Reine Routine

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Pedro Moura Pinheiro

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Auf Bitte der Verfasserin veröffentlichen wir den Text anonym, sie ist der kleinerdrei-Redaktion aber bekannt.

Nach der vorläufigen Diagnose wollte sie ihre Gedanken gerne mit anderen teilen. Momentan wartet sie noch auf das Endergebnis.

Wir sind alle aufgeklärte, verantwortungsbewußte Menschen. Wir haben Sex, also lassen wir uns regelmäßig testen.

Durchschnittlich schlafe ich alle 3 Monate mit einem anderen Menschen. Hat mir mal einer vorgerechnet, der ein bisschen weniger sex-positiv war als ich. Durchschnittlich lasse ich mich mindestens einmal im Jahr auf alles testen, was man so abkriegen kann. Chlamydien kann man ja sogar auf dem Klo der Lieblingskneipe kriegen. Habe ich bisher weder da noch sonst irgendwo bekommen. Und auch sonst nichts, nie. Bei weniger gefährlichen, aber eben leicht übertragbaren Sachen wie Chlamydien und Tripper schon fast verwunderlich, habe ich mir manchmal im Spaß gedacht.

Heute morgen hat der Spaß aufgehört.

Ich rufe ganz sorglos bei der Praxis meines Vertrauens an, um mir meine Testergebnisse verkünden zu lassen. Diesmal ging es aber nicht. „Nein, da müssen Sie schon vorbeikommen und mit Frau Doktor sprechen.“ Schluck. Erster Schreck. Erstes ungutes Gefühl. Naja, vielleicht ist es die neue Arzthelferin, wer weiß… Schnell in ’nen ordentlichen Pulli und zur Praxis gehuscht.

Noch bevor ich der Ärztin die Hand gebe, springen mir drei Wörter ins Gesicht: “HIV – schwach reaktiv”.

Sie drückt mir die Hand und sagt, ich solle jetzt nicht erschrecken, dann wiederholt sie, was ich schon auf dem vor ihr liegenden Blatt gelesen habe. Nicht erschrecken. Haha. Ich weiß gerade nicht mehr, wie atmen geht.

Aus dem unguten Gefühl wird ein massiver Schock. Ich versuche, mich zusammenzunehmen. Versuche zuzuhören.

Sie versucht mir zu erklären, was das heißt, „schwach reaktiv“. Es heißt, dass ich Antikörper in mir habe, wahrscheinlich gegen irgendwas anderes, vielleicht war der Test auch zu sensibel. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass ich HIV-positiv bin, zumal ich zu keiner „offiziellen“ Risikogruppe gehöre. Es wird jetzt erstmal ein zweiter Test gemacht, der den Verdacht wahrscheinlich widerlegen wird.

Kann aber bis zu einer Woche dauern. Eine Woche. Sieben Tage. 168 Stunden. Über 10.000 Minuten.

Die Arzthelferin nimmt mir nochmal Blut ab. Aus meiner Vene kommt kaum was raus. Ich frage mich, ob das ein Zeichen ist und wenn ja, wofür? Ich fahre nach Hause, mir ist schwindelig. Kind meiner Zeit, das ich bin, google ich erstmal. Lese all das nochmal, was ich gerade erfahren habe. Aber auch: „schwach reaktiv“ kann auch heißen, dass es eine sehr frische Infektion ist.

 

Ich habe mir nie irgendwas gespritzt, ich habe nie eine Bluttransfusion erhalten. Die Gedanken daran kommen mir absurd vor. Aber es gibt andere Gedanken, Erinnerungen, die kommen mir ganz normal vor, obwohl sie mich mindestens genauso sehr verstören sollten: Ungeschüzter Sex. Mit Menschen, die ich länger kannte, oder ganz spontan ganz toll fand. Denen ich vertraut habe, auf reiner Gefühlsbasis. Als ob nette Menschen nicht krank werden.

