind« ist in seinem Fall sehr treffend. Der Gute ist nämlich 1989 geboren, hat im zarten Alter von 16 Jahren das Drehbuch zu seinem ersten Langfilm »I killed my mother« verfasst und seither fünf Filme gedreht. Außerdem übrigens auch das Video zu Adeles »Hello«. Zugegebenermaßen stimmten die Voraussetzungen im Hause Dolan: sein Vater Manuel Tadros ist Schauspieler und Xavier selbst spielte schon in frühester Kindheit in Film und Werbung mit. Zudem ist er seit seinem Erstlingswerk, was ihn damals gleich international bekannt machte, ein gern gesehener Gast bei den Filmfestspielen in Cannes.

Trotzdem stieß ich erst relativ spät und nur durch Zufall auf ihn. Anfang 2014 wollte ich spätabends noch etwas anschauen und landete irgendwie bei »Herzensbrecher« (»Les Amours Imaginaires«, 2010). Eigentlich eine klassische Dreiecksgeschichte – die beiden jungen, hippen und eng befreundeten Großstadtmenschen Marie (Monia Chokri) und Francis (Xavier Dolan höchstselbst) lernen den Schönling Nicolas (Niels Schneider) kennen und verknallen sich beide in ihn. Es folgt ein Konkurrieren um seine Aufmerksamkeit. Nicolas verbringt zwar immer wieder Zeit mit ihnen, ist aber nicht ernsthaft an einer Bindung interessiert. Wirklich keine groß ungewöhnliche Story, aber schon die ersten Minuten fesselten mich. Ganz untypische Erzählweise, ein grandioses Zusammenspiel aus Bildern und Musik (Dalidas »Bang Bang«, zum Beispiel), das eher an Musikvideos als an Spielfilme erinnert, und selbst in der deutschen Synchronisation tolle Dialoge.



Verliebtheitsphase 1:
Schwärmen

Dolan schafft den perfekten Spagat zwischen Authentizität und Verkünstelung. In so vielen Hollywood-, aber auch Arthaus-Produktionen fehlen mir diese Echtheit, die Andersartigkeit, das Ausprobieren und die wirklich funktionierenden Dialoge.

Ich nahm nach diesem Film die Recherche auf und inhalierte kurz danach »I killed my mother« (»J’ai tué ma mère«, 2009). Neben dem Drehbuch übernahm er hier gleich – und völlig ohne Vorkenntnisse – Produktion und Regie, und spielte außerdem die Hauptrolle. Sein Debüt erzählt »semi-autobiografisch« die Geschichte des 16jährigen Hubert und seiner alleinerziehenden Mutter Chantale (Anne Dorval).



Die beiden höchst unterschiedlichen Charaktere geraten immer wieder aneinander. Hubert ist überfordert von seinen Gefühlen. Während er seine Mutter oft genug hasst, so würde er sie doch auch immer verteidigen. Nachdem ihre Streitigkeiten immer häufiger eskalieren und Hubert zuerst zu seiner Lehrerin und später zu seinem Freund Antonin flieht, wird er von seinen Eltern auf ein Internat geschickt.

Diese – zugegeben auch zunächst unspektakulär erscheinende – Geschichte ist deswegen so berührend, weil sie aus erster Hand aufgeschrieben wurde. Kein alternder Drehbuchautor war am Werk, sondern ein 16-Jähriger. Beziehungsweise: ein 16-Jähriger mit ganz schön viel Ahnung von glaubhaften Dialogen und einem Sinn für Ästhetik, der sich auch später in der Montage getraut hat, ein wenig herum zu experimentieren. Wenn ich’s zuvor noch nicht war, spätestens seit dem Abspann seines Erstlings bin ich bedingungslos Fan.

Verliebtheitsphase 2:
An nichts anderes mehr denken können

Weiter ging es dann mit dem dritten Film, »Laurence Anyways« (2012). Mein Dolan-Favorit und überhaupt einer der großartigsten Filme. Zum einen, weil er Ende der 80er bis Ende der 90er spielt und einen dementsprechend überragenden Soundtrack vorweisen kann (Visage! Duran Duran! Depeche Mode! Und der beste Song der Welt von Kim Carnes!), zum anderen, weil ich noch in keinem anderen Film eine so intensive und glaubhafte Liebesgeschichte gesehen habe. Laurence ist seit zwei Jahren mit Fred zusammen und eröffnet ihr, dass Laurence selbst eine Frau ist. Sie wollen Laurences Transition gemeinsam durchstehen, scheitern, treffen sich Jahre später und in jeweils neuen Beziehungen steckend wieder.



Ich wiederhole nochmal: die Handlung setzt in Dolans Geburtsjahr ein. Trotzdem wirkt es nie platt, nie wie eine verzerrte Darstellung dieser Zeit, und die Kostüme sind zudem der Oberknaller. Die Mischung aus langen Dialogszenen, Verfremdungsmomenten (einmal etwa fliegt Laurence ein Schmetterling aus dem Mund) und einer Bildsprache, die sofort in ihren Bann zieht, macht mich jedes Mal aufs Neue fertig. Im besten Sinne.

Verliebtheitsphase 3:
Kann man eigentlich einen Film heiraten?

