„Sag mal, ist der eigentlich schwul?“

Foto , CC BY-SA 2.0 , by BenFrantzDale

Als Schwuler bekommt man ja allerhand magische Fähigkeiten zugesprochen. Allen voran ist da das so genannte „Gaydar“, eine Art sechster Sinn, der wie ein Grindr-Organ andere Schwule in seiner Umgebung auf den ersten Blick erkennt. Ich kann die Male, die ich von anderen gefragt wurde, ob dieser oder jener Typ denn jetzt eigentlich schwul sei, kaum zählen – „Was denkst du denn von X, der kann doch nur schwul sein, oder?“, oder: „Y hatte noch nie eine Freundin und er schaut dich immer so an, denkst du, dass er schwul sein könnte?“ Diese Fragen waren mir zwar schon immer unangenehm, trotzdem habe ich mich früher zu Einschätzungen hinreißen lassen. Meiner Meinung wurde dann immer besonderes Gewicht zugemessen, denn: Wenn der Schwule das sagt, muss das ja so sein. Die haben ja ein „Gaydar“. Nach einer solchen Kategorisierung hatte die (oft unwissende) Person kaum mehr eine Chance aus dieser Schublade herauszukommen: Alle seine Handlungen wurden in Hinblick auf diese Schablone gelesen. Stellen sie sich im Nachhinein auch noch als „wahr“ heraus, bekommt man zu hören: „Das hab ich mir ja immer schon gedacht. Ich hatte immer schon den Verdacht.“

Wer also schwul sein könnte, macht sich verdächtig. Es ist eine Mischung aus Ungewissheit, der Furcht vor dem Unbestimmten, Uneindeutigen, Nicht-Kategorisierten; gepaart mit der Lust an Klatsch, Tratsch und Gerüchten – dieselbe Mischung, die nicht selten in Mobbing endet. Würden die „Verdächtigen“ sich dazu offen positionieren, schmälerte das die Lust des Redens darüber. Aber wie ich schon sagte: Die Betroffenen kommen so leicht aus der Nummer nicht heraus. Wer „trotz Verdachtes“ sagt, er sei heterosexuell, ist einfach nur noch nicht geoutet, traut sich nicht oder – am besten! – ist sich einfach nur noch nicht bewusst, dass er schwul ist. Wer sagt, er sei bisexuell, ist ja eigentlich doch „ganz schwul“, er traut sich nur noch nicht das zuzugeben oder das ist nur eine Phase und er ist ja eigentlich doch „ganz hetero“. Und wer sagt, er sei schwul, bestätigt dieses ganze Verfahren auch noch.

Dass hier aber durch Definitionsmacht von anderen eine sexuelle Identität geradezu aufgezwängt wird, ist den meisten nicht bewusst. Ja, der „Vorwurf“ der Homosexualität durch andere ist noch immer ein Machtbeweis, der Gewalt ausübt, denn hier wird ein anderer gezwungen sich zu seiner sexuellen Identität zu äußern und sich darüber hinaus ins System einzuordnen. Auch wenn natürlich Homosexualität eigentlich nichts ist oder sein sollte, was man jemand anderem „vorwerfen“ könnte, ist hier häufig auch noch Homophobie am Werk, wenn der „Vorwurf“ diskreditierende Absichten oder Folgen hat. Hier stimmt das Ideal (und man könnte auch sagen: die Theorie) mal wieder nicht mit der sozialen und gesellschaftlichen Realität überein. Um es aber nochmal klar herauszustellen: nicht die Tatsache, dass jemand homosexuell sein könnte, ist problematisch, sondern dass andere Druck auf eine Stellungnahme zur eigenen sexuellen Identität ausüben, anstatt auf deren Selbstbezeichnung Rücksicht zu nehmen.

