Hauptsache raus! (1): Berlin
Wenn Eltern aus dem Havelland ihren Kindern mal ein Pferd zeigen wollen, gehen sie nicht mehr in irgendeinen läppischen Zoo, sondern sie setzen sich den Nachwuchs auf den Schoß und fahren Richtung Berlin: Unter den Linden. Dort ist Sonntag das erlaubt, was im Rest der Stadt seit geraumer Zeit vorbei ist: die Fortbewegung auf Pferdekutschen, deren Namen ebenso klangvoll wie schwachsinnig sind. “Alt Berliner Kutschenbetrieb” steht auf solchen Gefährten. Oder: “Fritzens Räder-Molle”. Eine von den beiden Bezeichnungen habe ich mir ausgedacht, aber es könnte genausogut stimmen, denn beim Thema “preussisches Mimikry” nehmen sich die Fahrerinnen und Fahrer in ihren samtenen Gehröcken und ihren Zylinderhüten nichts. Ich persönlich fände ja den Anblick von Pickelhauben noch sinnstiftender für diese Art von Fortbewegung, könnte mir auch vorstellen, dass sie dem bundesdeutschen Ideal der Behelmung von Kraftfahrzeugführern mit der Birne im Wind entgegenkommen. Aber die falschen Preussen dürfen auch ohne Helm fahren. Das ist dann für die erwähnten Kleinkinder besonders schön, sie haben dann noch zusätzlich zu den vor sich hin trottenden Pferden was zum Draufzeigen, wenn Papa im Schritttempo neben der Kutsche herfährt, in der Menschen in Funktionskleidung sitzen, auf der hinten “Karateclub Ochsenstadt” steht.
Arm, aber langsam
Das Kind darf auch ganz lange dem Pferd zuwinken, so lange, bis es sich ein bisschen erschreckt, weil die Tante im Auto hinter Papa nach 15 verdammten Minuten im Schritttempo hinter der Karateclub-Kutsche und einem Fiat Panda mit Kleinkind ohne Kindersitz auf dem Beifahrersitz auf die Hupe drückt. Sie hatte sich eine Fahrt durchs Zentrum der Hauptstadt Deutschlands nämlich irgendwie anders vorgestellt. Schneller zum Beispiel.
Die Tante war wohl länger nicht mehr dort. Sonst wüsste sie, dass Berlin Mitte schon länger auf das Prinzip “Entschleunigung” setzt. Da wäre zum Beispiel die Baustelle in der Invalidenstraße, die es schon gab, als die Tante noch studierte – vor vielen Monden. Den Studienabschluss, den die Tante damals machte, gibt es seit Jahren nicht mehr, viele der Restaurants und – machen wir uns nichts vor – Schlecker-Märkte, in denen sie damals in der Gegend manchmal ihr Mittagessen kaufte, sind längst verschwunden. Sie wichen Einrichtungsläden, in denen schiefe Regale stehen, die mehr kosten, als die Tante im Monat verdient. Aber die Baustelle in der Invalidenstraße, die gibt es noch. So muss das damals mit den Pyramiden von Gizeh gewesen sein, denkt die Tante manchmal, wenn sie an der Baustelle im Stau steht. Nur, dass man von den Pyramiden irgendwann mal etwas gesehen hat.
Google: Zen-Meditation
Überhaupt, Berlin Mitte und seine Baustellen. Kommen Sie als Tourist, kann ich Ihnen nur raten: Nehmen Sie das Rad. Vor allem, wenn Sie das letzte Mal vor 20 Jahren auf einem gesessen haben und daheim auch die 100 Meter zum Bäcker lieber das Auto nehmen – das gute Stück muss ja mal ausgefahren werden. Nichts erfreut Autofahrer in Berlin Mitte mehr als Radfahrer, die auf durch Baustellen verengten Fahrbahnen versuchen, sich daran zu erinnern, ob das Rad nun einen Rücktritt hatte oder nicht und ob es bei Stillstand schaltet oder in der Fahrt. Am schönsten ist es dabei, wenn sie versuchen, nicht den Anschluss an ihre Gruppe zu verlieren – weithin erkennbar an den identischen Jacken in Signalfarben und Beflockung.
Wer das jetzt liest und sagt: Man kann ja auch auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen, von dem möchte ich die Adresse des Zen-Klosters haben, in dem ich mich auf so etwas vorbereiten kann. Letzten Sommer war es die Nord-Süd-Verbindung der S-Bahn, die durch eine Baustelle am Anhalter Bahnhof unterbrochen wurde, dieses Jahr ist es die Ost-West-Trasse, mit Liebe zu uns gebracht von den Machern des Klassikers “2 Jahre Sperrung der U6”.
Irgendwo habe ich gelesen, diverse Kriege haben die Berliner S-Bahn nicht gestoppt, aber die Sparmaßnahmen unter der Ägide der Deutschen Bahn. Weil das wahrscheinlich nur Polemik ist, wird die Deutsche Bahn aller Voraussicht nach auch die neue Ausschreibung des Betriebs der S-Bahn Berlin gewinnen. Schließlich hat ihre kluge Investitionspolitik zu großartigen Ergebnissen wie dem großen Winterfail 2009 und 2010 geführt. Anlässe, bei denen Menschen aller sozialen Schichten zusammenkamen, um am Bahnhof zu frieren, weil nix fuhr oder – schlimmer – nur Züge aus Bayern. Wäre ich geschickter Stadtmarketing-Mensch, würde ich das als Event verkaufen. Und vielleicht einfach ein paar Kutschen vor die Bahnhöfe stellen. Fahren die Züge dann wieder, lassen sich dort auch mühelos Kutschen integrieren. Also, Teile davon:
P.S. Dies ist der erste Teil einer in loser Folge erscheinenden Reisekolumne. Ich reise eher volksnah, also zum Beispiel im Zug nach Celle statt in der Business Class nach Brisbane. Hier werde ich regelmäßig über meine Beobachtungen am Wegesrand schreiben. Im Zug geht das übrigens nicht – vom Lesen und Schreiben wird mir da schlecht. Ich muss Sie also quasi anstarren und belauschen. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig.
Raus aus Mitte, das würde ich sofort unterschreiben. Ich bin vor eineinhalb Jahren vom Rhein hier in die Stadt gezogen und Mitte ist für mich nach wie vor ein Graus, egal ob zu Fuß, mit dem Rad oder den Öffis. Mit dem Auto fahr ich nur im Notfall oder unter Zwang rein.
Aber es gibt auch schöne Ecken in Berlin, die sich viel stressfreier erkunden lassen. Ans Tempehofer Feld kommt man mit der Ringbahn, die eigentlich recht zuverlässig fährt, wenn nicht grad jemand versucht über die Stromschienen abzukürzen. Oder du läufst die schönen Spreekanäle in Kreuzberg ab oder durch den Trödelmarkt am Mauerpark. Da kann’s dann aber bei gutem Wetter wieder recht voll sein und man kommt nur im Schleichgang voran. Ist aber auch nicht schlecht, mehr Zeit zum gucken.
Ich habe ja eher so das Problem, dass ich ganz häufig durch Mitte durch muss. Mit dem Fahrrad. Vorgestern bin ich aus Versehen mit dem Rennrad durch einen Pferdehaufen gefahren. Spoiler: wouldn’t do again.