Shalalalala, Erotica! (4) – Acht Dinge

Foto , CC BY-SA 2.0 , by S. Carter

Es gibt ein paar Dinge, die wahnsinnig gut daran sind, eine vierzehntägige Sex-Kolumne zu haben. Dazu zählt zum Beispiel, dass sich fremde Menschen besorgt erkundigen, ob mit meiner Sexualität alles in Ordnung sei; dass mich weniger fremde Menschen fragen, wann wir mal wieder Sex haben; dass ich noch häufiger über Sex reden und schreiben kann als ich ohnehin daran denke. Und überhaupt wollte ich ja immer schonmal eine Sex-Kolumne haben. So.

Es gibt aber auch eine Sache, die an einer Sex-Kolumne bisweilen etwas störend ist, und zwar: dass es eine Sex-Kolumne ist.

An sich würde ich Ihnen nämlich nun wahnsinnig gerne etwas Schönes, oder wenigstens irgendwas über Sex erzählen, schließlich sind wir dafür ja alle hier. Das wird heute aber nicht gehen, und ich sage Ihnen gleich, warum: ich habe nämlich keine Lust.

So. Gut, ich gebe zu, es ist ja eigentlich der Job einer Autorin, das im Griff zu haben, sowas eben auszublenden, den Job zu machen, und der Leser_innenschaft eine nette Geschichte zu liefern. So läuft das normalerweise. Aber das geht heute einfach nicht. Eben weil ich keine Lust habe. Und bevor mich jetzt wieder besorgte Nachfragen erreichen: besten Dank, mit meinem Sexualleben ist alles mehr als in Ordnung. Erst vor sehr wenigen Tagen hatte ich wirklich sehr guten Sex auf … ach, so genau wollten Sie es gar nicht wissen? Das trifft sich sehr gut. Denn neben dem Lustproblem haben wir auch noch ein Zeitproblem. Seit Erscheinen der letzten Folge dieser kleinen Serie war hier nämlich so ein bisschen was los. Und deshalb gibt es etwas, worüber ich heute viel lieber mit Ihnen reden möchte: über einige der Dinge, die mich in den vergangenen Tagen beschäftigt haben. Und zwar:

8 Dinge, die in dieser Woche besser oder schlechter waren als Sex

BESSER ALS SEX

1. Vulva-Kuchen

“‘Peniskuchen-Affäre‘ bringt Marx zu Fall” war ja definitiv eine meiner liebsten Schlagzeilen der letzten Wochen. Vor allem weil ich immer noch daran denken muss, wie das wohl aussieht, wenn man versucht, jemanden mit einem sehr großen Peniskuchen umzuhauen. Andererseits, mal ehrlich: Peniskuchen standen ja ganz offensichtlich schon auf NPD-Parties rum, und wenn das kein Zeichen ist, dass sie KOMPLETT out sind, dann weiß ich auch nicht. … Oh. … Wie, Sie haben extra vor Jahren eine wunderschöne Peniskuchen-Backform angeschafft?

Das tut mir persönlich sehr leid für Sie. Aber, seien Sie nicht traurig, ich hätte da noch etwas für Sie. Denn: das einzige, was man mit Peniskuchen-Formen noch anstellen kann, ist, schnellstmöglich alternative Verwendungsmöglichkeiten dafür zu finden. Bitte sehr, viel Spaß mit diesen zauberhaften Vorschlägen. Vielleicht starten Sie mit dem Leuchtturm? Leuchttürme sollen ja in sein, habe ich gehört.

Nachdem der Peniskuchen also spätestens jetzt endgültig erledigt ist, möchte ich an dieser Stelle sagen: ein Hoch auf den Vulva-Kuchen!

(Bild: Mommyish.com)

Zwei ganz wundervolle Galerien mit Vulva-Kuchen, -Torten und -Cupcakes finden Sie unter diesem sowie diesem Link. Falls Sie gerne nochmal nachlesen möchten, was genau jetzt eigentlich der Unterschied zwischen Vulva und Vagina ist: die Vulva ist das sichtbare weibliche Genital, die Vagina sind die inneren Sexualorgane (und für eine ausführlichere Erklärung folgen Sie einfach diesem Link).

Und weil diese Kolumne auch allen Leser_innen sehr gerne mit nützlichen Tipps und Ratschlägen zur Seite steht: falls Sie zum nahenden Wochenende noch eine Back-Anregung für Ihr Kaffeekränzchen im trauten Familienkreis oder mit Freund_innen brauchten – gern geschehen.

