Kinder ohne Kreißsaal

Glastür in einem Krankenhaus, darauf klebt eine große pinke Sprechblase, auf der in weißer Schrift
Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by adesigna

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Die Autorin möchte anonym bleiben.

Ich bin seit acht Jahren Mutter eines jetzt zehnjährigen Jungen. Er war nie in meinem Bauch, es gab keine 9 Monate Zeit der Vorbereitung. Sondern irgendwann eines Abends die Frage von meinem Partner, beim Kochen in der Küche mit Rotweinglas in der Hand: “Wie wäre es, wenn wir diesen Jungen bei uns aufnehmen?” Diesen Jungen.

Er war damals zwei Jahre alt und in einer sogenannten Bereitschaftspflegefamilie. Das Jugendamt in seiner Stadt war auf der Suche nach einer dauerhaften Pflegestelle für ihn. Mein Partner wusste von seiner Geschichte, da er beruflich in anderen Zusammenhängen damit befasst war. Und wir steckten gerade mitten in der klassischen Debatte: Kinder ja oder nein? Jetzt? In fünf Jahren? Nächstes Jahr? Wer wird seine Arbeitszeit reduzieren? Um wieviel? Wie teilen wir alles auf?

Das war im März 2005.

Im Oktober 2005 marschierte ein kleiner blonder Junge durch unsere Wohnungstür.

Was zuvor geschah

Das halbe Jahr zuvor war geprägt von nächtelangen Debatten. Wir hatten beide schon zehn Jahre Beziehung auf dem Buckel. Wir fühlten uns bereit, uns um ein Kind zu kümmern und es großzuziehen. Aber waren wir auch bereit dafür, durch das Jugendamt durchleuchtet zu werden? Bereit für ein möglicherweise traumatisiertes Kind, und eine höchstwahrscheinlich nicht ganz einfache Herkunftsfamilie? Die eventuell stinksauer war, dass ihr Kind nicht mehr bei ihnen leben durfte?

In diesen 6 Monaten waren wir 3 Wochen in Neuseeland, viel allein mit Freund_innen unterwegs, haben unzählige Gespräche geführt. Unsere gesamte Beziehung wurde in Frage gestellt und wäre zweimal fast im Vorfeld gescheitert. Während die meisten Freund_innen und die Familie meines Partners Feuer und Flamme waren (“wer, wenn nicht ihr!”) sprach meine Mutter die denkwürdigen Sätze: “Glaub nicht, dass ich da die Oma spiele. Das ist ja nicht Dein Fleisch und Blut.”

Schlussendlich bewarben wir uns um eine Dauerpflege für diesen Jungen beim zuständigen Jugendamt. Wir hatten noch das Urteil des Familiengerichts abgewartet, nach dem den leiblichen Eltern das Sorgerecht vollständig entzogen wurde. Mir fehlte der Mut, mich auf ein Kind einzulassen, dass möglicherweise wieder zu seiner Herkunftsfamilie zurückkehren würde. Heute weiß ich, dass das die Ausnahme und nicht die Regel ist. Und wir waren ein Sonderfall: wir hatten uns um die Pflegschaft für diesen einen Jungen beworben, von dessen Schicksal wir erfahren hatten. In der Regel läuft es andersherum: man bewirbt sich und wartet nach Durchlaufen des Verfahrens im Anschluss auf einen passenden Vorschlag des Jugendamtes.

Wir trafen auf wunderbare Sozialarbeiter_innen, besuchten sehr gute Seminare mit anderen Bewerber_innen. Wir waren die einzigen im Raum, die ein leibliches Kind hätten bekommen können. Für alle anderen war es die letzte Möglichkeit, doch noch Eltern zu werden.

Das erste Treffen

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein Foto unseres Kindes gesehen. Ich wollte bewusst im Vorfeld eine Entscheidung treffen, die so objektiv wie eben möglich war. So sahen wir Tom zum ersten Mal, als die sogenannte Anbahnung begann. Das Jugendamt hatte unsere Bewerbung gebilligt, wir hatten die vorgeschriebenen Seminare besucht, unsere finanzielle Situation und unsere Führungszeugnisse waren überprüft worden, unsere Wohnung wurde für okay befunden. An einem Freitagnachmittag fuhren wir zu seiner Kurzzeitpflegefamilie, in der er bereits seit 9 (!) Monaten lebte. Und das war schon die dritte Station in seinem kurzen, erst zwei Jahre alten Leben.