Was für ein Schwachsinn, will ich mich anschreien. Nur, gerade kann ich nicht schreien. Ich bin still, stumm, zum Warten verdammt. Warten und nachdenken.

 

Ich denke also nach. Darüber, warum ich als aufgeklärter Mensch seit langem irgendwie das Gefühl habe, dass Safer Sex ein Thema ist, das mich irgendwie nicht betrifft. Ich habe mich nie geschämt, Kondome zu kaufen, ich habe Typen zum Pfeffer geschickt, die keins benutzen wollten.

Aber bei manchen, die ich total toll fand, fand ich’s dann auch einfach gar nicht so schlimm, nein ehrlich gesagt, fand ich es ziemlich gut, wenn dann irgendwann irgendwie einfach kein Gummi mehr dazwischen war. Na ja, und wenn man es einmal weglässt, dann ist es ja irgendwie auch schon egal.

Will mich nochmal anschreien. Was für ein Schwachsinn. Weiß ich und wußte ich genau. Gemacht habe ich es trotzdem.

Primär trage erstmal ich, ich und nochmal ich die Verantwortung für meine Gesundheit, trotzdem kotzt es mich an, festzustellen, dass kein einziger Typ jemals vernünftig gewesen ist, als ich es nicht war.

Und auch keine der Frauen mit denen ich Sex hatte. Warum ich es denen weniger vorwerfe? Weil Sex mit Frauen offensichtlich in meinem Kopf bis gerade eben „per se“ als safe galt. Was für ein Schwachsinn, die zweite, dritte… Selbst wenn Frauen statistisch seltener HIV-infiziert sind, heißt das nicht, dass sie qua Chromosom dagegen immun sind! Und auch wenn das gerade der einzige Gedanke ist, der meinen ganzen Kopf in Beschlag nimmt, ist HIV nicht das einzige, wovor man sich schützen sollte, genauso wenig, wie Kondome das einzige sind, womit man sich schützen kann.

Ich weiß und wußte das, aber habe nicht dementsprechend gevögelt.

 

Ich weiß auch, dass in den letzten Jahren die Neuinfektionen mit HIV steigen. Auch hier im bestversorgten, bestens aufgeklärtem West-Europa, hier in Deutschland. Mein aufgeklärtes Ich denkt dann darüber nach, warum Aids offensichtlich nicht mehr als so große Bedrohung wahrgenommen wird, es denkt an medizinische Fortschritte und zu sorglose Jugendliche.

Es denkt nicht: An sich. Wieso auch? Ich weiß ja bestens über alles Bescheid!

 

Woher kommt diese krasse kognitive Dissonanz? Wieso belächle ich die „Mach’s mit“-Plakate? Wieso habe ich das Gefühl, dass das alles überhaupt nichts mit mir zu tun hat? Die Menschen auf den Plakaten habe ich bisher immer nur als platte Klischees wahrgenommen. Und wenn ich mich so umhöre, bin ich nicht die einzige, der es so geht.

Liegt es daran, dass ich mit meiner feministischen, sex-positiven Lebenseinstellung gefühlt so weit weg von „echten“ Risikogruppen, wie vom gesellschaftlichen Mainstream bin, dass mein Sex gefühlt in einer anderen Matrix stattfindet, in der es keine solche Gefahr gibt?

Liegt es daran, dass ich um die 30 mehr Angst vor einer ungeplanten Schwangerschaft habe, als vor sexuell übertragbaren Krankheiten?

Liegt es daran, dass ich so vielen bescheuerten Gesetzen und Regeln unterworfen bin, dass sich der Verzicht auf Latex schon subversiv anfühlt?

Liegt es daran, dass über Verhütung und Safer Sex reden, was für Teenies ist und mich und meinesgleichen nicht mehr betrifft?

Liegt es daran, dass ich es unter Umständen als romantischen Vertrauens- und Liebesbeweis empfinde, mit jemandem „ohne alles“ zu schlafen?

 

Warum?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur eins: Fucking fuck with protection!!

Future Me. Und Ihr bitte auch.