2. Den Unterschied zwischen einem Flirt und sexueller Belästigung kennen

Ein ehemaliger Spitzenvorsitzender einer während der letzten Legislaturperiode regierenden Partei hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem er ENDLICH auch einmal zu Wort kommt. Das wurde ja aber auch Zeit! Also, wirklich!!Einself!!
Für alle, die nicht einfach nur ein Buch veröffentlichen, sondern sich tatsächlich mit sich selbst und ihrem Verhalten auseinandersetzen und zum Beispiel gerne wissen möchten, was denn nochmal der Unterschied zwischen einem Kompliment oder einem Flirt und sexueller Belästigung ist, gibt es zum Beispiel hier diese wunderschöne Handreichung. Für alle anderen, die das schon längst wissen und gut machen: <3!

3. Mathematik

“Mathematics, rightly viewed, possesses not only truth, but supreme beauty — a beauty cold and austere, without the gorgeous trappings of painting or music.” Bertrand Russell (“Richtig betrachtet wohnt der Mathematik nicht nur Wahrheit, sondern äußerste Schönheit inne – eine kalte, nüchterne Schönheit, ohne den umwerfenden Prunk der Malerei oder Musik.” )

Vor ein paar Wochen fiel mir auf, dass ich immer mehr an Mathematik hing als sie an mir als ich dachte. Und dann sah ich dieses großartige Video. Da musste ich wieder daran denken, dass ich Mathematik schon ziemlich sexy finde. Ich bin nicht gerade brillant in allem, was damit (mit Mathematik, nicht mit Sexyness) zu tun hat, aber genau deswegen jetzt und hier – eine Hymne an die Schönheit:

4. Umarmungen

Umarmungen sind eine wirklich gute Sache. Vorgestern lag ich spät abends in meinem Bett und wollte schlafen, konnte aber nicht. Ich war wahnsinnig müde und gleichzeitig aufgedreht, ein Gefühl wie Jahrmarkt im Kopf und zu viel Zuckerwatte im Bauch. Und alles, wonach ich mich in der Situation wirklich gesehnt habe, war eine Umarmung. Keine von diesen Umarmungen, bei denen 30 Zentimeter Abstand zwischen den Umarmenden sind und man sich möglichst nicht berührt (die “Luftumarmung” also, die Analogie zum Luftkuss). Auch keine von diesen Umarmungen, bei denen man sich gegenseitig auf den Rücken klopft, bis eine_r von beiden Beteiligten keine Luft mehr bekommt. Nein, – eine von diesen Umarmungen mit jemandem, den man sehr mag. Bei denen man die Augen zumachen und einfach so stehenbleiben kann, für einen Moment oder zwei. Bei denen man wahrscheinlich den Geruch einer Jacke oder eines T-Shirts oder eines Stücks Hals einatmet, was aber auch egal ist, weil man es eh nicht bemerkt. Weil man so sehr einfach in diesem Moment ist, in diesem Augenzumachen zwischen Armen, dass man alles andere gar nicht mehr wahrnimmt. Und die dafür sorgen, dass man selbst dann, wenn man sich aus der Umarmung und voneinander löst, etwas davon mitnimmt. Ein Gefühl, als ob alles, was so in einem herumbraust, ein bisschen ruhiger braust, ein wenig kompakter geworden ist. Umarmungen sind großartig. Vielleicht ist eine Umarmung bisweilen so etwas wie eine emotionale Komprimierung.

Aber kommen wir nun zu Teil zwei, und zwar der Kategorie …

SCHLECHTER ALS SEX

5. Die Kündigungen der Hebammen

Auch wenn die Proteste der Hebammen scheinbar erfolgreich waren – gesichert ist noch gar nichts. Immer noch geht es um ihre dringend notwendigen Berufshaftpflichtversicherungen, deren Prämien erst enorm stiegen, die wenigen Angebote dazu de facto untragbar wurden und schließlich eine existenzbedrohende Situation für die Hebammen entstand. Und selbst wenn es inzwischen zu Verhandlungen kam – der buchstäbliche Preis dafür sind Prämiensteigerungen, und letztendlich erreicht wurde nur ein Aufschub des Problems um ein Jahr. Ein Jahr, durch das die Versicherungen nun “Zeit gefunden [haben], mit der Politik eine Lösung zu finden”. …

6. Herzbluten

Ja, Herzbluten oder, um genauer zu sein: Heartbleed. Schlimm, schlimm, schlimm. Aber Sie alle haben ja sicherlich schon alle Services überprüft, die Sie so nutzen, geschaut, ob dort das Problem vorlag und, wenn ja, behoben wurde, und dann Ihre Passwörter geändert, gell? Falls nicht und / oder falls Sie sich jetzt fragen, was mein emotionaler Zustand mit Ihren Passwörtern zu tun haben soll, möchte ich Ihnen gerne diesen Text ans Herz legen.