Das Jugendamt war bei der Anbahnung dabei, um zu schauen, wie es lief. Und wir sollten im Anschluss sagen, was wir für ein Gefühl haben.

Was ist das für ein Gefühl, auf einen neugierigen, fröhlichen Jungen zu treffen, der viel jünger wirkt als seine zwei Jahre, und ein aktives Vokabular von vielleicht 30 Wörtern hat? Die Kinder in unserem Freundeskreis sprachen mit zwei Jahren wie Marietta Slomka. Was ist das für ein Gefühl, eine Familie mit zwei leiblichen Kindern zu sehen, die alle Tränen in den Augen haben, weil Tom bald weg muss? Und wie fühlt es sich an, wenn dieses Kind sich an Dein Bein klammert, wenn Du gehst und zu weinen beginnt, weil es weiter mit Dir spielen will?

Wir haben auf dem Nachhauseweg nicht gesprochen. Zuhause haben wir uns angesehen und genickt. Und dann ging alles rasend schnell. Wir haben Tom noch dreimal besucht und währenddessen sein Zimmer eingerichtet, mit unseren Chefs geredet, viele Sachen gekauft und versucht, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Er hat einen Testtag bei uns verbracht. Und dann haben wir ihn abgeholt.

Tom zieht ein

Ich werde das Bild nie vergessen: Tom saß in seinem neuen Kinderstuhl, trank Apfelschorle, futterte in einem Höllentempo sein Mittagessen, grinste im Kreis. Er hatte scheinbar keine Angst. Ich umso mehr.

Es ist schwer zu beschreiben, wie es ist, von jetzt auf gleich diese Verantwortung zu tragen. Nachts aufzustehen, wenn er weint. Seine Windeln zu wechseln. Immer verfügbar zu sein. Kurzum: Eltern zu sein. Die urplötzliche Fremdbestimmung war für mich nur schwer zu ertragen. Während mein Partner in seiner Vaterrolle sichtlich aufging und jede Minute genoss, hatte ich zu kämpfen. Morgens zog ich mir gedanklich ein Mutterkostüm an, abends wieder aus. Erst wenn Tom schlief, konnte ich mich entspannen. Das ist übrigens heute noch so. Ich weinte bittere Tränen, als wir Papa zum Flughafen brachten, der beruflich nach den ersten beiden Wochen ein paar Tage zu einer Konferenz fliegen musste. (Nach drei Wochen waren wir “Mama“ und “Papa“). Ich, allein, mit dieser riesigen Verantwortung? Ich bat Freund_innen zu mir. Es sollte noch eine andere erwachsene Person da sein. Oft haben sie gar nichts gemacht, sondern nur bei uns gesessen und teilweise gearbeitet. Aber es war noch jemand da.

Ich habe bestimmt 4 Monate gebraucht, bis ich mich allein sicher mit meinem Kind fühlte. Noch sehr viel länger hat es gedauert, bis der Begriff “Mutter“ etwas mit mir zu tun hatte. Wann bin ich eine? Welche Kriterien muss ich erfüllen, um eine zu sein? Muss ich überhaupt? Wie werde ich diesem aufgeladenen Begriff gerecht? Und warum kann ich nicht für mich sagen: Ich bin das jetzt? Mein Partner sah diese Zweifel mit Sorge und konnte kaum nachvollziehen, warum ich mich so schwer tat. Es lief ja auch alles super. Nach gefühlten drei Millionen vorgelesenen Kinderbüchern war Tom sprachlich gut aufgestellt. Er traute sich – trotz seiner Vorgeschichte –, sich ganz auf uns einzulassen. Er bekam einen Platz in einer fantastischen Kita. Er fand schnell Freunde, über die wir neue Freunde fanden. Es entstand ein Netzwerk, in dem wir uns abwechselnd um unsere Kinder gekümmert haben. Wir waren eine Familie geworden, wie andere auch.

