Mein Monat mit Truvada & Kaletra

Foto , CC BY-NC-ND 2.0 , by Grumpy-Puddin

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Auf Bitte des Verfassers veröffentlichen wir den Text anonym, er ist der kleinerdrei-Redaktion aber bekannt.

Als ich diesen Artikel vor einigen Wochen hier auf kleinerdrei las, konnte ich die Autorin sehr gut verstehen – denn ich befand mich in einer ähnlichen Lage. Einige Monate zuvor hatte ich ungeschützten Geschlechtsverkehr, einen One-Night-Stand mit einer Person, die ich in dieser Nacht kennenlernte und danach auch nie wieder sah. Die Details sind unwichtig, denn sie würden dazu dienen, meine Dummheit zu verschleiern. Es ist passiert – ohne in diesen Satz ein entschuldigendes „einfach“ einfügen zu können. All mein Wissen und all die Aufklärung habe ich in dieser Nacht einfach ausgeschaltet. Und bin danach natürlich in einen Abgrund aus Reue gefallen.

Als schwuler Mann denkt man bei ungeschütztem Verkehr nicht an ungewollte Schwangerschaften, sondern in erster Linie an: AIDS. Und zwar so: AIDSAIDSAIDSAIDSAIDS, voller Panik, in der kein Platz für die Unterscheidung von AIDS und HIV ist. In meinem Freundeskreis kommen regelmäßig völlig unrealistische Ansteckungstheorien zustande. Das ist einerseits ein gutes Zeichen, denn es zeugt – trotz angeblich wachsender Bareback-Szene (Barebacking = bewusst ungeschützter Verkehr) – von hoher Sensibilisierung. Andererseits zeugt es aber auch von Unwissen und die Unfähigkeit realistische Ansteckungsrisiken und –situationen als solche zu erkennen. Das wiederum verstärkt im Zweifelsfall die Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen und AIDS-Patient_innen, die noch immer stark sozial ausgegrenzt werden und auch in der Szene nicht immer viel Rückhalt bekommen.

Aber das war bei mir nicht der Fall. Der One-Night-Stand hatte definitiv ein hohes Ansteckungsrisiko und ich war mir dessen sofort bewusst. Den ersten Tag verbrachte ich reglos in meinem Zimmer und versuchte nicht durchzudrehen. Ich hatte eigentlich nicht vor jemandem davon zu erzählen: einerseits aus Scham, andererseits, weil ich niemanden in meine Situation „reinziehen“ wollte. Am zweiten Tag hielt ich es allerdings nicht mehr aus und ich vertraute mich einem Freund an, der mich beruhigte und mich fragte: „Warum machst du keine Postexpositionsprophylaxe?“, und ich antwortete: „Bitte was?“

Die Postexpositionsprophylaxe (PEP) ist eine medikamentöse Behandlung, die die Ansteckung mit HIV nach Risikokontakt (z. B. ungeschützten vaginalen bzw. analen Sex oder Nadelstichverletzungen) verhindern soll. Man geht nämlich davon aus, dass der Virus – sollte es tatsächlich zu einer Übertragung gekommen sein – einige Zeit benötigt, um sich im Körper einzunisten. Kommt es in dieser Phase zwischen Übertragung und Einnistung zu einer Behandlung mit Virostatika (Medikamente, die Viren angreifen), besteht eine bis zu 80%ige (!) Chance eine dauerhafte Ansteckung zu verhindern. Dafür muss die Behandlung allerdings so schnell wie möglich begonnen werden – die Wirksamkeit der HIV-PEP sinkt stündlich und nach Ablauf von 72 Stunden ist sie quasi sinnlos.

Ich war also schon spät dran. Ich zwang eine Freundin mit mir in ein AIDS-Zentrum zu gehen. Dort waren sie sehr freundlich, schickten mich aber in die Notaufnahme eines der Krankenhäuser, die auf die PEP vorbereitet sind, denn nur dort konnten die Medikamente verschrieben werden. Ich musste sehr viele Fragen beantworten, welche Art von Sex wir hatten, ob der HIV-Status bekannt war, etc. Denn die Nebenwirkungen der PEP sind sind so schwer, dass im Vorhinein sichergestellt werden muss, ob ein Ansteckungsrisiko vorliegt, dass groß genug ist, um die Behandlung zu rechtfertigen. Beispielsweise wird die PEP nur empfohlen, wenn sicher ist, dass der_die Sexualpartner_in HIV-positiv ist – sollte der HIV-Status „nur“ unbekannt sein, wird in Deutschland oft von der Behandlung abgeraten. Niemand soll den Nebenwirkungen ausgesetzt sein, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nach einer weiteren Beratung im Krankenhaus bekam ich die HIV-PEP.