7. “Ich denke nicht in Mann-Frau-Kategorien”

Da führt eine Agentur “transparente Gehälter” ein und dann verdienen die Frauen im Durchschnitt immer noch weniger als die Männer, was aber daran liegt, dass sie einfach die falschen Berufe haben. Nämlich, konkreter, daran, dass sie keine Entwicklerinnen sind. Ich kann dazu gerade nichts weiter sagen, ich muss schreiend im Kreis laufen.

8. Und wenn wir gerade dabei sind, schreiend im Kreis zu laufen …

Ich arbeite seit einigen Jahren hauptberuflich in der Tech-Branche. Das ist an sich eine sehr schöne Sache und ich mag meinen Beruf und sehr viele Menschen, die dort arbeiten, wirklich gerne. Es ist nur bisweilen (wie viele andere Arbeitsumfelder auch) ein etwas schwieriger Bereich (ich habe bisweilen auch den Eindruck, explizit diese Branche ist teilweise womöglich noch ein Stück kaputter als andere). Dafür gibt es einige Gründe, und es führt zu wahnsinnig vielen Problemen – darunter: Sexismus bei einem ehemaligen Vorzeige-Unternehmen; ein großes, bekanntes Open Source-Projekt, das jemanden zum CEO (und damit Aushängeschild) macht, der bekanntermaßen Geld dafür gespendet hatte, nur noch heterosexuelle Ehen anzuerkennen (er ist inzwischen zurückgetreten); ein anderes Open Source-Projekt, in dem ein Fehler passiert und jemand persönlich an den Pranger gestellt wird; die große Diskussion, welche Art von Arbeit überhaupt im Tech-Bereich von Relevanz ist; oder die Frage, Kandidat_innen welchen Geschlechts bei Bewerbungen bevorzugt werden.

Das hat mich in den vergangenen Wochen noch mehr beschäftigt als es das sonst ohnehin schon tut. Genauer gesagt hat es mich so sehr beschäftigt, dass ich hier nicht einfach eine Sex-Kolumne schreiben und so tun konnte, als wäre nichts.

All diese großen Diskussionen haben eines gemeinsam: sie haben sehr viel zu tun mit der Kultur in diesem Bereich. Und dieses Thema liegt mir aus mehreren Gründen sehr am Herzen.

Der eine Grund ist, dass Technologie und deren Weiterentwicklung immer relevanter wird, immer stärkere Auswirkungen auf uns und unser Verhalten hat und letztendlich in unser aller Leben eingreift. Egal ob wir im Tech-Bereich arbeiten oder nicht, egal ob wir das wollen oder nicht – und selbst wenn nicht, eine Abschottung dagegen wird immer unmöglicher. Technologie wirkt darauf, wie wir arbeiten, wie wir mit anderen kommunizieren, wie wir unsere Zeit verbringen. Und bei der Frage, welche Kultur in diesem Bereich herrscht, geht es letztendlich darum, wer darin arbeitet und final bestimmt, wie diese Technologie aussieht. Wer entscheidet, wie diese Anwendungen technisch entwickelt werden, wie sie aussehen, wer von uns sie auf welchen Geräten benutzen kann, was wir sehen, wenn wir sie benutzen (oder sie uns wie Facebook nur noch das anzeigen, was sie selbst für relevant halten), ob sie veränderbar oder wenigstens einsehbar sind oder ob wir geschlossene Systeme (wie beispielsweise iPhones) nutzen, auf deren Funktionsweise wir keinerlei Einfluss haben. Letztendlich also geht es darum, wer bestimmt, was wir wann womit tun können. Die finale Frage ist also, wer Macht über uns hat. (Und, nein, zurück in den Wald gehen und nur noch dort kommunizieren ist keine Antwort auf diese Frage, sondern ein Ablenkungsmanöver.)