Tom hatte, was typisch für Pflegekinder ist, zu Beginn Schwierigkeiten zu unterscheiden, wo unsere kleine Familie beginnt und aufhört. Beim ersten großen Familienfest, zu dem wir ihn mitnahmen, saß er auf jedem Schoß und fiel allen um den Hals. Alle waren begeistern von dem charmanten Kind, das so zutraulich war. Für große Ernüchterung sorgte dann unsere Erklärung seiner Distanzlosigkeit: Ein Kind, dass nicht immer genug zu essen und zu trinken hatte, muss sich aus der Not heraus mit allen Erwachsenen gut stellen, weil alle Erwachsene potenziell Nahrung und Schutz bereithalten. Bis zum heutigen Tag beruhigt es ihn, beiläufig zu erfahren, dass noch mindestens eine Portion Nudeln in der Pfanne auf ihn warten.

Heute ist Tom knapp elf und besucht die 5. Klasse eines Gymnasiums. Wer es nicht weiß würde nie vermuten, dass er nicht unser leibliches Kind ist. Darauf bin ich stolz. Warum eigentlich? Weil er nicht wie so viele Pflegekinder, die wir kennen, starke Probleme in der Schule hat? Weil ich mich unbemerkt unter die vermeintlich normalen Familien mischen kann? Oft ertappe ich mich bei der Sehnsucht, eine Familie wie alle anderen zu sein. Ohne Fremdbestimmung, ohne Bezahlung, mit nur einem Namen an der Tür. Ohne die vielen Fragen.

Tom kann selbst entscheiden, wem er was über seine Geschichte erzählen will. Er kennt seine Geschichte gut, er trifft alle sechs Wochen seine leiblichen Eltern, ab und zu kommt sein großer Bruder mit (der bis vor kurzem in einem Heim lebte). Er hat viele Freunde, ist Stammspieler in seiner Fußballmannschaft und hat eine große Familie, die ihn heiß und innig liebt.

Was ich gelernt habe – und immer noch lerne

Ich habe viel gelernt in den letzten acht Jahren. Mehr, als mir lieb ist. Und vieles, wofür ich dankbar bin.

Ich habe gelernt, dass Toms leibliche Eltern keine herzlosen Monster sind, die sich den Tag damit versüßt haben, ihre Kinder zu vernachlässigen, wie es in Fällen wie diesem gerne in der einschlägigen Presse nachzulesen ist. Stattdessen haben sie versucht, ihr Bestes zu geben, doch es hat vorne und hinten nicht gereicht und sie haben schlimme Fehler gemacht. Wie sie heute selbst sagen. Ihr Schmerz und ihre Trauer machen mich demütig und dankbar für das, was ich als Kind erfahren durfte und heute weitergeben darf. Dafür, wie selbstverständlich bei uns zuhause alles vorhanden war. Und dass das sicher nicht die Regel ist.

Ich habe gelernt, dass in Deutschlands Jugendämtern nicht nur überarbeitete Nachtkappen sitzen, sondern auch viele engagierte, professionelle Menschen, die immens schwierige Entscheidungen zu treffen haben und versuchen, dieser Verantwortung bestmöglich gerecht zu werden. Es geht um nicht weniger als darum, den Daumen darüber zu heben oder zu senken, ob ein Kind bei seinen leiblichen Eltern leben darf. Ich würde den Job nicht machen wollen.

Ich habe gelernt, dass ich nie die Vollblutmutter sein werde, von der ich gehofft hatte, dass ich sie bin. Und dass ich mich trotzdem sehr gut um mein Kind kümmern kann.
Ebenfalls habe ich jede Geduld verloren, Paaren zuzuhören, die per Reproduktionsmedizin verzweifelt versuchen, schwanger zu werden. Dass das völlig irrational ist und mich überhaupt nichts angeht, ist mir klar. Aber warum bedeutet Elternschaft für so viele die Weitergabe des eigenen genetischen Codes? Die vermeintlich größere Sicherheit, dass “alles gut geht”, halte ich für einen Trugschluss. Kein schwangeres Paar, kein Bewerber_innenpaar für Adoption oder Dauerpflege weiß wirklich, was es erwartet. Wer mit Kindern zu tun hat, läuft auf dünnem Eis. Das liegt in der Natur der Sache.