Die PEP dauerte einen Monat. Sie bestand bei mir aus zwei Medikamenten, die auch HIV-Positive bekommen: Truvada und Kaletra. Namen wie IKEA-Möbel. Eine blaue Pille, die ich alle 24 Stunden einnehmen musste und eine fette gelbe Pille alle 12 Stunden. Und zwar am besten auf die Minute genau und immer mit einer Mahlzeit. Da ich die erste Pille um 9 Uhr abends einnahm, musste ich einen Monat lang jeden morgen um Punkt 9 Uhr morgens und abends essen und meine Pillen nehmen. Pillen, die man aufgrund ihrer Größe schlecht diskret schlucken konnte. Auf die Mahlzeit verzichten war übrigens keine gute Idee – das tat ich ein einziges Mal und dann nie wieder, denn es verstärkte die Nebenwirkungen enorm. Und von denen hatte ich genug: Ich hatte einen Monat lang Durchfall, mein Stuhl färbte sich nach und nach durch alle Regenbogenfarben und ich wachte nachts auf, um mich zu übergeben. Dazu eine ständige Übelkeit und viele Magenkrämpfe. Die Nebenwirkungen gehen vor allem auf den Verdauungstrakt und können auch die Leber ernsthaft schädigen, weswegen meine Leberwerte auch überwacht wurden. Nach der ersten Woche haben die Nebenwirkungen jedoch nachgelassen und die PEP wurde erheblich verträglicher für mich. Man wird zudem während der PEP nicht allein gelassen und ich muss noch einmal sagen, dass alle Beteiligten immer äußerst freundlich und zuvorkommend zu mir waren. Es war zwar wirklich nicht angenehm, aber ich zwang mich durchzuhalten. Weil es wirkt und ich sonst nur drei Monate rumgesessen hätte, um immer panischer zu werden. So hatte ich wenigstens das Gefühl etwas tun zu können. Und zum Teil hielt ich auch durch, um mich selbst für meine Dummheit zu strafen und mir zu zeigen: Das könnte dir möglicherweise für den Rest deines Lebens blühen, nur weil du in einer Nacht nicht mehr alle Sinne beisammen hattest.

Jede Woche musste ich zu einem Virologen, um einen HIV-Test zu machen – denn trotz der diagnostischen Lücke von drei Monaten können die Viren durchaus schon früher nachweisbar sein. Positive Testergebnisse innerhalb der diagnostischen Lücke sind also aussagekräftig – negative hingegen nicht. Ich war sehr froh, als ich die Behandlung absetzen konnte, weil die Nebenwirkungen sofort aufhörten. Dann hieß es: Warten. Drei Monate – denn die diagnostische Lücke, d. h. die Zeitspanne zwischen Ansteckung und dem Zeitpunkt, an dem der Virus das erste Mal im Blut durch einen HIV-Test nachgewiesen werden kann, beträgt drei Monate. Und weil die PEP die Viruslast einen Monat lang unterdrückt und somit vielleicht eine Nachweisbarkeit verhindert, durfte der Monat der Behandlung nicht dazugezählt werden, denn die Viruslast von HIV-Positiven, die regelmäßig ihre Medikamente nehmen, liegt oft unter der Nachweisbarkeitsgrenze bzw. ist so gering, dass HIV-Positive nicht mehr ansteckend sind.

In den drei Monaten versuchte ich dann möglichst nicht daran zu denken und merkwürdigerweise hatte ich auch das seltsame Gefühl, dass schon alles in Ordnung sein würde, was mich wohl davor bewahrte, durchzudrehen. Letztendlich machte ich also den finalen HIV-Test – und er war negativ. Ich bin also noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen.

Wichtig ist mir vor allem, dass mehr Menschen von der HIV-PEP erfahren. Abgesehen von jenem Freund, wusste nämlich niemand in meinem Umkreis von deren Existenz. Natürlich ist es besser, wenn es überhaupt gar nicht so weit kommt. Wenn es aber nunmal passiert ist, scheut euch nicht ins Krankenhaus zu gehen und euch wegen einer HIV-PEP beraten zu lassen! Denn dieser Monat mit seinen Strapazen scheint nur wenig im Vergleich dazu diese für den Rest seines Lebens durchzustehen zu müssen.

Informationen der deutschen AIDS-Hilfe zur HIV-PEP
Faltblatt der deutschen AIDS-Hilfe mit den FAQ zur HIV-PEP
Liste der Kliniken, die 24-Stunden am Tag eine HIV-PEP vorhalten
 

2 Antworten zu “Mein Monat mit Truvada & Kaletra”

  1. Matthias sagt:

    Auch wenn der Artikel im Standard es suggeriert, wäre ich mit der Bewertung, daß therapieführende HIV-Patienten nicht sexuell ansteckend sind, vorsichtig. Zum einen sind bisher nur heterosexuelle Paare untersucht, wobei MSM (men who have sex with men) prinzipiell allein wegen des Analverkehrs höheren Risiken ausgesetzt sind. Doch auch die Datenlage für heterosexuelle Paare ist alles andere als sicher und ist in der Fachgemeinschaft umstritten. Im Februar wurde eine Überblicksarbeit publiziert, die drei Studien zu dem Thema systematisch untersuchte. Dabei wurde zwar festgestellt, daß das Übertragungsrisiko tatsächlich vernachlässigt werden könne, jedoch wird auch dort eingeräumt, daß Lücken bestünden, weil Daten für gleichgeschlechtliche Paare, Art des Verkehrs (vagina vs. anal), Richtung der Ansteckung, exakte Virenlast zum Zeitpunkt der Ansteckung, die Rate anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen und den Umfang von Kondomgebrauch nicht oder ungenügend vorhanden seien. Ebenso muss festgehalten werden, daß die Stichmenge zu klein war, um ein abschließendes Urteil zu erlauben.

    Daher: Auch wenn das Risiko vermutlich sehr gering ist, trotzdem nicht darauf verlassen, daß der Partner eine nicht nachweisbare Viruslast hat.

    (Wen die Studie interessiert: Loutfy et al.: Systematic review of HIV transmission between heterosexual serodiscordant couples where the HIV-positive partner is fully suppressed on antiretroviral therapy. Public Library of Science One 2013; 8(2):e55747.)

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