 

Beratungsportal zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen
FAQ zum HIV-Test von der deutschen AIDS-Hilfe
Liste von Gesundheitsämtern
 

Anmerkung der Redaktion:

Die Autorin hat nach langem Bangen Entwarnung von ihrer Ärztin bekommen: Sie ist HIV-negativ und unglaublich erleichtert.

Keine Entwarnung gibt es hingegen für die Gefahren von STIs. Wir wissen es alle, sollten es aber nie vergessen. Wir von kleinerdrei möchten uns außerdem, auch im Namen der Autorin, für eure lieben und unterstützenden Worte in den Kommentaren bedanken.

15 Antworten zu “Reine Routine”

  1. Kathi sagt:

    Ich drücke die Daumen!

    Kleine Anmerkung am Rande: Bei den Gesundheitsämtern kann man einen günstigen HIV-Test machen, bevor man mit der/dem jeweiligen Partner/in des Verlangens ohne Schutz Sex haben möchte.

  2. Ikalum sagt:

    Einer der größten Fehler den man machen kann ist nach Symptomen oder Krankheiten zu googlen von denen man selbst der Meinung ist sie zu haben. Meistens bekräftigt man damit nur seine eigenen Ängste und nicht selten findet man raus, dass man in 5 Tagen sterben wird.
    Ich wünsche ihnen von ganzem Herzen einen Negativ-Befund beim anstehenden Nachtest.

    Gez.
    Ein Mann, der es nur mit macht.

  3. Anna sagt:

    Ich habe noch nie verstanden, weshalb Ärzte erstmal Panik machen, wenn noch gar nichts feststeht. „Schwach reaktiv“ kann alles oder nichts bedeuten. Es ist schwer, ich weiss, aber lass dich bis zum abschließenden Ergebins nicht verrückt machen. Ich kenne den umgekehrten Fall, wo ein Arzt nach Jahren einem positiven Patienten nach einer Blutabnahme fragte: „Sind Sie sicher, dass Sie überhaupt HIV-positiv sind…?“ Oder einen Fall, bei dem ein Arzt einen Hirntumor vermutete und nach abschließender Untersuchung war es ein Bandscheibenvorfall. Es bringt jetzt gar nichts, sich Sorgen zu machen. Und „schwach reaktiv“ kann durchaus am Ende „negativ“ bedeuten. Mein Rat: Bei soviel Sensibilität Arzt wechseln! – Anna

  4. G. sagt:

    Vielen Dank das du uns daran teilhaben lässt, damit wir alle es uns eine Warnung sein lassen können. Solche offenen Beiträge erinnern einen wohl am besten daran wie sorglos wir mit dem Thema umgehen.
    Danke Kathi schon mal für den Hinweis aber vielleicht wäre ein redaktioneller Hinweis wo man sich auf was testen lassen kann, und auch zu welchen Kosten übersichtlicher als nur in den Kommentaren. Auch für die zahlreichen anderen Krankheiten.

    Vielen Dank nochmal an die Autorin. Ich drücke dir die Daumen.

  5. Lina sagt:

    Lieber Mensch, bitte hab Kraft und hör auf zu googlen. Blöder Hinweis, aber du machst dich mit Halbwissen verrückt, was dir überhaupt nicht hilft. So schwer es auch ist, warte die Zeit ab.
    Ich hatte zweimal in meinem Leben ähnliche Situationen (Vermutung für Hirntumor, nicht HIV), aber ich musste auch warten und dachte, ich würde sterben müssen. Die schlimmste Zeit, die man haben kann. Ich bin also gedanklich bei dir.
    Und solltest du Kommentare lesen, die dir sagen „selbst schuld“ oder ähnlichen Dreck, bitte versuch das zu ignorieren. Das sind herzlose Menschen, die vermutlich nie erlebt haben, wie es ist, Verzweiflung zu spüren.

  6. anonym_m_anfang30 sagt:

    Danke!

    Das ist alles genau so wie ich es auch kenne!