Der zweite Grund dafür, weshalb mich dieses Thema so bewegt, ist, dass ich glaube, dass dieser Bereich auch immer stärkere Auswirkungen auf andere Arbeitsweisen und Arbeitsfelder haben wird. Die voranschreitende Technologisierung und gleichzeitig die Art, wie hier gearbeitet wird, die Art, wie Firmen aufgezogen werden und die Hypes, die kommen und gehen, werden auch immer mehr Konsequenzen für ganz andere Branchen habe. Das fängt beim Einzelhandel an, der von Unternehmen wie Amazon immer weiter verdrängt wurde und wird, und geht weiter bei Geräten, die wir in der Hosentasche mit uns herumtragen und die regelmäßig unsere Gesundheitswerte verschicken und wir einen Anruf erhalten, wenn etwas ungewöhnlich ist. Und ich glaube, dass all das zu wichtig ist, um die Technologie-Branche kulturell gegen die Wand fahren zu lassen.

Hinzu kommt noch, dass ich weiß, wie vergiftet diese Kultur an viel zu vielen Stellen ist – wie misogyn, homophob, sexistisch, rassistisch, wie wenig bereit zu überhaupt einem Gedanken an Inklusion; wie Menschen fertig gemacht werden, erst recht, wenn sie Missstände anprangern, und wie völlig unmöglich es für viel zu viele ist, dort zu arbeiten. Nicht, weil sie nicht die Fähigkeiten dafür hätten. Sondern weil das kein Umfeld ist, in dem Arbeiten für sie möglich ist.

Die Sache ist: es ist wichtig, dass wir (und damit meine ich insbesondere uns, die wir in diesem Bereich tätig sind) über diese Themen sprechen. Diskussionen führen, und vor allem hart an uns und daran arbeiten, das zu verändern und besser zu machen. Es ist essentiell, dass wir ein besseres Umfeld schaffen, und zwar für alle Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Behinderungen. Ein inklusives Umfeld, in dem Menschen, ihre Meinungen und ihre Arbeit respektiert wertgeschätzt werden. In dem sie sich sicher fühlen können.
Ja, das ist schon das ganz große Kino, was ich hier auffahre, die große Idee davon, wie das alles sein könnte, wenn doch nur … . Und ja, das ist der ganz große Konjunktiv. Aber ich glaube, dass wir es nicht unter diesem großen Kino machen können. Dass diese Beschreibung ja noch nicht einmal ein Ideal von einer perfekten Welt ist, sondern lediglich deren billiges Abbild – das, was längst Selbstverständlichkeit sein sollte. Denn von dieser Idee sind wir in vielerlei Bereichen noch weit entfernt.

Ich glaube auch, dass das möglich ist. Denn: für sehr viele Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, gehört der Kampf darum, die bestehenden Strukturen zu verändern oder neue, bessere zu schaffen, zum Tagesgeschäft dazu, und sie leisten in vielen kleinen Projekten und Unternehmen einen wesentlichen Beitrag dazu, dass sich Dinge ändern. Aber so schnelllebig diese Branche in ihrer technologischen Weiterentwicklung ist: kulturell ist sie eine schwere Dampflok. Und die zu einer Richtungsänderung zu bewegen, ist ein verdammt großes Stück Arbeit.

Das ist der eigentliche Grund, warum diese Ausgabe meiner Kolumne sich um alles dreht, aber nicht so unbedingt um Sex. Und das ist auch der Grund, warum ich an sich zwar ein Zeitproblem habe. Aber es gibt manchmal einfach Themen, die sind so wichtig und beschäftigen einen so sehr, dass man sich dann trotz alledem hinsetzen und einen langen Text dazu schreiben muss.

Und nun,

Zur allgemeinen Beruhigung
hier noch ein Gif mit einem niedlichen Katzenbaby:

Was auch immer Sie tun: ich wünsche Ihnen eine ruhige, angenehme Woche. Und verschicken Sie doch mal ein Kleinerdrei <3 an eine Person, die Sie mögen. Ein bisschen Kleinerdrei tut immer gut.

In diesem Sinne: wir lesen uns.

7 Antworten zu “Shalalalala, Erotica! (4) – Acht Dinge”

  1. TheRealFoo sagt:

    Vielen Dank für dein tolles heutiges Posting! Und da ich jetzt weiß, daß du normalerweise über Sex schreibst, komme ich womöglich wieder ;)

    Ich stimme dir in fast allen Punkten von 5-8 zu, und #8 ist für mich der wichtigste, weil er nicht so schnell vorbei ist. Aber bei #7 muß ich dir widersprechen.
    Heute hatte ich Handwerker im Haus. Ich bin ziemlich sicher, daß die Kistenträger weniger bezahlt bekommen als der Handwerkergeselle. Dabei ist m.E. egal, welches Geschlecht die Leute haben. Unterschiedliche Tätigkeiten unterschiedlich zu bezahlen, halte ich für richtig.

