My Mad Fat TV Revolution
Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Josefine.
Josefine lebt in Berlin und arbeitet in Brandenburg. Wenn sie es sich abends nicht mit Serien gemütlich macht, geht sie ins Theater oder steht selber auf der Bühne.
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Die britische Serie „My Mad Fat Diary“ wurde mir letztes Jahr von mehreren Freund_innen als ein Geheimtipp empfohlen, wohl vor allem weil ich eine Vorliebe für das Comedy-Genre habe. Damals suchte ich nach einer Alternative zu Girls, einer US-amerikanischen Serie über vier Frauen Mitte 20 in New York City – die für mich mittlerweile zu selbstmitleidig, zu sehr auf eine weiße, urbane Bohème zugeschnitten und schlichtweg zu langweilig geworden war.
“My Mad Fat Diary” basiert auf der Autobiografie “My Mad Fat Teenage Diary” von Rae Earl. Die Autorin wuchs Ende der 80er, Anfang der 90er auf und sammelte für diesen Roman, den sie erst mit Mitte 30 herausbrachte, ihre Tagebücher, die sie in ihrer Pubertät verfasst hatte. Für die Fernsehadaption wurden jedoch einige Charaktere, mit Ausnahme von Rae und ihrer Mutter, abgewandelt oder hinzugefügt. Außerdem verändert die Serie das Setting: Die TV-Version verlegt die Geschichte von Rae in die Mitte der 90er. Ein ziemlich cleverer Schachzug – die 90er-Nostalgie inklusive Soundtrack (viel BritPop!) verfehlt ihre Wirkung nicht.
Die Serie dreht sich also um die 16-jährige Rae Earl (gespielt von der großartigen Sharon Rooney), die in Stamford, einer Kleinstadt in Ost-England, aufwächst. “My nickname is Raemundo. I drink pints, I swear, I’m loud, I tell jokes.” (“Mein Spitzname ist Raemundo. Ich trinke Bier, ich fluche, ich bin laut, ich erzähle Witze.”), beschreibt sie sich in einer Episode selber. Sie mag kein “girly girl” sein, obwohl sie weiß, dass ihr Leben damit manchmal einfacher wäre, sie hasst Boybands und verbringt ihre Freizeit am liebsten damit, Platten von Oasis oder The Smiths zu hören oder Tagebuch zu schreiben.
Ihre Welt und Gedanken erleben wir vor allem durch eben dieses Tagebuch, was durch das beliebte Stilmittel der Off-Stimme deutlich wird. Dieser Erzählrahmen macht auch maßgeblich den Humor der Serie aus: Das Tagebuch ergänzt das Geschehen durch Raes absurd-witzige Fantasien und Gedanken mit hohem Identifikationspotential. Oft sind das zahlreiche sexuelle Szenarien mit dem jeweils aktuellen Traumboy oder manchmal alltägliche Situationen, die sie überspitzt. Dies führt natürlich dazu, dass wir sehr selektiv wahrnehmen und Teile der Geschichte ausblenden (kleiner Spoiler: Ende der zweiten Staffel dürfen wir auch mal die Perspektive einer anderen Figur auf das Geschehen miterleben).
Wir steigen in die Serie ein, als Rae nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, in der sie aufgrund selbstverletzenden Verhaltens und Angststörungen mehrere Monate verbrachte, versucht, in ihr altes Leben zurückzukehren. Was an sich schon eine Mammutsaufgabe ist, erscheint im Teenageralter als eine fast unmögliche Herausforderung, gerade weil Rae ihre Krankheit verheimlichen will und ihre Mutter verbreitet hatte, Rae sei vier Monate in Frankreich gewesen. Rae kommt zurück in ein Zuhause, in dem ihre alleinerziehende, passiv-aggressive Mutter ihr wenig Luft zum Atmen lässt und in einen Alltag, in dem ihr neuer Psychotherapeut Kester ihr Weisheiten zu vermitteln versucht, die sie nicht versteht oder die sie zunächst für Blödsinn hält. Über ihre ehemals beste Freundin Chloe gelingt ihr jedoch der Einstieg in eine Clique, “The Gang”, die für sie mehr und mehr zum Mittelpunkt ihres Lebens wird. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie Freund_innen gewinnt, Parties feiert und sie mit ihren ständig um Sex kreisenden Gedanken umgehen muss – aber auch wie sie ihre regelmäßigen Therapiestunden absolviert oder sich bei ihren alten Freund_innen aus der Psychiatrie Rat holt.
Eine Teenager-Serie, die in den 90ern spielt, der Zugang einer Figur durch ihr Tagebuch, ein wirklich guter Soundtrack: Das ist alles sehr nett, aber nichts Neues. Das Neue und für mich persönlich Revolutionäre ist, dass wir das alles aus der Perspektive einer als dick_fett gelesenen Hauptfigur erleben. Und das passiert, ohne dass die Serie Rae zur Witzfigur degradieren muss und ohne dass sie in eine klassische Dickenklischeerolle (wie z.B. die bemitleidenswerte Verzweifelte, oft auch in Verbindung mit Klassismus) gepresst wird.