Wenn ich allerdings auf Partys bin, die nicht explizit als schwul oder queer gelabelt sind, wünsche ich mir trotzdem oft sowas wie ein „Gaydar“. Denn sollte ich an jemandem interessiert sein, möchte ich erst einmal herausfinden, ob er überhaupt an meinem Geschlecht interessiert ist. Schließlich wird die Norm noch immer von Männern ausgemacht, die sich als heterosexuell identifizieren und damit Flirten, Beziehungen, Sex etc. mit ihrem eigenen Geschlecht kategorisch ausschließen. Bevor also der Flirt losgeht, muss die Situation gelesen, interpretiert und analysiert werden, da ja, wie ich bereits schrieb, schon allein der „Verdacht“ problematisch genug sein kann. Würde ich einfach jemanden anflirten, laufe ich Gefahr Aggressionen zu erzeugen, bloßgestellt oder ausgelacht zu werden. Die heterosexuelle Norm zwingt mich dazu die Zeichen zu lesen. Das heißt jedoch nicht, dass Heterosexuelle keine Zeichen lesen müssen, um Situationen zu analysieren, damit ein geplanter Flirt als angemessen oder nicht interpretiert werden kann – und zwar noch bevor er passiert. Das zeigt uns ja die aktuelle #Aufschrei-Debatte. Trotzdem handelt es sich bei diesem Interpretieren seltener um ein Spekulieren der sexuellen Identität, das diesem manchmal noch vorgelagert ist. Um es also kurz zu machen: Bevor ich einen Kerl anspreche, will ich sicher sein, ob er aufgrund meines Geschlechtes überhaupt Interesse haben könnte.

Meiner Meinung nach existiert ein heterosexueller Verhaltenscode, der durch die Norm erzeugt wird (man könnte auch sagen: durch die heterosexuelle Matrix). Dieser Code ist natürlich mal mehr, mal weniger präsent und stark und wird mal mehr oder mal weniger gut angenommen und reproduziert. Es ist mal wieder nur eine Tendenz. Er schreibt zum Beispiel vor, sich von allem, was im Entferntesten als schwules Verhalten wahrgenommen werden könnte, sofort zu distanzieren. Bestes Beispiel: Fragt man nach Männern, die von anderen Männern als attraktiv empfunden werden, hört man oft die Antwort: „Das kann ich doch nicht beurteilen, ich bin doch nicht schwul.“ Wohingegen Frauen und Schwule oft benennen, welche Frauen sie attraktiv finden. Ein anderes Beispiel wäre – ganz klassisch – als „feminin“ wahrgenommenes Verhalten. Folgt man dem Code, produziert er Zeichen (wie ebendieses Verhalten), die von uns gelesen werden und die eine Kategorisierung vornehmen, z. B. homosexueller Mann/heterosexueller Mann. Männer, die dem Code nicht folgen wollen, produzieren auch wiederum Zeichen, die interpretiert werden. Der Mann, der versucht dem Code nicht zu folgen, wird automatisch als homosexuell „gelesen“, weil der Code Homosexualität als das „Andere“ gegenüber Heterosexualität vorsieht. Der Code umfasst also seine eigene Abweichung, denn aus ihm heraus ist ein codefreies Verhalten nicht möglich. Das versuchte Abweichen vom Code macht schließlich „verdächtig“ und um dem in Zukunft zu entgehen (den Vorwürfen, dem Druck, der Homophobie), wird nicht mehr vom Code abgewichen, sondern er wird befolgt und so gefestigt. Und – schwupps! – wurde der Code reproduziert und ich war auch noch Teil davon, wenn ich mich frage, ob der Typ da vorne aus diesen und jenen Gründen schwul sein könnte, obwohl ich doch gegen genau diesen Code Tag für Tag ankämpfe.