    Wenn eine Entwicklerin bei gleicher Tätigkeit weniger bekäme als ein Entwickler, dann sähe ich da auch eine Ungleichbehandlung. Aber Äpfel und Birnen vergleichen? Ich verstehe nicht, womit du da ein Problem hast.

    Daß relativ wenige Frauen Entwicklerinnen werden, hat verschiedene Gründe, und einige davon sind vielleicht gesellschaftlich bedingt – andere aus den Entscheidungen jeder einzelnen. Und die sollte man auch zulassen.

    Sobald du mit dem Sport fertig bist… kannst du dann erklären, welches Problem du bei #7 hast? Stichworte reichen womöglich.

    • Miel sagt:

      Danke erstmal für das Lob :)

      Und nun zu deiner Frage … Ich versuche, das mal aufzudröseln. Meine Meinung und das „schreiend im Kreis laufen“ zu dem verlinkten Interview mit dem Geschäftsführer dreht sich um folgende Kernpunkte:

      #1 transparente Gehälter
      Finde ich grundsätzlich eine gute Sache. Kann man diskutieren, aber nicht das schlechteste. Zwar imo jetzt auch nicht die „große Revolution“, von der der Artikel spricht, aber das ist auch nicht so wild (die hat ja auch die „Zeit“ behauptet, nicht der Interviewte).

      #2 die Prämissen
      „Was brauche ich? Was verdiene ich auf dem freien Markt? Was verdienen meine Kollegen? Und: Was kann die Firma sich leisten?“ – Auf dieser Basis sollten die Mitarbeiter_innen offenbar ihr Gehalt bestimmen. Klingt erstmal okay. Hier der erste Kritikpunkt: a) der freie Markt – der freie Markt ist im Moment sehr gut zu ganz wenigen Menschen. b) was Kolleg_innen verdienen, ist ebenso ein ziemlich schlechter Ratgeber. Zum einen, weil das kein guter Vergleichswert ist, besonders, wenn alle Gehälter neu verhandelt werden (wo ist da die Ausgangsbasis? Welche Grundannahme treffe ich? Wer „verdient“ im Wortsinn und monetären Sinn wie viel?). Zum anderen, weil das wieder nach Rechtfertigungen schreit – wer verdient mit welcher Berechtigung mehr?

      #3 die Umsetzung
      „ein Drittel [aller Mitarbeiter_innen] hat sich eine Gehaltserhöhung verordnet“ und von diesem Drittel „sind über 80 Prozent Männer“, ergo 26,67% der Gesamtzahl der Mitarbeiter_innen des Unternehmens haben sich eine Gehaltserhöhung verordnet. So. Und ich frage mich, warum der Großteil davon Männer waren. „Einige“ Frauen haben wohl noch eine Gehaltserhöhung vor der Umstellung bekommen. Schön, wenn sie damit zufrieden waren. Aber ansonsten? Keine weiteren Gründe. Außer:

      #3 „im Durchschnitt verdient die Frau bei uns weniger“.
      Hm. Womöglich wäre spätestens das einmal ein Grund, a) der Frage auf den Grund zu gehen, im Vergleich wozu sie weniger verdient. Und dann sind wir bei dem Punkt, den du angeführt hast – wenn es bei gleicher Qualifikation ist, tadaaaa, Gender Pay Gap, muss ich nicht weiter ausführen. Ich möchte den Fall hier daher auch nicht nur an Entwickler_innen versus „andere
      Mitarbeiter_innen“ aufmachen. Womöglich gibt es ja auch männliche
      Projektentwickler und Designer. Und dann wird es interessant. b) Wäre das ein guter Zeitpunkt, das System zu hinterfragen. Weshalb die Peer Review? Ist das möglicherweise etwas, das Frauen daran hindern könnte, mehr zu verlangen, als sie womöglich wollen? Zur weiteren Lektüre empfehle ich „Women Don’t Negotiate Because They’re Not Idiots“ http://www.huffingtonpost.com/joan-williams/women-dont-negotiate_b_2593106.html und „New York Times publishes a salary negotiation guide for women. Where is the guide for sexist employers?“ http://www.slate.com/blogs/xx_factor/2014/03/28/new_york_times_publishes_a_salary_negotiation_guide_for_women_where_is_the.html . Ich werfe die Links mal in den Raum, nicht, weil ich glaube, dass alles daraus auf diesen konkreten Fall zutrifft, aber weil einige Kernprobleme beim Thema „Unterschiede bei Gehältern zwischen Frauen und Männern“ da ganz gut angesprochen werden.