Ich habe auch gelernt, ohne zu Zögern meine Gynäkologin zu wechseln, nachdem sie mir nach erfolgreichem Ultraschall meiner Eierstöcke den fröhlichen Rat gab, jetzt doch endlich noch ein “eigenes” Kind zu bekommen.

Tom bei uns aufzunehmen war die bisher schwerste Entscheidung für mich. Und sie war goldrichtig. Sie stiftet Sinn, weil es mich glücklich macht, mein Kind glücklich zu sehen – und wir dazu etwas beigetragen haben. Es gibts nichts, was mich so zufrieden macht, was nicht hinterfragt werden muss. Sie strengt immer mal wieder tierisch an. Sie erlaubt uns, für ein Kind vieles besser zu machen und Türen zu öffnen, die sonst verschlossen geblieben wären. Dafür bleiben bei uns andere zu.

Mut, andere Wege zu gehen

Wer in Deutschland Eltern werden will, kann das in aller Regel tun. Das gilt für alleinstehende Menschen, gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Paare (über den Skandal, dass es homosexuellen Paaren verboten ist, zu adoptieren, Dauerpflege für sie aber inzwischen gang und gäbe ist, sei an dieser Stelle geschwiegen). Vorausgesetzt, sie halten aus, dass sie “nur” Pflegeeltern sind. Dass noch ein Elternpaar oft unsichtbar am Tisch sitzt. Dass sie viel Privates und Persönliches mit Fremden teilen müssen. Dass sie vom Staat Geld dafür bekommen, ein Kind großzuziehen. Dass in der Mimik ihres Kindes oft die Gesichtszüge von anderen Menschen durchschimmern – und nicht ihre eigenen.
Die Jugendämter im ganzen Land suchen händeringend nach Pflegefamilien. Die Zahl der Inobhutnahmen steigt. Es sind also genug Kinder da. Aber gibt es für sie, die schon da sind, genug Eltern?

Bis heute genieße ich es am meisten, mit anderen Pflegefamilien unterwegs zu sein. Die auch drei Namen am Briefkasten haben. Die auch regelmäßig Besuchskontakte mit den leiblichen Eltern hinbekommen müssen. Die nicht die besten Entbindungsgeschichten austauschen, zu denen ich nichts beizutragen habe. Die auch Exoten sind in einer Welt, in der Kinder kriegen und Eltern werden heißt, schwanger zu werden.

Mehr zu hören und zu lesen

Heiterscheitern blicken zurück auf vier Jahre mit Pflegekind
Bundesverband der Pflege- und Adoptiveltern
Weitere Informationen zum Thema Pflegekinder und Adoption

27 Antworten zu “Kinder ohne Kreißsaal”

  1. Konrad sagt:

    Herzlichen Dank dafür, so offen, so persönlich Anteilnehmen zu dürfen. Deine Worte erlauben ein wenig, sich einfühlen zu können. Ich wünsche Euch dreien – und denen rund um Euch – dass für Euch und mit Euch so gut weitergeht.

  2. Matthias sagt:

    Das ist ein wunderbarer Beitrag, vielen Dank. Es gibt so viele Möglichkeiten, Kindern ein gutes Zuhause zu geben. In dieser Konstellation dürfte die Pubertät noch einiges „interessanter“ werden als das bei leiblichen Kindern ohnehin schon der Fall ist – wünsche euch allen gute Nerven :-).

  3. andreacmeyer sagt:

    Herzlichen Dank für diesen großartigen Artikel! Vieles davon ist mir sehr vertraut, auch wenn unser Sohn „nur“ Stiefkind und nicht Pflegekind ist.

  4. Johannes sagt:

    Toller Artikel. Danke dafür!