Stattdessen haben wir an Diskriminierungserfahrungen und Body Issues teil, die Teil ihres Alltags sind: Wenn Rae mit ihren schlanken Freundinnen einen Unterwäscheladen besucht, die hübschen Modelle bewundert, bis die Verkäuferin ein passendes Modell in ihrer Größe bringt, was natürlich sehr schlicht und langweilig ist. Wenn ihre Freund_innen gemeinsam schwimmen gehen und sich bei ihr die blanke Panik breitmacht. Wenn ein Junge sich in sie verliebt und sie sich fragt, was mit ihm los ist, dass er gerade sie gut findet.
Und das wirklich großartige dabei ist, dass Raes Diskriminierungserfahrungen, zumindest in den meisten Fällen, sich nicht darin widerspiegeln, wie ihre Freund_innen auf sie reagieren: Ihr Körper ist dort, abgesehen von ihrer oft nervigen besten Freundin Chloe, nie Thema, sondern ausschließlich ihre temperamentvolle Persönlichkeit. Fast ein wenig zu sehr Idealzustand, wie eins meinen könnte.
Der zweite Punkt, der mich an der Serie wirklich beeindruckt, ist die Darstellung von psychischen Krankheiten. Raes Angstzustände und ihr selbstverletzendes Verhalten bestimmen nicht unser Urteil über sie, sondern eher ihr Auftreten gegenüber Freund_innen und Familie. Die Inszenierung ihrer Krankheit durch sparsam eingesetzte visuelle Effekte und Flashbacks hilft uns, ihre Handlungen besser zu verstehen, aber das war es dann auch schon. Zudem treffen wir in der Serie auf viele gebrochene Figuren, die nicht klinisch krank sind, sodass Raes “Madness” eine erfrischende Relativierung erfährt: Da haben wir ihren Psychotherapeuten, den sie einmal vollkommen aufgelöst in seiner Wohnung vorfindet, ihre Mutter, die eine absurde Diät nach der anderen ausprobiert oder ihre Freundin Chloe, die ihr Selbstbewusstsein ausschließlich aus der Bestätigung durch Männer aufbaut. Niemand in “My Mad Fat Diary” hat das eigene Leben so richtig im Griff, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick so aussieht.
Doch die Serie hat auch einige nicht übersehbare Schwächen: Die mangelnde Repräsentation von People of Colour mag vielleicht darin begründet sein, dass sich im County Lincolnshire, in dem die Serie spielt, etwa 95% der Bevölkerung als “weiß” identifizieren, was für Großbritanniens Verhältnisse eher ungewöhnlich ist. Umso ärgerlicher ist aber, dass einer der wenigen People of Colour – Karim, der Freund ihrer Mutter – vor allem in der ersten Staffel hauptsächlich durch seine illegale Migrationsgeschichte charakterisiert wird. Hier rutscht die Serie dann doch leider in eindimensionale Darstellungen, was sie an anderer Stelle vermeiden konnte. Auch dramaturgisch irritiert die Serie zuweilen: Gegen Ende der Staffeln erreicht sie einen verkrampften Drang zum Happy End, der etwas konstruiert wirkt. Das tut gut, wenn eins monatelang auf den Beginn einer neuen Staffel warten muss, wirkt aber nicht stringent bei den charakterlichen Entwicklungen einiger Figuren. Eindimensional sieht es auch bei LGBT-Perspektiven aus – über die oft genutzte TV-Konvention des schwulen, besten Freundes geht die Serie leider nicht hinaus.
Trotz allem ist “My Mad Fat Diary” die Serie, die ich vielleicht zwölf Jahre früher gebraucht hätte. Denn die Hauptfigur, mit der ich mich gut identifizieren kann – und ich glaube, das noch nie bei einer fiktionalen Figur in diesem Ausmaß getan zu haben – trifft auch trotz oder wegen ihrer “Andersartigkeit” auf Akzeptanz und Liebe, für die sie manchmal gar nicht kämpfen muss, sondern die sie selbstverständlich bekommt. Das macht Hoffnung. Mein 27-jähriges Ich bedankt sich trotz der Verspätung für diese kleine Perle im Fernsehen.
“My Mad Fat Diary” wird vom britischen Privatsender Channel 4 produziert, im Februar/März diesen Jahres wurde die zweite Staffel (à 7 Episoden) ausgestrahlt. Noch ist unklar, ob es eine dritte Staffel geben wird.
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Übrigens: Ihr könnt dafür sorgen, dass Kleinerdrei für Texte wie diesen den diesjährigen Grimme Online Award erhält. Wir freuen uns sehr, wenn ihr hier für uns abstimmt. <3
„Trotz allem ist “My Mad Fat Diary” die Serie, die ich vielleicht zwölf Jahre früher gebraucht hätte.“
…geht mir genauso.
Schöner Beitrag, danke!
Hab angefangen die Serie zu gucken, nachdem ich deinen Beitrag gelesen hab. Gefällt mir (mit den von dir genannten Einschränkungen)sehr gut und Sharon Rooney ist einfach der Hit!
Ist für mich allerdings keine Serie, die man entspannt zurück gelehnt gucken kann und wer Probleme mit Essstörungen und_oder Autoaggressionen hat(tte), für den_die kann sie ganz schön triggern. ‚
Zum Glück fängt einen der fantastische Soundtrack schnell wieder auf!
Super Tip, vielen Dank :)
Danke, Josephine, dass Du diese Serie in mein Leben gebracht hast! Zwar auch bei mir gute 10 Jahre „zu spät“, aber das hat nicht geschadet – habe beide Staffeln in zwei Tagen durchgeguckt ;-) und hoffe auf eine Fortsetzung. Vielen Dank für die Rezension.