      #4 „Ich denke nicht in Mann-Frau-Kategorien“
      ist eine wahnsinnig kühne Behauptung, die ich ihm einfach nicht abkaufe. Insbesondere im Kontext mit #3.

      #4b „Mädels“
      Nein. Mitarbeiterinnen sind keine „Mädels“. Im Kontext dessen, dass es hier ganz stark um Leistung und Wertschätzung geht und darum, dass Frauen offenbar weniger bekommen, noch weniger. Das mag noch so freundlich gemeint sein, aber: nein, nein, nein. „Mädels“ geht einfach nicht.

      #5 „Das liegt aber daran, dass wir leider keine Entwicklerin haben und Entwickler eher mehr verdienen.“ Ich finde ja das „leider“ erstmal recht erfreulich, offenbar liegt eine Art Problembewusstsein vor (es gibt übrigens am besagten Markt tolle Entwicklerinnen, die auch bisweilen mal Jobs suchen. Just saying). Das „eher mehr“ halte ich aber für dezent untertrieben. Die Gehälter, die derzeit auf dem Markt für Entwickler_innen gezahlt werden, sind teilweise absurd. No offense: das ist hier keine Neiddebatte. Im Vergleich mit anderen Berufsgruppen hohe Gehälter kann man gut finden, ich finde es eher nicht so gut. Mein Hauptkritikpunkt hier ist aber ein anderer: nämlich, dass von den unter #2 genannten Prämissen offenbar nicht mehr viel übrig bleibt. Weil hier ganz plötzlich doch der Markt der Hauptfaktor ist, der Gehälter bestimmt. Der Ehrlichkeit halber hätten diese Prämissen also eine Gewichtung verdient, die sie offenbar in der Umsetzung hatten.

      #5b So, und jetzt die Kernfrage rund um einen fiktiven Fall: ist bspw. ein_e Designer_in mit 10 Jahren Erfahrung, die elementar bestimmt, wie Endnutzer_innen ein Produkt bedienen können (und damit u.a. auch massiv Einfluss darauf hat, wie viele es langfristig nutzen), weniger wert als ein_e Entwickler_in? Wenn ja, warum? Weil wegen Markt? Weil wegen Kolleg_innen? Weil sich die Firma keine teuren Designer_innen leisten kann? Oder leisten will?

      #6 Die „Karotte“
      die die Mitarbeiter_innen sich angeblich selbst hinhängen. Die aber insbesondere davon bestimmt wird, wie der Markt aussieht, was die Kolleg_innen bekommen, was die Firma sich leisten kann und dann, als einziger persönlicher Faktor, was jede_r Einzelne_r braucht. Damit wird die Verantwortung dafür, die nötige Leistung zu erbringen, die zur Erwirtschaftung der angeblich so sehr von den Wünschen der Mitarbeiter_innen bestimmten Gehälter nötig ist, wieder den Mitarbeiter_innen aufgebunden (die sie ja eh tragen), wobei aber 3 von 4 Prämissen doch gar nicht von ihnen selbst zu beeinflussen sind. Die Esel-Karotten-Geschichte dreht sich hier im Kreis und beißt sich am Ende in die Angel.

      De facto: die Punkte, die ich hier in 7. rausgegriffen habe, waren so die beiden offensichtlichen. Auch wenn ich die Grundidee immer noch erwägenswert finde, sind einfach viele Annahmen, Ideen und Aussagen dazu imo falsch auf ziemlich vielen Ebenen.

      Ich möchte hier den Mitarbeiter_innen der Agentur nicht absprechen, dass sie womöglich glücklich mit alledem sind – wenn dem so ist, schön. Selbst das aber spricht den Fall imo nicht davon frei, kritisiert zu werden.

      P.S.: „Sobald du mit dem Sport fertig bist“ …? Wie kommst du denn darauf?

      • Ich habe mich gewundert, was das Problem bei #5 ist. Deine Antwort verstehe ich so, dass Du es nicht akzeptabel findest, dass man einfach akzeptiert, dass man 1. mehr Entwickler als Entwicklerinnen hat und 2. diese mehr verdienen als z.B. Designer/innen.