    So wichtig, so intim, triffts genau … ich liebe den Schreibstil. Hoffentlich alles gut. Spiel mit dem Feuer. Ist das Leben gut genug? Todesangst.

    Fucking verdammtes, geiles Leben! Ohne Angst. 300% Leben und Liebe. Ein verzeifelter Schrei nach Verantwortung für das eigene Leben.

    Eine systemische Familienaufstellung hat mich vor kurzem gerettet!! Wach werden… endlich aufwachen!!! Im Hier und Jetzt leben.

    Hier. Jetzt.

  7. Anton sagt:

    vor allem das Warten, weil man nun die Frage nach dem Woher (und Wohin?) klären will, aber auch das erst mit der wirklichen Diagnose angeht. In dieser Zeit haben potentiell Betroffene weitere Kontakte, und das zu verhindern, liegt einem am Herzen.
    Mein Mitgefühl, und aufmunternde wie tröstende Gedanken seien Dir gewiss.

  8. Arne sagt:

    Ich drücke Dir fest die Daumen.
    Ich hatte selber schon mal ein ganz ähnliches Erlebnis. Scheiße ist das, aber die Wahrscheinlichkeiten sind ja auf Deiner Seite.

    Umgib Dich mit Deinen Lieblingsmenschen und mach eine Woche lang so viele schöne Dinge wie es eben geht, dann ist das warten auf die sicherlich gute Nachricht nicht so lang und Du musst vielleicht etwas weniger grübeln.

  9. Angela sagt:

    Das Ding ist ja – Leidenschaft und Kontrolle sind nicht unbedingt Seelenverwandte. Und so machen wir in der Leidenschaft, was uns der reine Verstand verbieten würde. Ich wünsche dir von Herzen ein negatives Testergebnis!

    Und uns allen, dass wir uns den wichtigen Schutz so fest einprägen, dass er uns in der Leidenschaft zukünftig nicht abhanden kommt.

    Für unser Leben und das der anderen. Alles Gute für dich <3

  10. […] Is eigentlich klar. Eigentlich. Fucking fuck with protection! http://kleinerdrei.org/2013/07/reine-routine/ […]

  11. spicollidriver sagt:

    der Vollständigkeit halber: bei Menschen, mit denen man häufiger geschlafen hat (und bei denen man ebenfalls weiß, daß sie keinen – oder zumindest keinen ungeschützten – Sexualkontakt mit anderen hatten) ist es auch nachvollziehbar, daß man den Schutz irgendwann weg läßt.

    unter bestimmten Bedingungen ist ein Schutz sogar unnötig. persönliches Beispiel: ich gehe regelmäßig zur Blutspende, genauso wie meine Partnerin. wir sind beide ebenfalls Menschen, die bei irgendwelchen Anzeichen von anderen Krankheiten relativ unverzüglich einen Arzt aufsuchen würden. zuguterletzt lag unser jeweils letzter Sexualkontakt schon etliche Wochen zurück. genau deshalb hatten wir auch kein Problem, daß unser gemeinsames erstes Mal nach wenigen Wochen Bekanntschaft „ohne“ war.

    allerdings war ich leider auch schon in der Situation, daß ich im Eifer des Gefechts mit einer Unbekannten abgestürzt bin. danach Blut und Wasser geschwitzt, weil ich befürchtete, mir vielleicht etwas „gefangen“ zu haben (obwohl es keine Anzeichen dafür gab). seitdem bin ich a. kein großer Freund mehr von so „Abenteuern“ und b. wenn es alle Jubeljahre doch noch dazu gekommen ist, immer mit Schutz.

  12. Lena sagt:

    Liebe Autorin,

    ich freue mich wirklich von ganzem Herzen für Dich, dass sich der erste Verdacht nicht bestätigt hat! Danke, dass Du Deine Erfahrung geteilt hast!

  13. […] ich diesen Artikel vor einigen Wochen hier auf kleinerdrei las, konnte ich die Autorin sehr gut verstehen – denn ich […]