Ich versuche also mich nicht mehr danach zu fragen oder herauszufinden, ob ein Mann homo- oder heterosexuell ist, bevor ich ihn anspreche, auch wenn das Unannehmlichkeiten oder sogar Aggressionen bedeuten könnte. Denn nicht die Antwort auf diese Frage ist das Problem, sondern die Frage an sich. Meine Erfahrung hat außerdem gezeigt, dass es auch genug heterosexuelle Männer gibt, die interessiert sein können – und umgekehrt genug homosexuelle, die nicht interessiert sind, weil sie mich schlichtweg doof finden. Ich will damit sagen: Selbst die Antworten auf die Frage sind unzuverlässig. Ich versuche auch nicht mehr auf die Zeichen einzugehen, die mir der Norm-Code als Köder vor die Füße wirft. Ich kenne nämlich auch heterosexuelle Männer und Transmenschen, die darunter leiden, dass sie dauernd für schwul gehalten werden – nicht, weil das an sich ein Problem für sie ist, sondern weil dauernd an ihrer sexuellen Identität gezweifelt wird. Damit stößt man letztendlich diejenigen vor den Kopf, die man schützen will oder von denen man sich mehr wünscht: heterosexuelle Männer, die nicht versuchen dem Code zu folgen. Seine eigenen guten Vorsätze jedoch konsequent zu verfolgen, fällt mir auch oft schwer: Zu gerne lässt man sich wieder in die heterosexuelle Matrix fallen. Es ist eben nicht bequem gegen die Norm anzukämpfen, die letztendlich alle irgendwie unterdrückt, und es bedeutet vor allem eins: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Eines ist mir mittlerweile aber klar: Ich gebe auf die obige Frage nur noch eine Antwort: „Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“

5 Antworten zu “„Sag mal, ist der eigentlich schwul?“”

  1. mauerunkraut sagt:

    Die Sexualität eines Menschen sollte doch erst interessieren, wenn man sexuelles Interesse an jemanden hat. Mal ganz abgesehen davon, dass es Privatsache ist. Ich kenne diese Fragen („Meint ihr, Könnte er/sie? etc.) und das Getuschel ebenso und dabei haben wir noch nicht mal sowas wie eine homosexuelle Instanz – mittlerweile antworte ich auf diese Fragen: „Wieso? Willst du was von ihm/ihr?“
    Allerdings ist es traurig, dass man noch immer nicht offen mit Homosexualität umgehen kann. Aber vielleicht entwickelt sich unsere Gesellschaft ja doch noch weiter und wir müssen ihr nur etwas mehr Zeit und die Möglichkeit zur Aufklärung geben.

  2. Tas sagt:

    Erst wenn irgendwann mal Homosexualität so normal ist, dass es nicht mehr kommentierenswert ist, können wir überhaupt mal gucken, ob vielleicht doch nicht jede/r als Haupt- und wichtigstes Kriterium für potentielle Partner deren Geschlecht hat. Ich behaupte nicht, dass es für niemanden wichtig ist, aber so wie es jetzt scheint für jede/n? Die Geschichten von trans*-Partnern sind in der Hinsicht immer interessant, jemand wechselt die hochheilige sexuelle Orientierung einfach dadurch, weiterhin mit der selben Person zusammen zu sein.

  3. SL sagt:

    Aber Codes im Sinne von Einander Signale Geben sind doch notwendig, oder? Fremdbezeichnungen sind kacke, aber sind die Codes daran schuld? Es wäre schön, wenn Codes nicht ständig so platt „Hetero“ oder „Homo“ schreien oder so interpretiert würden. Sondern lieber „Hey, wir könnten ja zueinander passen…“

  4. Chirim sagt:

    Ich frage mich auch stets, warum die Heterosexuellen einfach ihr „Hetero-dar“ nicht in den Gang setzen könnten. Schließlich kann ich ja selber nicht wissen, bevor ich die Betroffenen frage und mehr Wissen über die Codes der Homosexuellen habe ich nicht zur Verfügung als die Heterosexuellen, wenn nicht sogar weniger, denn ich kenne viele Homosexuellen, die dem „Bild“ nicht entsprechen, einschließlich mich selbst.

  5. Miria sagt:

    Igendwie hast du recht. Aber irgendwie ergibt sich daraus auch ein Dilemma, denn wenn ich jemanden anziehend finde, versuche ich schon irgednwie zuvor rauszubekommen, ob er oder sie (ich bin weiblich und bisexuell) überhaupt auf eine Frau steht. Ja verdammt, ich habe genauso die Befürchtung einen schwulen Mann anzuflirten wie eine heterosexuelle Frau.

    Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Problem darin liegt, dass ich zuvor wissen möchte, ob ich aufgrund meines Geschlechts evtl. keine Chancen bei der Person habe, sondern vielleihct darin, dass die meisten Menschen davon ausgehen, eine heterosexuelle Konstellation hätte immer Chancen!