        Beide Tatsachen kenne ich als Vertreter der dunklen Seite (d.h. als Arbeitgeber) aus eigener Erfahrung gut. Ich hätte daher den gleichen Satz auch sagen können und wäre dann wahrscheinlich genau so kritisiert worden.

        Aber ich finde, so machst Du es Dir zu einfach. Wir möchten bei uns den Frauenanteil sehr sehr gerne erhöhen und versuchen viel, um die Hürden zu senken und ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Aber selbst wenn wir da alles 100%ig richtig machen, wird es einfach ein paar Jahre dauern, bis sich auch im besten Fall die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt im Allgemeinen und bei uns im Besonderen geändert hat. (Klar, vielleicht hätten wir das von Anfang an anders machen sollen, aber 15 Jahre Vergangenheit kann man nur schwer ungeschehen machen.) Wir haben deshalb (wie fast alle IT-Unternehmen) ein Ungleichgewicht zwischen Entwickler/innen und anderen, weniger gut bezahlten Rollen, und die unglaublich geringe Anzahl an Entwicklerinnen, die es aktuell auf dem Markt gibt – und die sich bei uns bewerben – macht es uns sehr schwer, kurzfristig daran etwas zu ändern.

        Der zweite Punkt – ist es richtig, dass man als Entwickler/in mehr verdient? – ist eine Frage des Marktes. Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass es sich ein Unternehmen leisten kann, alle gleich (und dann natürlich gleich am Maximalwert orientiert) zu bezahlen und in ebendiesem Markt zu überleben. Aber eigentlich ist das auch egal, denn das ist wirklich eine völlig andere Diskussion über den Kapitalismus an sich, die aus meiner Sicht wenig bis gar nichts mit dem Thema Gleichberechtigung zu tun hat.

        • Miel sagt:

          Um es kurz zu machen: ja und ja. Im Prinzip stimme ich mit deinen Argumenten überein. Und ich will auch niemandem absprechen, dass das Zeit braucht, Bewusstsein für die Problematik und Veränderungswillen.

          Und, ja, wir landen wie so häufig bei Gleichberechtigungsdiskussionen nicht nur bei konkreten Fällen und Dingen, die Einzelne ändern können, sondern auch bei großen strukturellen Problemen, Kapitalismus, der Frage, welche Menschen welche Berufe aus welchen Gründen (nicht) ergreifen etc. pp. Und am Ende geht es schlichtweg um die Frage, wie Arbeit entlohnt wird – wer wofür be- / entlohnt wird und warum. Und damit sind wir bei den ganz großen Themen.

          Ich glaube aber schon, dass all das auch noch sehr, sehr viel mit Gleichberechtigung, vor allem aber Diversity allgemein zu tun hat. Ein Mangel an Entwicklerinnen ist ja nicht das einzige strukturelle und kulturelle Problem, das diese Branche hat. Diese Kapitalismusdiskussion können und brauchen wir gar nicht erst zu führen, wenn wir sie nicht auch über Gleichberechtigung und Diversität führen. (Hier mal ein paar Links dazu: „Feminists should think big: Über Feminismus und Neoliberalismus“ http://antjeschrupp.com/2010/02/06/feminists-should-think-big-uber-feminismus-und-neoliberalismus/ und „Feminism isn’t only about equality; it’s about believing that you can alter the status quo“ – Feminism and Anti-Capitalism: A Love Story http://www.feministe.us/blog/archives/2010/08/03/feminism-and-anti-capitalism-a-love-story/ und schließlich dieses Mini-Portrait über Laurie Penny – „Laurie Penny und die Wut – Antikapitalistischer Feminismus“ https://www.youtube.com/watch?v=EqrPRwASZ4k )

          P.S.: Und, übrigens: ich bin auch Arbeitgeberin. In der IT-Branche. Ich kenne das Problem womöglich ganz gut.

          • Verstanden, danke. Ich habe mich bei den Link ein bisschen umgesehen. Da müssen wir uns dann wahrscheinlich einigen, uns nicht zu einigen: Während auch ich manche Dinge – wie z.B. die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen, Rassismus, generell Intoleranz – für unvereinbar mit dem Feminismus im Wortsinne halte, bin ich überhaupt nicht der Meinung, dass man automatisch auch links oder anti-kapitalistisch sein muss. Ein solches Junktim wäre der Sache meiner Meinung nach auch überhaupt nicht dienlich (Ist das schon ein „Tone Argument“? Ich hoffe nicht.)