  5. Danke für diesen tollen Beitrag und eine andere Sicht auf Elternschaft.
    Ich wünsche ein spannendes und zufriedenes Leben miteinander!

  6. Frau Krümli sagt:

    Ein sehr angenehmer Text, den ich, als ehemaliges Pflegekind in meiner Familie ähnlich verfassen würde.
    Ich wünsche Euch alles Gute!

  7. Frau-Irgendwas-ist-immer sagt:

    Und, wie ist es mit der ‚Oma‘? Ist Ihre Mutter eine Oma geworden?

    • Name sagt:

      Meine Mutter ist inzwischen verstorben. Aber sie hat Tom noch kennengelernt und die Beiden kamen auch gut miteinander aus. Das Verhältnis war aber bei weitem nicht so eng wie mit der anderen Oma.

  8. Pterry sagt:

    Also meinen Informationen nach gibt es in DE für jedes Adoptivkind etwa 8 potentielle (willige) Elternpaare (http://www.adoption.de/info_atipps.htm#zahlen). Bei den Pflegefamilien mag es anders aussehen. Trotz alledem kein Grund gegen Paare zu wettern, die lieber Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen als >5 Jahre auf ein Kind zu warten und dann trotzdem keins bekommen (weil mittlerweile „zu alt“).

    • Auto_focus sagt:

      Zu sagen, es fehlt die Geduld, Paaren bei ihren Schilderungen zuzuhören – und dies noch dazu selbst als irrationale Haltung zu bezeichnen – ist doch schwerlich „wettern“ zu nennen. Zumal berechtigterweise darüber nachgedacht werden sollte, warum es für so viele Menschen wohl nur eine denkbare Form von Elternschaft gibt – und viele Ängste im Bezug auf Pflegekinder sich als Vorurteile herausstellen.

      • Pterry sagt:

        Ok. War zugegebenermaßen ein Schnellschuss. (Ich muss dazu sagen, dass mir der „Mutterteil“ besser gefallen hat und ich mich damit besser identifizieren kann. Diese Verantwortung! Hat bei Kind 1 auch gedauert. An dieser Stelle würde ich mir eine Form der Betreuung für Pflegeeltern wünschen, die ja bei „natürlichen“ Eltern in Form der Hebamme zum Teil besser gegeben ist.)

  9. Rabbitsliebster sagt:

    Danke für den Beitrag! Ich bin selbst auch (doppelter) Pflegevater und konnte nicht nur „Drei Namen am Briefkasten“ nachvollziehen, sondern musste gerade hinsichtlich der Anbahnung und des Einzuges direkt an unsere beiden denken.

  10. Tine sagt:

    Vielen Dank für dieses tollen Post. Wir haben zwei (leibliche) Töchter, trotzdem schwirrt mir immer wieder der Gedanke im Kopf herum evtl. ein Pflegekind aufzunehmen. Wusstet ihr denn, dass euer Sohn bei euch aufwachsen wird? Schwebt nicht immer ein bisschen die Gefahr über einem, dass das Kind einem wieder weggenommen wird, sobald sich die Lebenssituation der leiblichen Eltern verbessert? Und ist es dir möglich/ ist es erlaubt trotz Kind arbeiten zu gehen (wenn es die Situation zulässt)? Sorry für die evtl. etwas naiven Fragen…

    • Name sagt:

      Kein Problem, das ist ganz und gar nicht naiv. Das sind ja ganz entscheidende Sachen. Nachdem den leiblichen Eltern das Sorgerecht komplett entzogen worden war (was nicht immer der Fall ist), waren wir auf der sicheren Seite. In der Regel ist es aber so, dass kein Familiengericht nach zwei/drei Jahren einem Antrag auf Rückführung der leiblichen Eltern zustimmt. Maßgeblich ist das berühmte „Kindeswohl“ und es wird schon am Anfang besprochen, dass das Pflegeverhältnis auf Dauer angelegt ist, bis zur sog. Verselbstständigung. Aber das ist nur meine subjektive Wahrnehmung und was uns gesagt wurde, andere haben vielleicht andere Erfahrungen gemacht.
      Was das Arbeiten betrifft: Pflege- und Adoptiveltern sind vom Gesetzgeber insofern gleichgestellt worden, als dass sie genauso Elternzeit nehmen können wie leibliche Eltern. Das würde also theoretisch laufen wie mit Euren Töchtern, je nachdem, wie ihr das organisieren wollt. Wir haben uns die Jobs geteilt.