Im Sommer 2014 liefen in Deutschland dann sowohl »Sag nicht wer du bist« (»Tom à la ferme«) als auch »Mommy« im Kino. Ersterer, in knapp zwei Wochen abgedreht, galt als »Erholung« vom Großprojekt »Laurence Anyways«. Tatsächlich ist dies der Film, der sich am meisten von allen anderen unterscheidet, er ist ruhiger, eher ein Psychothriller als geballte Farb-, Bild- und Musikexplosion.



Dolan beweist sich wieder als absoluter Könner im Bereich »Show, don’t tell«. Tom (hier auch wieder mal er selbst in der Hauptrolle) besucht Mutter und Bruder seines verstorbenen Freundes auf einem entlegenen Bauernhof. Die Mutter weiß allerdings weder über die Beziehung noch über die Sexualität ihres Sohnes Bescheid. Das Ganze beginnt schon ziemlich gruselig und wächst sich zu einer andauernden diffusen Bedrohung aus, die aber nie so ganz genau benannt wird. Kaputte Familienstrukturen, Abhängigkeiten, und dazu gibt es ganz untypisch einen eher zurückhaltenden Soundtrack.

»Mommy« hingegen überzeugte mich schon vorab mit der Musikauswahl: Oasis (und wenn ich Oasis sage, meine ich tatsächlich »Wonderwall«), Dido, Eiffel 65, Céline Dion, die Counting Crows und Lana Del Rey in einem Soundtrack, das muss man sich erst einmal trauen, könnte man meinen. Aber in all seiner unfassbaren Coolness meint Dolan das nicht ironisch, um Himmels Willen! Er meint es wirklich ernst. Während man Eiffel 65 sonst eher auf Eurotrash-Partys hört, sagt er einfach: Nö, das ist echt ein guter Song. Er wählt ganz bewusst extrem bekannte Lieder, die für den_die Zuschauer_in schon eine Bedeutung haben (könnten), die auf jeden Fall als sehr emotional verstanden werden (I mean, »Colorblind«?!) und so die Wirkung der Szenen nochmal verstärken.



»Mommy« hat wieder eine Mutter-Sohn-Beziehung zum Thema, das scheint Dolan zu beschäftigen. Die Mutter: wieder alleinerziehend, wieder gespielt von Anne Dorval, und dennoch könnte sie sich kaum mehr von der Rolle in »I killed my mother« unterscheiden. Zu Beginn des Films holt sie, Diane, ihren »verhaltensauffälligen« Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) aus einer Einrichtung ab. Er ist hyperaktiv und neigt zu kaum kontrollierbaren Gewaltausbrüchen, die sich mit intensivsten Liebesbekundungen abwechseln. Nach einem besonders heftigen Streit erscheint die traumatisierte Nachbarin Kyla (Suzanne Clément, die übrigens auch die Rolle der Fred in »Laurence Anyways« spielt) auf der Bildfläche, die sich mit Steve und seiner Mutter anfreundet. Absolut verkitschte Höhepunkte wechseln sich mit nüchternen Momenten und knallharter Realität ab. Der Film ist im quadratischen 1:1-Format gedreht, wird aber zweimal ins größere 16:9 aufgezogen. Das ist ein an sich ganz simpler, aber dennoch unglaublicher Effekt, der sich tatsächlich nach Aufatmen anfühlt.

Endgültige Empfehlung

All seine Filme, so sehr sie sich auch unterscheiden mögen, sind auf eigene Art extrem wuchtig und emotional. Teilweise schlittern sie haarscharf am Kitsch vorbei, bloß um im nächsten Moment wieder total abgeklärt, cool und postironisch zu sein. Sie alle erzählen vom Anderssein, vom Abweichen von einer »Norm«, ohne dass diese ominöse Norm je als solche dargestellt wird. Das Anderssein wird im Gegenteil zur gefeierten Normalität. Dolan schafft es außerdem, ganz wunderbare und klischeebefreite Frauenfiguren zu zeichnen. Hierbei ist er, so glaube ich, unter den zahlreichen anderen männlichen Regisseuren, die sich auf dieser Welt so tummeln, ziemlich allein. Eine weitere Seltenheit, die die Arbeit mit immer gleichen Schauspieler_innen betrifft: keine_r von ihnen ist auf eine bestimmte Rolle festgelegt und es wird immer wieder Neues ausprobiert. Mein minimalst regieerprobter Blick huldigt das sehr.

Seine Filme sind nie überladen, aber immer exzentrisch. In keinem Fall sind sie die Art Arthaus, bei der man vor lauter Metaphorik nicht mehr weiß, was eigentlich los ist: Es ist immer eine ideale Mischung aus Authentizität und Verkünstelung. Und habe ich eigentlich sein Händchen für die absolut beste Musikauswahl erwähnt?



Eine Antwort zu “Eine Liebeserklärung an Xavier Dolan”

  1. Mountain_of_Conflict sagt:

    Seine Filme zünden nicht immer für mich, Herzensbrecher finde ich furchtbar selbstverliebt, aber er macht Dinge, die andere nicht probieren, und hat Einflüsse, die immer weniger Regisseure haben. Laurence Anyways ist ein Erlebnis und so viel respektvoller als The Danish Girl.