      • Progger sagt:

        „Der Markt“ heisst einfach Entwickler bekommen viel Geld angeboten, weil sie gebraucht werden und es nicht so viele gibt wie gebraucht werden. Grafiker verdienen unter Umständen ab und zu weniger weil es vielleicht mehr davon gibt (aus verschiedenen Gründen erscheint Grafikdesign als attraktiverer Job als Programmieren) oder nicht so viele gebraucht werden. Z.B. ist es vielleicht einfach weniger Arbeit das Aussehen einer Webseite zu gestalten als deren Funktion zu programmieren. Wobei Top-Designer sicher auch sehr gut verdienen.

        Konkret heisst das, bietet man Entwicklern zu wenig Geld wechseln sie zu Firmen die mehr zahlen. Bei Designern (so sie wirklich weniger verdienen) ist das anscheinend nicht in dem Masse gegeben.

        Ich glaube nicht daß die weiblichen Entwickler Schwierigkeiten haben einen gut bezahlten Job zu finden.

        Im übrigen frage ich mich wie Frauen davon abgehalten werden können Entwicklerinnen zu werden, wenn man den Job doch Zuhause am Computer machen kann. So schrecklich kann das Umfeld also gar nicht sein – ansonsten empfehle ich mal einen Besuch bei IKEA.

        Wenn es Frauen wirklich so wichtig erscheint die Zukunft mitzubestimmen, ist die Lösung einfach: fangt an zu programmieren. Ein Computer kostet 500€, ein Internetanschluss 20€/Monat – die meisten scheinen ja schon einen zu haben. Mehr braucht man nicht. Es gibt kaum einen Job mit geringerer Einstiegshürde.

      • TheRealFoo sagt:

        (Sport wegen „im Kreis laufen“ – war nicht ernst gemeint…)

        Danke für deine ausführliche Antwort! Ich hatte den Absatz wohl zu engstirnig gelesen. Ja, mir schien einiges in dem Interview nicht ganz glaubwürdig, und ein paar Stellen haben bei mir auch Kopfschütteln ausgelöst.

        Von außen nach innen…
        Der von dir verlinkte „Women don’t negotiate because they are not idiots“-Artikel ist interessant, leuchtet mir allerdings nicht ein. Zweitens scheint er mir sehr
        USA-zentriert – und erstens ist es Unfug. Jede Geschäftsentität ohne
        Monopol muß verhandeln; Firmen müssen Preise im Einkauf und Verkauf
        verhandeln. Als Verbraucher konnte man früher noch viel handeln, heute
        um so mehr zwischen verschiedenen Angeboten auswählen. Abseits von Geld
        muß man auch mit anderen Menschen einiges aushandeln, wo und wann und
        vieles mehr. Wenn man etwas will, muß man das auch mitteilen.

        Was wäre denn eine zielführende Alternative zum Verhandeln? Abwarten bis das gewünschte angeboten wird? Daher meine ich: Unfug.

        Zu #5b: Es gibt immer noch Firmen mit Niedrigpreis-„Entwicklern“. Und solche, die bereits gelernt haben, was dabei herauskommt. Bei den Designern wird dieser Lernvorgang wohl noch länger dauern. Letztlich sind es aber die Kunden, die entscheiden, wieviel Murks sie akzeptieren – und ob ihnen der niedrige Preis eine schlechte Qualität wert ist. Also ja: es ist der Markt.

        Der Knackpunkt liegt wohl in #5a und #2: Die vorgebliche oder ehrlich versuchte Transparenz wird m.E. an zu hoher Komplexität scheitern. Wenige Arbeitsplätze außerhalb der Fließbandfertigung sind exakt vergleichbar; idealerweise verschieben sich in einem Team auch die Aufgaben jenseits der offiziellen Aufgabenstellung hin zu den jeweiligen Neigungen und Fertigkeiten.
        Wenn man aber viele Details sieht – und das ist bei Kollegen eher der Fall als bei einer abstrakten Marktstatistik – gibt es auch viel zu bewerten. Ist X relevant? Kann man für Y mehr fordern, muß man für Z Abstriche machen und wieviel? Das kombiniert mit der internen sozialen Dynamik hat auch aus meiner Sicht eher nachteilige Folgen.

        Wobei ich behaupte, daß es eher um „introvertiert“ vs. „extrovertiert“ geht bei der Frage, wer Nachteile und Vorteile in Verhandlungen hat.
        Wer gut und selbstbewußt argumentieren und vielleicht auch überreden kann, ist beim Verhandeln im Vorteil.

        Das hat aber wenig mit dem biologischen Geschlecht zu tun.