  11. Maja sagt:

    Mein Lieblingsmensch und ich haben unser erstes Kind bekommen, als wir beide noch im Studium steckten. Die finanzielle Lage war also nicht besonders gut und die Wohnung recht klein. Unsere Tochter ist inzwischen acht Jahre alt, unsere finanzielle Situation besser, das Kind glücklich etc. Gut zu wissen, dass das Jugendamt uns damals wohl kein Pflegekind „erlaubt“ hätte und gut zu wissen, dass wir unsere Tochter vielleicht verloren hätten, wenn das Jugendamt unsere finazielle und Wonsituation spitzbekommen hätte. #klassistischeKackschei*e

    • Autorin sagt:

      Es ist nicht so, dass man, nur weil man derzeit nicht die Kriterien für die Aufnahme eines Pflegekindes erfüllt, als logische Schlussfolgerung seine leiblichen Kinder weggenommen bekommt. Als leibliche Eltern geniesst ihr ja besonderen Schutz und Rechte und das ist auch gut so.

      Ganz im Gegenteil wird oft versucht, mit Hilfen und personeller Unterstützung Familien zu helfen, die Schwierigkeiten haben, sich angemessen um ihr Kind zu kümmern. Das erste Ziel ist immer, die leibliche Familie so zu unterstützen, dass die Kinder oder das Kind in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können, was auch nur logisch und richtig ist. Die Pflegekinder, die ich kenne, haben alle massive Vernachlässigung erlebt, über längere Zeit, oder gar Missbrauchserfahrung gemacht, oder hatten Eltern die physisch oder psychisch so erkrankt waren, dass sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern konnten.
      Die Tatsache, dass ihr wenig Geld hattet und eine kleine Wohnung, fällt da meiner Meinung nach nicht drunter. Ich beschreibe oben einen Fall von akuter Kindeswohlgefährdung und nicht, ohne eure Situation seinerzeit nicht ernst zu nehmen, von “ wir hatten verdammt wenig Geld und nur eine mini Wohnung „. Dass es nicht einfach ist unter diesen Bedingungen ein Kind grosszuziehen ist mir klar, es ist aber ein anderes Thema. Gut, dass es Euch jetzt besser geht.

      • Lea sagt:

        Aber genau das ist doch der Punkt: Es wird vor allem von Behördenseite, aber auch in der Mainstreamgesellschaft, eine als suboptimal definierte finanzielle Situation mit „Schwierigkeiten haben, sich angemessen um ein Kind zu kümmern“ gleichgesetzt. Es kann nicht angehen, dass Menschen eher ein Pflegekind haben dürfen, wenn sie wohlhabender sind als andere. Der finanzielle Aspekt sollte keine ausschlaggebende Rolle spielen dürfen, er sollte kein Kriterium sein!

        • Autorin sagt:

          Mir ging es vor allem darum, darzustellen, dass bescheidene finanzielle Mittel nicht zur Folge haben,dass ein leibliches Kind aus der Familie genommen wird. Da müssen ganz andere Faktoren ins Spiel kommen.
          Was Du ansprichst, ist ein anderes Thema: Wie viel Geld müssen Bewerber_innen auf Dauerpflege haben, um berücksichtigt zu werden? Ich bin nicht Deiner Auffassung, dass finanzielle Aspekte gar kein Kriterium sein dürfen. Wer Kinder großzieht, weiß, dass das Geld kostet. Wie hoch ein monatliches Einkommen sein müsste, kann ich an dieser Stelle nicht definieren, aber dass es ein solches gibt, halte ich für alles andere als irrelevant. Nichtsdestotrotz teile ich Deine Meinung, dass der Kontostand natürlich herzlich wenig mit den Fähigkeiten als Eltern zu tun hat. Den finanziellen Hintergrund eines Paares ganz auszublenden halte ich jedoch für falsch.

          • Lea sagt:

            „[…] dass es ein solches [monatliches Einkommen] gibt, halte ich für alles andere als irrelevant.“ – Menschen ohne monatliches Einkommen sollten also lieber keine Kinder haben?

          • Auto_focus sagt:

            Zu sagen, es sei „nicht irrelevant“ und „sollten keine Kinder haben“ liegt als Aussage ja schon noch deutlich auseinander. Wie man die Grundbedürfnisse deckt, darüber ist damit ja nichts gesagt.

  12. giliell sagt:

    Vielen Dank für den wundervollen Text.
    Ich finde immer, Eltern ist eine Jobbeschreibung, kein biologischer Zustand. Einige der tollsten Eltern die ich kenne sind Stief- und Pflegeeltern. Sie geben ihren Kindern Liebe, Geborgenheit und Halt. Das finde ich viel wichtiger als Chromosome.
    Ähnlich wie Tine schwirrt auch mir der Gedanke im Kopf irgendwann Pflegekinder aufzunehmen. Nicht jetzt, nicht in näherer Zukunft, nicht als Dauerpflege. Aber irgendwann einmal ein Halt sein für Kinder, die leider nicht so viel Glück hatten im Leben.

  13. giliell sagt:

    Übrigens noch ein Gedanke zum Thema „du bist ja keine echte Mutter, wenn du das Kind nicht ausgetragen hast“: Nie wurde von einem Mann verlangt er müsse das tun um als Vater anerkannt zu werden

  14. […] Die Zeiten für Hebammen werden härter: Hebammen :: Wenn Wertschätzung versagt bleibt Kinder ohne Kreißsaal […]

  15. luise sagt:

    Hallo
    vielen Dank für diese sehr persönlichen Zeilen.
    Ich habe beruflich viel mit Pflegefamilien und Inobutnahmen zu tun (bin aber selbst nicht beim JA) Leider scheint ihr, so wie ihr Familie mit einem Pflegekind lebt, eine Aussnahme zu sein. In der letzten Zeit habe ich immer wieder mit Kindern gesprochen, denen es in den Pflegefamilien nicht gut geht..die sich als Fremdkörper gefühlt haben, sie nicht verstanden gefühlt haben..
    Es macht mir Mut, dass es auch Menschen gibt die dieser Aufgabe gerecht werden.
    Alles Gute für euch!
    Luise

  16. Dubidu sagt:

    Ganz tolle schöne ermutigende Worte! Wir sind gerade im Bewerbungsprozess, und auch wir haben uns bewusst für diesen WEg entschieden, obwohl wir „eigene“ Kinder bekommen könnten. Für uns steht die Begleitung eines Menschen auf seinem Lebensweg im Vordergrund, so gut wie gar nicht die Weitergabe eines genetischen Codes. Deine Worte bestätigen uns sie Entscheidung noch einmal. Danke Vielmals!

  17. Janine sagt:

    Deinen Text habe ich schon so oft gelesen und auch schon Freunden, Bekannten und Verwandten gezeigt, damit sie besser nachvollziehen können, wie es mir geht. Jedesmal muss ich wieder weinen bei deinen Zeilen… unser Herzblatt ist im Alter von 5 Wochen bei uns eingezogen, jetzt ist er ein halbes Jahr und es ist noch jeden Tag neu. Und alle sagen, dass es doch so einfach sein müsste, weil er doch als Säugling zu uns kam…

  18. Vielen Dank für diesen bewegenden Text. Auch unsere Tochter kam über die Dauerpflege zu uns. Mittlerweile ist sie halboffen adoptiert. In den geschriebenen Zeilen habe ich uns oft wiedererkannt, nur, war unsere Tochter neugeboren als sie zu uns kam – und eine Ahnbahnung in einer Bereitschaftspflegefamilie gab es nicht: https://gedankenwaben.wordpress.com/2015/01/29/bei-anruf-kind/